23. Kapitel - 02
Ich kam in Genf an. Mein Vater und Ernst waren noch am Leben; aber der erstere brach unter dem Eindruck dessen zusammen, was ich ihm zu berichten hatte. Ich sehe ihn noch vor mir, den schönen, ehrwürdigen Greis, wie seine Augen ins Leere starrten, denn er hatte seinen Stolz, sein Glück, seine Elisabeth verloren, die ihm mehr war als eine Tochter, an der er mit seiner ganzen Liebe hing. Tausendmal verflucht sei der Dämon, der so viel Leid auf das graue Haupt meines Vaters häufte und ihm alles Glück nahm. Er mußte sich niederlegen, und das Erlebte drückte ihn so schwer, daß er sich nimmer erhob. Einige Tage später starb er in meinen Armen.
Was dann mit mir geschah? Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte die Besinnung verloren, und wenn ich hier und da wieder etwas empfand, so waren es Dunkelheit und Ketten. Oftmals träumte mir, ich wandere auf grünen Wiesen mit den Gespielen meiner Kindheit; aber wenn ich erwachte, merkte ich, daß ich in einem Gefängnis war. Es trat zunächst ein Zustand tiefster Melancholie ein und dann ward ich mir nach und nach meiner ganzen Situation bewußt. Man hatte mich für wahnsinnig erklärt und mich mehrere Monate, wie ich nachher erfuhr, in einer engen Zelle gefangen gehalten. Nun aber fielen meine Ketten.
Die Freiheit hätte für mich freilich nicht viel Wert gehabt, wäre nicht zugleich mit meinem Bewußtsein der glühende Wunsch nach Rache erwacht. Niemand anderes war schuld an all dem Leid und Unglück, das über mich hereingebrochen war, als der Dämon, den ich selbst geschaffen, den ich mutwillig auf die Welt gehetzt hatte. Rasender Zorn packte mich bei dem Gedanken an ihn und ich wünschte, ja ich betete darum, daß es mir vergönnt sein möge, an dem verruchten Ungeheuer eine furchtbare, unerhörte Rache zu nehmen.
Aber nicht lange gab ich mich nur mit fruchtlosen Wünschen ab. Ich begann sofort auf Mittel und Wege zu sinnen, wie ich den Erfolg auf meine Seite zu bringen vermöchte. Kaum ein Monat, nach dem ich wieder genesen war, stand auch mein Entschluß fertig da. Ich begab mich zu einem der Richter der Stadt und erhob Anklage gegen den Mörder meiner Familie; ich gab an, ihn zu kennen und forderte, daß mit aller Strenge gegen den Täter vorgegangen werde.
Aufmerksam und freundlich hörte mir der Richter zu. »Seien Sie überzeugt, Herr Frankenstein,« sagte er, »daß ich keine Mühe und Arbeit scheuen werde, um des Schurken habhaft zu werden.«
»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verbunden,« entgegnete ich, »und bitte Sie, gleich jetzt meine Aussagen machen zu dürfen. Es ist allerdings eine so merkwürdige Geschichte, daß Sie nicht daran glauben würden, wenn nicht einige fest bestimmbare Daten vorlägen. Für einen Traum ist zu viel Zusammenhang darin, und außerdem habe ich ja gar keinen Grund, Unwahres vorzubringen.« Ich sprach eindringlich, aber vollkommen ruhig. Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Peiniger zu Tode zu hetzen. Diese Absicht gab mir Ruhe und machte mir das Leben noch lebenswert. Ich erzählte ihm also meine ganze Geschichte, kurz aber bestimmt und klar, indem ich auch die Daten zweifellos angab und es vermied, in Klagen auszubrechen oder von dem einfachen Gang der Erzählung abzuweichen.
Anfangs schien der Richter meinen Aussagen wenig Glauben beizumessen, im weiteren Verlaufe aber wurde er aufmerksam. Ich konnte sogar bemerken, wie ihn manchmal das Grauen packte; zuweilen drückte sein Gesicht Erstaunen und Überraschung aus.
