Drittes Kapitel - Das Problem - 02
Holmes dachte eine kleine Weile nach; dann sagte er:
»In klare Worte gefaßt, liegt also die Sache so: Nach Ihrer Meinung ist eine höllische Macht am Werk und macht Dartmoor zu einem gefährlichen Aufenthaltsort für einen Baskerville. So denken Sie doch?«
»Jedenfalls möchte ich so weit gehen, zu sagen, daß einige Anzeichen vorhanden sind, es könnte so sein.«
»Ganz recht. Aber so viel ist doch sicher: Wenn Ihre Annahme, daß übernatürliche Kräfte im Spiel seien, richtig ist, so könnten diese dem jungen Mann in London ebenso leicht Böses antun wie in Devonshire. Einen Teufel mit örtlich beschränkter Macht, die etwa nur in einem bestimmten Kirchspiel gilt, den kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Sie nehmen die Sache etwas scherzhaft, Herr Holmes; Sie würden das wohl nicht tun, wenn Sie mit diesen Dingen in persönliche Berührung kämen. Wenn ich Sie recht verstehe, so meinen Sie also, der junge Mann werde in Devonshire ebenso sicher sein wie in London. In fünfzig Minuten kommt er. Was würden Sie mir empfehlen?«
»Ich empfehle Ihnen, werter Herr, eine Droschke zu nehmen, Ihren Hund abzurufen, der an meiner Haustür kratzt, und zum Waterloo-Bahnhof zu fahren, um Sir Henry Baskerville abzuholen.«
»Und dann?«
»Und dann werden Sie ihm durchaus nichts sagen, bis ich mir über die Sache klar geworden bin.«
»Wie lange brauchen Sie, um sich darüber klar zu werden?«
»Vierundzwanzig Stunden. Morgen früh um zehn, Herr Doktor Mortimer, werde ich Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mich hier aufsuchen wollen, und es wird mir in meinen Plänen eine wesentliche Hilfe sein, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen.«
»So werde ich's machen, Herr Holmes.« Er kritzelte die Verabredung auf seine Manschette und rannte in seiner sonderbaren, zerstreuten Art aus der Tür. Oben an der Treppe rief Holmes ihn aber zurück.
»Nur noch eine Frage, Herr Doktor. Sie sagen, vor Sir Charles Baskervilles Tod hätten mehrere Leute das Gespenst auf dem Moor gesehen?«
»Ja, drei.«
»Sah jemand es nachher?«
»Ich habe durchaus nichts davon gehört.«
»Danke. Guten Morgen.«
Holmes setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Sein ruhiger Blick voll innerer Befriedigung zeigte an, daß er eine Aufgabe vor sich sah, die er als seiner würdig erachtete.
»Gehst du aus, Watson?«
»Ja, das heißt, wenn ich dir helfen kann …«
»Nein, mein lieber Freund; erst wenn es zu handeln gilt, wende ich mich an dich um Hilfe. Na, dieser Fall ist prachtvoll, in mancher Hinsicht geradezu einzigartig. Wenn du bei Bradleys Laden vorbeikommst, willst du ihm, bitte, sagen, er möchte mir ein Pfund von seinem stärksten Schnittabak zuschicken? Danke. Es wäre recht gut, wenn du's so einrichten könntest, daß du nicht vor Abend zurückkommst. Dann würde es mir viel Vergnügen machen, unsere Ansichten über das höchst interessante Problem von heute früh zu vergleichen.«
Ich wußte, Abgeschlossenheit und Einsamkeit waren meinem Freund sehr notwendig in jenen Stunden schärfster Denkarbeit, in denen er jedes Beweisteilchen nach seiner Wichtigkeit maß, verschiedene Theorien gegen einander abwog und sich klar darüber wurde, welche wesentlich und welche unbedeutend waren. Ich verbrachte daher den Tag in meinem Klub und kam erst abends zur Bakerstraße zurück. Es war fast neun Uhr, als ich wieder unser Wohnzimmer betrat.
Als ich die Tür öffnete, war mein erster Gedanke, es sei Feuer ausgebrochen, denn das Zimmer war so voll Qualm, daß kaum das Licht der auf dem Tisch stehenden Lampe hindurchschien. Als ich jedoch im Zimmer war, erkannte ich, daß ich mich geirrt hatte; es war nur der beizende Rauch starken Tabaks, der mir die Kehle zuschnürte, so daß ich husten mußte. Durch den Dunst hindurch sah ich in undeutlichen Umrissen die Gestalt von Sherlock Holmes, der mit seiner schwarzen Tonpfeife zwischen den Lippen, mit seinem Hausrock bekleidet, sich's in einem Lehnstuhl bequem gemacht hatte. Mehrere Papierrollen lagen um ihn herum.
»Hast du dich erkältet, Watson?« fragte er.
»Nein, es ist diese vergiftete Luft.«
»Hm, nun da du davon sprichst, so glaube ich selber, sie ist wirklich ziemlich dick.«
»Dick?! … Sie ist unerträglich!«
»Dann mach doch das Fenster auf. Du bist, wie ich bemerke, den ganzen Tag in deinem Klub gewesen?«
»Bester Holmes!«
»Habe ich recht?«
»Gewiß, aber wie …?«
Er lachte über mein verblüfftes Gesicht.
