In der Dunkelheit von Edith Nesbit - 03
Ich sah, was er meinte. Und war seinetwegen betrübt. Ich wollte auch nicht glauben, dass er Visger getötet hatte. Er war nicht diese Art von Mann, der wahllos Menschen tötet. Also antwortete ich: »Ja, alter Junge, ich verstehe. Okay, wir machen folgendes: Gehen wir zusammen fort, du und ich! – wir reisen ein wenig und sehen die Welt, und vergessen alles, was diesen widerlichen Kerl betrifft.«
Seine Augen leuchtete bei diesen Worten.
»Oh Mann«, sagte er, »du verstehst es wirklich. Du hasst mich nicht, schreckst nicht vor mir zurück. Ich wünschte, ich hätte es dir vorher gebeichtet – Du weißt schon, Damals – als du mich besuchtest und ich alle meine Sachen packte. Aber jetzt ist es zu spät.«
»Zu spät? kein Stück«, fuhr ich auf. »Komm, wir packen unser Zeug zusammen und starten schon heute Abend ins Unbekannte, nach wer weiß wohin.«
»Das ist es, wohin ich gehe«, sagte er. »aber warte, bis du gehört hast, was danach mit mir geschah … dann wirst Du nicht mehr so erpicht darauf sein, mit mir auf Reisen zu gehen.«
»Aber du hast mir schon erzählt, was dir passiert ist«, warf ich ein. Und je mehr ich über das, was er mir erzählt hatte, nachdachte, je weniger glaubte ich es.
»Nein«, sagte er langsam, »nein, ich habe erzählt, was mit ihm passierte. Was mit mir geschieht, ist jedoch etwas ganz anders. Habe ich erwähnt, was seine letzten Worte waren? Gerade als ich auf ihn zusprang. Du weißt schon. Bevor ich ihm die Kehle zudrückte.
Er sagte: ›Pass auf. Gib acht. Du wirst nie in der Lage sein, den Körper loszuwerden – abgesehen davon: Zorn ist eine Sünde.‹ Du kanntest seine Art, wie ein Darmausgang auf Hinterbeinen. Direkt danach begann ich, darüber nachzudenken. Aber dann für ein ganzes Jahr nicht mehr. Weil ich ja seine Leiche trotzdem beseitigt bekam, und alles in Ordnung schien. Da saß ich also in diesem bequemen Sessel, und ich dachte: ›Hallo, das alles muss jetzt etwa ein Jahr her sein, oder so …‹ und ich holte mein kleines Taschenbuch mit dem Terminkalender, das ich immer bei mir trage, und ging damit zum Fenster, um nachzuschauen – der Abend dämmerte schon. Ich hatte recht. Es war genau ein Jahr, auf den Tag. Und dann erinnerte ich mich auch daran, was er gesagt hatte. Darauf meinte ich zu mir selbst: ›hat nicht sooo viel Mühe gemacht, deinen Körper verschwinden zu lassen, du Tier.‹ Und dann musterte ich den Kaminläufer und – Ah!«, schrie er plötzlich und sehr laut auf – »Ich kannst es dir nicht erzählen, nein ich kann es nicht.«
Mein Diener öffnete die Tür, er trug eine glatte Maske über seiner zappelnden Neugier. »Haben Sie rufen lassen, Sir?«
»Ja«, log ich. »Ich möchte, dass Sie eine Notiz an die Bank mitnehmen, und dort auf eine Antwort warten.«
Als ich ihn losgeworden war, fuhr Haldane fort: »Wo war ich stehengeblieben?«
»Du schilderst gerade, was passierte, nachdem du auf den Almanach sahst. Was war es?«
»Nicht viel«, sagte er und lachte leise: »Oh, nicht viel – nur, dass ich einen Blick auf den Kaminteppich warf und – dort lag der Mann, den ich ein Jahr zuvor getötet hatte. Versuch nicht, es zu erklären, oder ich werde meine Nerven verlieren. Die Tür war verschlossen. Die Fenster zu. Er war eine Minute zuvor nicht dort gewesen. Und jetzt war er es. Das ist alles.«
›Halluzination‹ war eines der Worte, die ich nun hervorstammelte.