Als ich geendet hatte, fügte ich hinzu: »Dies also ist das Wesen, das ich des Mordes anklage und zu dessen Ergreifung ich Sie bitte Ihren ganzen Einfluß aufzuwenden. Es ist Ihre Pflicht als Richter, und ich hoffe und glaube, daß Sie als Mensch meinen Wunsch begreifen und nicht vor der Aufgabe zurückschrecken.«
Diese Aufforderung rief eine gewaltige Änderung im Verhalten des Beamten hervor. Er hatte mir zugehört mit dem halb gutmütigen Glauben, den man solchen Geschichten von Gespenstern und übernatürlichen Vorgängen zu schenken pflegt. Als er aber sich in dieser Weise aufgefordert sah offiziell einzuschreiten, wurde es wesentlich anders. »Ich möchte ja,« sagte er milde, »Ihnen gern in jeder Hinsicht behülflich sein, aber das Wesen, von dem Sie sprachen, scheint mit Kräften und Eigenschaften ausgestattet zu sein, die alle meine Bemühungen vereiteln würden. Wer könnte diese Bestie fangen, die mühelos Gletscher überquert und sich in Höhlen und Schluchten versteckt, die kein Mensch zu betreten wagen darf? Außerdem sind ja Monate verflossen, seit sich das alles ereignet hat, und wer könnte sagen, wohin er sich gewendet hat, wo er sich jetzt aufhält?«
»Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß er sich in allernächster Nähe aufhält; und wenn er tatsächlich sich in den Gebirgsschluchten verbirgt, so muß man ihn eben verfolgen wie eine Gemse und ihn zur Strecke bringen. Aber ich errate Ihre Gedanken; Sie schenken mir nicht vollen Glauben und haben nicht die Absicht, meinen Feind der Strafe zuzuführen, die er verdient hat.«
Während ich so sprach, mochte es in meinen Augen zornig geblitzt haben, denn der Richter sagte eingeschüchtert: »Sie irren sich. Ich werde bestrebt sein, so weit es in meiner Macht steht, das Ungeheuer zu fangen und es nach seinen Verbrechen zu bestrafen. Aber nach allem, was Sie mir berichtet haben, glaube ich nicht, daß es sich wird ermöglichen lassen, und Sie werden enttäuscht sein.«
»Das ist undenkbar; aber mein brennender Rachedurst läßt Sie ja kalt. Jetzt kann ich es Ihnen ja eingestehen: es ist mein einziger, leidenschaftlicher Wunsch, meinen Feind zu vernichten. In mir empört sich alles, wenn ich daran denke, daß der Mörder, den ich schuf, noch unter uns Menschen weilt. Sie verweigern mir also die Erfüllung meiner Bitte? Gut, ich werde mir dann auch allein zu helfen wissen und mich mit Leib und Seele meiner Aufgabe widmen.«
Ich zitterte vor Erregung. Leidenschaftlich wallte mein Blut und in meinem Verhalten mag etwas von der fanatischen Wildheit gelegen haben, das vor Zeiten den Märtyrern innegewohnt haben soll. Aber für einen Genfer Richter, dessen Seele ja so unendlich weit von dem entfernt ist, was mit Heroismus zusammenhängt, hatte mein Verhalten nichts anderes bedeutet als die Wutausbrüche eines Irren. Er gab sich Mühe, mich zu beruhigen und sprach sanft auf mich ein, wie eine Wärterin auf ein Kind.
»Mensch,« schrie ich, »Ihr seid töricht in eurer eingebildeten Weisheit.«
»Schweigen Sie, Sie wissen ja nicht, was Sie reden!« antwortete er.
Wütend stürmte ich aus dem Hause und zog mich in die Einsamkeit zurück, um über mein weiteres Vorgehen nachzudenken.