Der Tempel - 03
Am 9. August erspähten wir den Meeresboden und sandten den mächtigen Strahl des Suchscheinwerfers darüber. Es war eine weite, wellige ebene, größtenteils bedeckt mit Seegras und übersät mit den Schalen kleiner Weichtiere. Hier und dort befanden sich schleimige Objekte von merkwürdiger Form, in Seegras gehüllt und von Seepocken verkrustet, von denen Klenze verkündete, sie seien uralte Schiffe, in ihren Gräbern liegend. Er selbst war besorgt durch eines: Eine Spitze aus solidem Material, die sich etwa vier Fuß über den Meeresgrund erhob, etwa 2 Fuß Durchmesser hatte und deren flache Seiten und glatte Oberfläche sich im stumpfen Winkel trafen. Ich hielt den Gipfel für ein Stück zu Tage tretenden Fels, doch Klenze meinte, darauf Gravuren zu erkennen. Nach einer Weile begann er zu schaudern und wandte sich beängstigt von der Kulisse ab, konnte jedoch nur erklären, dass ihn plötzlich die ungeheure Weite, Dunkelheit, Abgelegenheit und Rätselhaftigkeit jener Meeresabgründe überkommen habe. Sein Verstand war müde, doch ich, stets Deutsch, bemerkte zwei Dinge: Die U29 widerstand dem Druck der Tiefsee glänzend und die eigentümlichen Delfine umstreiften uns immer noch in dieser Tiefe, in der die Existenz höherer Lebensformen von den meisten Naturforschern für unmöglich gehalten wird. Ich war mir sicher, im Vorfeld unsere Tiefe überschätzt zu haben, jedoch mussten wir immer noch tief genug sein um diese beiden Phänomene bemerkenswert erscheinen zu lassen. Unsere Geschwindigkeit südwärts, gemessen anhand des Meeresbodens, entsprach etwa dem, was ich anhand von Organismen, an denen wir auf niedrigerer Tiefe vorbeigetrieben waren, überschlagen hatte.
Es war um 15:15 am 12. August, dass Klenze endgültig verrückt wurde. Er war im Kommandoturm am Suchscheinwerfer zugange gewesen, als ich ihn unterwegs in die Bibliothekskammer wahrnahm, in der ich lesend saß und sein Gesicht verriet ihn sofort. Ich wiederhole nun genau das, was er sagte und unterstreiche die Worte, die er betonte: „Er ruft! Er ruft! Ich höre ihn! Wir müssen los!“ Während er dies sprach, nahm er den Elfenbeingötzen vom Tisch, steckte ihn sich in die Tasche und ergriff meinen Arm, bestrebt mich den Niedergang auf das Deck zu zerren. Sofort begriff ich, dass er vor hatte, die Luke zu öffnen und mich nach draußen ins Wasser zu stürzen, eine Laune mörderischer wie selbstmörderischer Manie, auf die ich schwerlich vorbereitet war. Als ich zögerte und versuchte, ihn zu beruhigen, wurde er noch ungestümer. „Komm --- warte nicht weiter; es ist besser zu bereuen und Vergebung zu erfahren als sich zu widersetzen und verdammt zu werden!“ Dann versuchte ich das Gegenteil meines Beruhigungsversuches und sagte ihm, er sei verrückt --- bedauernswert wahnsinnig. Doch er war unberührt und rief: „Bin ich verrückt, so ist dies Gnade! Mögen die Götter sich dem Mann erbarmen, der in Gefühllosigkeit bei Verstand bleiben kann bis zu seinem abscheulichen Ende! Komm und sei verrückt, solange er noch gnadenvoll ruft!“