»Genau das, was ich auch glaubte«, rief er triumphierend, »aber, ich berührte Es. Und es war ziemlich real. Schwer, weißt du, und irgendwie härter als es lebende Leute bei Berührung sind – etwas wie Gips bedeckte seine Hände, und die Arme waren wie die einer Marmorstatue in einem blauen Serge-Anzug. Hasst du nicht auch Männer, die blaue Serge-Anzüge tragen?«
»Es gibt auch Berührungs-Halluzinationen …« fand ich mich selbst erwidernd …
»Genau das, was ich dachte«, sagte Haldane noch triumphaler als zuvor, »aber es gibt Grenzen, du weißt schon – Grenzen. Also meinte ich, jemand hätte ihn ausgegraben – den wirklichen ihn – und ihn dort hingeschafft, um mich zu erschrecken, während ich meinen Rücken zukehrte. Also ging ich zu der Stelle, wo ich ihn versteckt hatte, und er war noch da – ah! – ganz genau so wie ich ihn zurückgelassen hatte. Nur … das war vor einem Jahr. Jetzt gibt es ihn dort zweimal.«
»Mein Lieber«, sagte ich: »Das ist schlicht komisch.«
»Ja«, sagte er, »Es ist amüsant. Ich empfinde es genau so. Vor allem in den Nächten, wenn ich aufwache und darüber nachgrüble. Ich hoffe, ich werde nicht in der Dunkelheit sterben, Winston. Das ist einer der Gründe, warum ich glaube, ich werde mich umbringen müssen. Nur so kann ich sicher sein, nicht im Dunkeln zu sterben.«
»Ist das alles?«, fragte ich und fühlte bestimmt, dass es so sein müsse.
»Nein«, sagte Haldane auf einmal. »Das war nicht alles. Er ist zurückgekommen, um mich erneute büßen zu lassen. In einem Eisenbahnwagon war es. Ich hatte geschlafen. Als ich aufwachte, lag er auf dem Sitz mir gegenüber. Sah genau gleich aus. Ich warf ihn im Red Hill-Tunnel auf die Gleise. Falls ich ihn wieder sehen, werde ich dasselbe mit mir tun. Ich kann es nicht länger ertragen. Es ist zu viel. Ich würde lieber vorher verschwinden. Was es auch immer in der nächste Welt gibt, wohl nicht solche Dinge wie diese. Wir lassen sie hier zurück, in Gräbern und Kisten und … du denkst, ich bin verrückt. Aber ich bin es nicht. Du kannst mir nicht helfen, niemand kann das. Und er wusste das, verstehst du. Er meinte, ich wäre nicht in der Lage, den Leichnam loszuwerden. Und ich kann es auch nicht – ihn loswerden. Ich kann es nicht. Ich kann es nicht. Er wusste es. Er wusste immer Dinge, die er unmöglich wissen konnte. Aber ich werde sein Spiel abkürzen. Immerhin, trotz allem habe ich noch ein Trumpfass im Ärmel, und ich werde es bei seinem nächsten Streich ausspielen. Ich gebe dir mein Ehrenwort, Winston, dass ich nicht verrückt bin.«
»Mein lieber Alter«, sagte ich, »ich glaube nicht, dass du verrückt bist. Aber ich denke, deine Nerven sind sehr strapaziert. Meine sind es auch ein bisschen. Weißt du, warum ich nach Indien ging? Es war wegen dir und ihr. Ich konnte nicht bleiben und zuschauen, obwohl ich euch beiden alles Glück der Welt wünschte; du weißt, dass ich das wirklich tat. Und als ich zurück kam, war sie … und du … lass uns das zusammen entwirren«, meinte ich. »Du wirst dir keine Sachen einbilden, wenn du mich zum Reden hast. Hab ich nicht immer gesagt, dass du ein furchtbar schlechter Stümper bist?«
»Sie mochte dich«, sagte er.
»Oh, ja«, murmelte ich, »sie mochte mich.«