Vierzehntes Kapitel - Der Hund der Baskervilles - 01
Einer von Sherlock Holmes' Fehlern war – wenn man dies überhaupt einen Fehler nennen kann – daß er eine große Abneigung dagegen hatte, von seinen Plänen etwas mitzuteilen, bevor der Augenblick zur Ausführung da war. Zum Teil beruhte dies unzweifelhaft auf der Überlegenheit seiner Natur: er liebte es, sich als Herrn und Meister zu zeigen und seine Umgebung zu überraschen. Zum anderen aber lag es an seiner beruflichen Vorsicht; er wollte nichts dem Zufall überlassen. Das Ergebnis war jedenfalls eine harte Geduldsprobe für seine Helfer und Mitarbeiter. Ich hatte schon oft darunter gelitten, aber niemals so sehr wie während unserer langen Fahrt in der Dunkelheit. Der große Schlag stand unmittelbar bevor, endlich sollte die Entscheidung fallen – und doch hatte Holmes noch kein Wort gesagt, und ich konnte mich nur in Vermutungen über seine Pläne ergehen. Meine Nerven waren fast bis zur Unerträglichkeit angespannt, als ich rechts und links von unserem schmalen Landweg düstere weite Flächen bemerkte und an dem mir ins Gesicht schlagenden kalten Wind erkannte, daß wir wieder auf dem Moor angelangt waren. Jeder Schritt der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Ende unseres Abenteuers näher.
Da der Kutscher auf dem Bock unseres Mietwagens jedes Wort hören konnte, so mußten wir uns in unserem Gespräch großen Zwang antun und durften uns nur über gleichgültige Gegenstände unterhalten; das fiel uns in unserer begreiflichen Aufregung nicht leicht. Ich atmete daher erleichtert auf, als wir bei Franklands Haus vorbeikamen; endlich näherten wir uns Baskerville Hall und damit dem Schauplatz der Handlung. Wir fuhren nicht beim Haupteingang vor, sondern ließen den Wagen in der Allee halten und stiegen aus. Der Kutscher wurde entlohnt, und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House.
»Sind Sie bewaffnet, Lestrade?«
Der kleine Detektiv lächelte:
»So lange ich meine Hosen anhabe, habe ich eine Hüfttasche, und so lange ich meine Hüfttasche habe, ist auch was drin.«
»Gut. Mein Freund und ich sind ebenfalls auf alle Notfälle vorbereitet.«
»Sie sind sehr verschlossen, Herr Holmes. Mit was für einem Spiel haben wir es eigentlich zu tun?«
»Mit einem Geduldsspiel.«
»Wahrhaftig, das scheint hier keine sehr angenehme Gegend zu sein.« bemerkte der Detektiv, indem er fröstelnd seinen Überrock dichter zuzog und dabei einen Blick auf die düstere Hügelkette warf und auf den riesigen Nebelsee, der über dem Grimpener Moor lag. »Gerade vor uns sehe ich die Lichter eines Hauses.«
»Das ist Merripit House, das Ziel unserer Wanderung. Ich muß Sie jetzt ersuchen, auf den Zehenspitzen zu gehen und im Flüsterton zu sprechen, wenn Sie etwas zu sagen haben.«
Vorsichtig gingen wir den Fußweg entlang auf das Haus zu, aber als wir noch ungefähr zweihundert Schritte davon entfernt waren, ließ Holmes uns Halt machen und sagte:
»Weiter brauchen wir nicht zu gehen. Die Felsen hier zur Rechten geben ein ausgezeichnetes Versteck ab.«
»Müssen wir hier warten?«
»Ja, hier wollen wir uns in den Hinterhalt legen. Gehen Sie in diese Höhlung hinein, Lestrade. Du warst drinnen im Haus, nicht wahr, Watson? Kannst du die Lage der verschiedenen Zimmer angeben? Was sind das für Gitterfenster an unserem Ende hier?«
»Ich glaube, es sind die Küchenfenster.«
»Und das Fenster weiter weg, aus dem der helle Lichtschein herausfällt?«
»Das gehört ganz bestimmt zum Speisezimmer.«
»Die Vorhänge sind zurückgezogen. Du weißt am besten hier Bescheid. Krieche sachte heran und sieh mal zu, was drinnen vorgeht – aber laß sie um Gottes willen nicht merken, daß sie beobachtet werden.«
Ich schlich den Fußpfad entlang und duckte mich dann hinter die niedrige Mauer, die den verwahrlosten Obstgarten umgab. An dieser hinkriechend, kam ich zu einer Stelle, wo ich ungehindert in das gardinenlose Fenster hineinsehen konnte.