Dieser Ausbruch schien einen auf seinem Hirn lastenden Druck abzubauen, denn nachdem er ihn beendet hatte, wurde er sanfter und bat mich, ihn allein gehen zu lassen, wenn ich ihn schon nicht begleiten wolle. Mein Ziel wurde sofort klar. Er war zwar Deutscher, doch nur ein Rheinländer und ein Bürgerlicher, zudem nun ein potentiell gefährlicher Wahnsinniger. Indem ich seinem selbstmörderischen Wunsch nachgab konnte ich mich sofort von ihm befreien, der nun nicht länger ein Gefährte sondern eine Bedrohung war. Ich bat ihn um den Elfenbeingötzen, bevor er ging doch dieses Ersuchen brachte mir nur solch unheimliches Gelächter von ihm ein, dass ich es nicht wiederholte. Dann fragte ich ihn, ob er ein Andenken oder eine Haarlocke für seine Familie hinterlassen möge, für den Fall, dass ich gerettet werden sollte, doch auch hierauf erwiderte er das gleiche, befremdliche Lachen. Während er nun die Leiter hochstieg, ging ich zu den Hebeln und bediente nach angemessener Zeit die Maschinerie, die ihn in den Tod sendete. Nachdem ich gewiss war, dass er sich nicht länger an Bord befand, leuchtete ich mit dem Suchscheinwerfer im Wasser herum im Bemühen, einen letzten Blick auf ihn zu werfen, da ich mich vergewissern wollte ob der Wasserdruck ihn zerdrücken würde, wie er es theoretisch sollte, oder ob sein Körper unversehrt blieb, wie jene außergewöhnlichen Delfine. Ich hatte jedoch keinen Erfolg dabei, meinen verstorbenen Gefährten zu entdecken, denn die Delfine häuften sich dicht und verdunkelnd um den Kommandoturm.
An jenem Abend bereute ich, dass ich das Elfenbeinbildnis nicht heimlich aus des armen Klenzes Tasche entwendet hatte als er ging, denn die Erinnerung daran faszinierte mich. Ich konnte diesen jugendlichen, schönen Kopf mit seiner Blätterkrone nicht vergessen, obwohl ich von meiner Natur kein Künstler bin. Ich bedauerte ebenfalls, dass ich keinen Gesprächspartner mehr hatte. Klenze, obwohl geistig nicht auf meiner Höhe, war besser als niemand. Ich schlief nicht gut in dieser Nacht und fragte mich, wann genau mein Ende kommen würde. Meine Chance auf Rettung war sicherlich klein.
Am nächsten Tag stieg ich in den Kommandoturm und begann die übliche Erkundung mit dem Suchscheinwerfer. Im Norden bot sich das gleiche Bild wie in den letzten vier Tagen, seit wir den Meeresgrund erblickt hatten, doch ich bemerkte, dass sich der Abdrift der U29 verlangsamt hatte. Als ich den Strahl nach Süden richtete, bemerkte ich, dass der Meeresboden voraus mit einem deutlichen Gefälle abfiel und an einigen Stellen merkwürdig ebenmäßige Steine bar, angeordnet gemäß eines eindeutigen Musters. Das Boot sank nicht sofort auf die neue Meerestiefe herab, so dass ich bald gezwungen war, den Strahl des Scheinwerfers scharf nach unten zu richten. Durch die plötzliche Richtungsänderung wurde ein Draht losgerissen, was einige Minuten Verzögerung durch Reparaturen beanspruchte, doch schließlich schien das Licht wieder und erhellte die Meeressenke vor mir.
Ich neige nicht zu Gefühlsregungen, doch mein Erstaunen war groß als ich sah, was der elektrische Lichtschein offenbarte. Und doch hätte ich, als jemand, der in höchster Preussischer Kultur aufgezogen worden war nicht verwundert sein sollen, denn Geologie und Tradition erzählen von großen Umkehrungen zwischen Meeres- und Kontinentalflächen. Was ich sah, war eine sorgfältig konstruierte Anordnung von verfallenen Bauwerken, alle von prunkvoller, doch nicht klassifizierbarer Architektur und in verschiedenem Erhaltungszustand. Die meisten schienen aus Marmor zu sein, der im Strahl des Suchscheinwerfers weiß aufleuchtete und der allgemeine Eindruck war der einer großen Stadt am Grund eines engen Tals mit zahlreichen abgeschiedenen Tempeln und Villen auf den steilen Hängen darüber. Die Dächer waren eingefallen und Säulen waren zerbrochen, doch verblieb hier noch immer ein Hauch von uralter Pracht, den nichts auszulöschen vermochte.