Kapitel 2. Kaspar unter Menschen
In den nächsten Tagen und Wochen versucht man ohne Erfolg das dunkle, schreckliche Rätsel um Kaspar Hauser zu lösen. Er ist nicht blöd- oder wahnsinnig. Er ist so sanft, folgsam und gutartig, dass keiner ihn für einen Wilden halten kann oder für einen Knaben, der unter den Tieren des Waldes aufgewachsen ist.
Er kennt keine Worte und Begriffe, keine alltäglichen Gegenstände und Erscheinungen der Natur. Er zeigt Abscheu gegenüber allen Gewohnheiten, Bequemlichkeiten und Bedürfnissen des Lebens und hat starke Besonderheiten in seinem ganzen Wesen. Man könnte ihn für einen Bürger halten, der von einem anderen Planeten kommt und erst im reifen Alter durch ein Wunder auf die Erde herab gekommen ist.
Allein der Geruch unserer Speisen erregt in ihm einen Schauder. Ein Tropfen Wein oder Kaffee, ohne sein Wissen unter sein Wasser gemischt, verursachen in ihm Angstschweiß, Erbrechen und starke Kopfschmerzen. Auch Milch mag er nicht. Man versteckt einmal Fleisch in seinem Brot. Er riecht es sofort und zeigt darüber starke Abscheu.
Die Nacht fängt für ihn mit Sonnenuntergang an und endet mit Sonnenaufgang. Er liegt dann auf seinem Strohsack. Bei Tag sitzt er mit ausgestreckten Füßen auf dem Boden.
Als er in den ersten Tagen zum ersten Mal eine brennende Kerze vor sich sieht, zeigt er große Freude. Er greift hinein und verbrennt sich Hand und Finger, die er zu spät unter Schreien und Weinen zurückzieht.
Sie wollen ihn prüfen und hauen mit Säbeln nach ihm. Er bewegt sich nicht, weil er die Gefahr nicht erkennt.
Als man ihm einen Spiegel gibt, greift er nach seinem Spiegelbild und sucht den Menschen hinter dem Spiegel.
Menschen nennt er „Bua“ und zu Tieren sagt er „Ross“. Bei weißen Tieren zeigt er Wohlgefallen, bei schwarzen Tieren zeigt er Furcht.
Am Anfang scheinen Kaspers Seele und Sinne wie erstarrt. Dann nimmt er immer mehr von der Welt wahr. Erst nach einigen Tagen hört er die Turmuhr und die Glocken und ist sehr erstaunt. Einige Wochen später hört er die Musik einer Bauernhochzeit, die ihm sehr gut gefällt. Als man ihn neben eine laute Trommel stellt, ist er sehr erschüttert. Er bekommt Zuckungen und muss weggebracht werden.
Kaspar wird täglich auf die Polizeistation geführt, wo er einen großen Teil des Tages verbringt. Dort untersucht man ihn. Bald haben ihn alle lieb.
Weil Kaspar oft „Ross! Ross!“ ruft, schenkt ein Polizeisoldat ihm ein weißes, hölzernes Spielpferd. Als Kaspar das Pferd sieht, ist er sehr froh.
Er begrüßt es wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hat und auf den er gewartet hat. Er weint mit lächelndem Gesicht und setzt sich sofort auf den Boden zu dem Pferd. Er streichelt es und schaut es die ganze Zeit an. Dann behängt er es mit bunten und goldenen Gegenständen, wie zum Beispiel Papierstücken, Bändern oder Münzen. Als er die Polizeistation verlassen soll, versucht er, das Ross mitzunehmen. Aber es ist zu schwer für ihn und er muss weinen. Jedes Mal, wenn er auf die Polizeistation kommt, setzt er sich zu seinem lieben Ross auf den Boden. Ein Polizeisoldat sagt später: „Stundenlang hat Kaspar mit seinem Ross gespielt. Er hat kein bisschen auf das geschaut, was um ihn herum passiert ist.“
Er bekommt weitere Rösser für seine Wohnung im Turm. Sie sind immer bei ihm. Auch hier sitzt Kaspar auf dem Boden und dekoriert sie mit verschiedenen Gegenständen, die er oft wechselt.
Er versucht auch, ihnen Brot zu fressen zu geben. Der Gefangenenwächter will ihm verständlich machen, dass diese Pferde nicht fressen können. Kaspar ist sicher, dass sie es können und zeigt auf die Brotkrumen an ihrer Schnauze. Sie sind dort hängen geblieben.
Einmal schläft er auf einem Pferd ein. Als er herunterfällt, verletzt er sich am Finger. Er meint, dass das Pferd ihn gebissen hat.
Tiere und Menschen unterscheidet er nur an ihrem Aussehen. Männer und Frauen unterscheidet er an der Kleidung. Die Kleidung der Frauen gefällt ihm besser, weil sie viele auffällige Farben hat. Weil er gerne Frauenkleider tragen möchte, äußert er auch später noch oft den Wunsch, ein Mädchen zu werden.