In dem Zimmer befanden sich nur zwei Männer, Sir Henry und Stapleton. Sie saßen an dem runden Tisch einander gegenüber und wandten mir ihr Profil zu. Beide rauchten; vor ihnen auf dem Tisch standen Kaffeetassen und Weingläser. Stapleton sprach lebhaft, aber der Baronet sah bleich und zerstreut aus. Vielleicht bedrückte ihn der Gedanke an den bevorstehenden Gang über das einsame, übelbeleumdete Moor.
Nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, stand Stapleton auf und verließ das Zimmer; Sir Henry schenkte sich sein Glas voll, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies den Zigarrendampf in dicken Wolken von sich. Ich hörte eine Tür knarren; dann knirschten Schritte auf dem Kies an der anderen Seite der Mauer, hinter der ich mich zusammengekauert hatte. Als sie vorüber waren, blickte ich vorsichtig über die Mauer hinweg und sah den Naturforscher vor der Tür eines Nebengebäudes stehen, das sich in der Ecke des Obstgartens befand. Er öffnete die Tür mit einem Schlüssel, und als er eingetreten war, hörte ich ein eigentümlich raschelndes Geräusch in dem Gebäude. Er verweilte höchstens ein paar Minuten, dann hörte ich den Schlüssel sich abermals im Schloß drehen, die knirschenden Schritte kamen wieder bei mir vorüber, und Stapleton betrat sein Haus. Ich sah noch, wie er im Zimmer erschien, wo Sir Henry auf ihn wartete, dann kroch ich vorsichtig zum Versteck meiner Freunde zurück und berichtete, was ich gesehen hatte.
»Watson, du sagst also, die Dame saß nicht bei ihnen?« fragte Holmes, als ich mit meiner Erzählung fertig war.
»Nein.«
»Wo kann sie denn nur sein. Es ist ja in keinem anderen Raum Licht als nur im Speisezimmer und in der Küche.«
»Ich habe keine Ahnung.«
Über dem großen Grimpener Sumpf hing, wie ich vorhin bereits erwähnte, ein dichter, weißer Nebel. Er wälzte sich langsam auf uns zu und stand jetzt in einiger Entfernung wie eine niedrige, scharf abgeschnittene Wand vor uns. Der Mond beschien sie, und sie glich einer weiten schimmernden Eisfläche; die Felsspitzen, die daraus hervorragten, sahen aus wie riesige Granitblöcke, die von diesem Eis getragen wurden. Holmes beobachtete unverwandt diese Nebelfläche, und ich hörte ihn unwillig brummen, als sie sich allmählich sich immer näher an uns heranschob.
»Es kommt auf uns zu, Watson!«
»Ist das von irgendwelcher Bedeutung?«
»Von sehr großer Bedeutung sogar. Es ist die einzige Möglichkeit, die auf meine Pläne irgendwelchen Einfluß haben könnte. Er kann jetzt nicht lange mehr bleiben, denn es ist bereits zehn Uhr. Unser Erfolg und vielleicht sogar sein Leben hängt möglicherweise davon ab, daß er das Haus verläßt, ehe der Nebel den Weg bedeckt.«
Der Nachthimmel stand in klarer Schönheit über uns; die Sterne funkelten in der Kälte mit hellem Schein, und der Halbmond übergoß die Landschaft mit einem sanften ungewissen Licht. Vor uns lag die dunkle Masse des Hauses, das Giebeldach und die hohen Kamine scharf vom silberbesäten Nachthimmel sich abhebend. Breite Lichtstreifen ergossen sich golden aus den Fenstern des Erdgeschosses über den Garten und das Moor. Mit einem Male verschwand einer von diesen Streifen – die Dienstboten hatten die Küche verlassen. Nur noch das Speisezimmer blieb hell; dort saßen die beiden Männer, der mörderische Gastgeber und der ahnungslose Gast, und plauderten bei Wein und Zigarren.