Er kann nicht verstehen, dass aus kleinen Kindern große Leute werden. Man erklärt ihm, dass er auch einmal ein Kind gewesen ist und dass er wahrscheinlich noch viel größer wird, als er schon ist. Erst als er einige Monate später die Markierungen seiner Größe an der Wand sieht, versteht er, dass er größer geworden ist.
Von Religion oder einer Dogmatik sind in seiner Seele nichts zu finden. Einige Geistliche kommen schon in den ersten Wochen nach seinem Erscheinen in Nürnberg zu ihm. Kaspar aber versteht von ihren Fragen, Reden und Predigten so viel wie ein Tier.
Als er auf dem Turm wohnt, beobachtet der Gefangenenwächter Hiltel ihn für mehrere Wochen. Dieser erzählt Folgendes über Kasper Hauser: „Er verhält sich wie ein kleines Kind und zeigt dabei die größte Natürlichkeit und Unschuld.
Anfangs hat er alles um sich herum vergessen, wenn er sich mit seinen Spielsachen beschäftigt hat. Die große Freude am Spiel war aber nur von kurzer Dauer. Als man ihm nützlichere Gegenstände gezeigt hat, hatte er an diesen mehr Interesse.
Er hatte nichts Falsches an sich. Auch als ich und meine Frau ihm zum ersten Mal die Kleidung ausgezogen haben und ihn gewaschen haben, war sein Verhalten so natürlich wie das eines Kindes.
Ich habe manchmal meinen elfjährigen Sohn Julius und meine dreijährige Tochter Margareta zu ihm gelassen. Julius hat ihn das Sprechen gelehrt, ihm Buchstaben gezeigt und versucht, ihm Begriffe zu erklären. Mit Margareta hat er anfangs sehr gern gespielt. Sie hat ihm gezeigt, wie man Glasperlen an eine Schnur reiht.“
Schon nach den ersten Tagen wird Kaspar nicht mehr als Gefangener, sondern als Kind behandelt, das Pflege und Erziehung braucht. Der Gefangenenwächter nimmt ihn mit an seinen Familientisch. Dort isst er nichts, aber er sitzt mit Hiltel und seiner Familie zusammen. Er lernt, wie man seine Hände auf menschliche Art gebraucht. Er lernt auch andere Sitten kennen und ahmt sie nach.
Er spielt gerne mit den Kindern des Wächters. Auch sie beschäftigen sich gerne mit dem gutmütigen und unwissenden Jüngling. Julius hat ihn besonders lieb und er freut sich, dass er einen so großen Burschen das Sprechen lehren kann.
Bald kommt eine Menge neugieriger Menschen zu Kaspar. Nur wenige wollen ihn nur anschauen. Manche lachen über ihn oder machen wissenschaftliche Experimente mit ihm.
Es gibt aber auch viele, die versuchen, mit ihm zu sprechen und ihn zum Sprechen zu bringen. Sie sagen ihm Worte und Redensarten vor, die er nachsprechen soll. Sie versuchen ihm durch Zeichen und Pantomime, Unbekanntes bekannt und Unverständliches verständlich zu machen.
Durch jede Sache, durch jedes Spielzeug lernt er neue Begriffe und Worte. Besonders der Kontakt mit den Menschen bringt Kaspar Hauser zum Denken und Reflektieren. Er will sich auch mitteilen können und lernt deshalb in dieser Zeit immer mehr dazu.
Zwei Wochen nach Kaspars Ankunft in Nürnberg kümmert sich Professor Daumer, ein junger Gelehrter, um seine geistige Entwicklung und Bildung.
In kurzer Zeit lernt Kasper so gut sprechen, dass er auf einfache Art seine Gedanken ausdrücken kann.
Natürlich ist seine Sprache für lange Zeit lückenhaft, arm und kindisch. Man kann nur selten mit Sicherheit wissen, was er sagen will. Der Zuhörer muss vieles erraten und durch Vermutungen ergänzen.
Der Bürgermeister Herr Binder hat als Chef der städtischen Polizei ein besonderes Interesse an Kaspar. Er lässt den Jungen fast täglich in seine Wohnung zu seiner Familie bringen. Er spricht mit Kaspar und lässt ihn sprechen. Durch viele Fragen versucht er, Auskunft über sein Leben und Erscheinen zu bekommen. Am Ende schreibt er eine Geschichte über Kaspers Leben, die am 7. Juli öffentlich gemacht wird.
Man weiß nicht, wie viel wirklich aus Kaspars Erinnerung kommt. Die Geschichte stimmt aber im Großen und Ganzen mit dem überein, was Hauser später selbst schreibt und dem Autor dieses Buches in verschiedenen Situationen erzählt.