»Du hast so eine entzückende Unschuld an dir, Watson. Es ist ein wahres Vergnügen für mich, meine schwachen Fähigkeiten ein bißchen an dir zu üben. Ein Herr geht an einem trüben, regnerischen Tag aus. Am Abend, als er zurückkommt, sieht er aus wie aus dem Ei gepellt; Hut und Stiefel sind noch tadellos glänzend. Also ist er den ganzen Tag an einem Ort gewesen. Intime Freunde hat er nicht. Wo kann er also gewesen sein? Ist es nicht selbstverständlich?«
»Allerdings, ziemlich selbstverständlich.«
»Die Welt ist voll von selbstverständlichen Dingen, auf die kein Mensch je achtet. Wo, glaubst du, bin ich gewesen?«
»Ebenfalls den ganzen Tag zu Hause.«
»Im Gegenteil, ich war in Devonshire.«
»Im Geiste?«
»Ganz recht. Mein Leib ist in diesem Lehnstuhl geblieben und hat, wie ich mit Bedauern bemerke, in meiner Abwesenheit zwei große Kannen Kaffee und eine unglaubliche Menge Tabak vertilgt. Als du weg warst, ließ ich mir von Stamford die Generalstabskarte von diesem Teil des Moores besorgen, und mein Geist hat den ganzen Tag über jenem Erdenfleck geschwebt. Ich schmeichle mir, ich könnte dort jetzt meinen Weg allein finden.«
»Die Karte ist wohl in großem Maßstab gehalten?«
»In sehr großem.« Er rollte eins von den Blättern auf und breitete es auf seinem Knie aus. »Hier hast du die Gegend, um die es für uns geht. Da in der Mitte ist Baskerville Hall.«
»Das mit dem Wald rund herum?«
»Ganz recht. Ich nehme an, daß die Taxusallee, obwohl sie nicht unter diesem Namen auf der Karte eingetragen ist, sich in dieser Richtung erstreckt; wie du siehst, ist rechts davon das Moor. Dieser kleine Häuserklumpen ist das Dörfchen Grimpen, wo unser Freund Dr. Mortimer sein Hauptquartier hat. In einem Kreis mit einem Radius von fünf Meilen sind, wie du siehst, nur ein paar ganz weit verstreute Gebäude vorhanden. Hier ist Lafter Hall, wovon in der Geschichte die Rede war. Da ist ein Haus eingezeichnet, das vielleicht der Wohnsitz des Naturforschers ist – Stapleton ist sein Name, wenn ich mich recht erinnere.
Dann hier zwei Moorbauernhäuser, High Tor und Foulmir. Dann in einer Entfernung von vierzehn Meilen das große Zuchthaus von Princetown. Zwischen diesen weit verstreuten Punkten und rund um sie herum erstreckt sich das trostlose, unbelebte Moor. Dies also ist der Schauplatz, auf dem sich die Tragödie abgespielt hat und sich vielleicht mit unserer Hilfe weiter entwickeln wird.«
»Es muß eine schaurige Gegend sein.«
»Ja, sie paßt zu einem großen Verbrechen. Wenn der Teufel je den Wunsch hätte, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen …«
»Du neigst also selber zu einer übernatürlichen Erklärung?«
»Des Teufels Werkzeuge können wohl von Fleisch und Blut sein, nicht wahr? Wir müssen von zwei Fragen ausgehen: Erstens, ob überhaupt ein Verbrechen begangen wurde; zweitens, worin bestand das Verbrechen, und wie wurde es vollbracht? Natürlich, wenn Dr. Mortimers Vermutung richtig ist, wenn wir es mit Mächten zu tun haben, die außerhalb der gewöhnlichen Naturgesetze stehen, so hat unsere Suche ein Ende. Aber wir haben die Pflicht, alle anderen Hypothesen bis zu Ende zu verfolgen, ehe wir diese eine gelten lassen. Wenn's dir recht ist, so können wir wohl das Fenster wieder schließen. Es ist sonderbar genug, aber ich finde, eine konzentrierte Atmosphäre hilft mit zum konzentrieren der Gedanken. Ich bin noch nicht so weit, daß ich zum Zweck des Nachdenkens in eine Kiste krieche, allerdings wäre das die logische Verwirklichung meiner Überzeugungen … Hast du dir mal den Fall durch den Kopf gehen lassen?«
»Ja, ich habe den Tag über viel daran gedacht. Der Fall ist sehr dazu angetan, einem den Kopf zu verwirren.«
»Ja, er ist von ganz eigener Art. Er bietet etliche außerordentliche Punkte: die Veränderung der Fußspuren zum Beispiel. Wie erklärst du dir diesen Umstand?«
»Mortimer sagte, der Mann sei in jenem Teil der Allee auf den Fußspitzen gegangen.«
»Er sprach nur nach, was ein Dummkopf bei der Untersuchung gesagt hatte. Warum sollte ein Mann auf den Fußspitzen die Allee hinuntergehen?«
»Was war's also?«
»Er rannte, Watson – rannte voller Verzweiflung, rannte in Todesangst, rannte, bis ihn der Herzschlag traf, und er tot auf sein Antlitz fiel.«
»Er rannte – vor was denn?«
»Da liegt unser Problem. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß er vor Angst die Besinnung verloren hatte, schon ehe er zu laufen anfing.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Ich setze voraus, daß die Ursache seines Schreckens über das Moor auf ihn zukam. Wenn dies der Fall war – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür – so konnte nur ein Mann, der den Verstand verloren hat, vom Haus weglaufen, anstatt darauf zu. Wenn man die Aussage des Zigeuners als wahr annimmt, so rannte er, nach Hilfe schreiend, gerade in die Richtung, wo Hilfe am allerwenigsten zu erwarten war. Und weiter, auf wen wartete er in jener Nacht, und warum wartete er auf ihn in der Taxusallee anstatt in seinem Haus?«
»Du glaubst, er wartete auf jemand?«
»Der Mann war ältlich und kränklich. Es läßt sich wohl begreifen, daß er abends einen Spaziergang zu machen pflegte, aber der Boden war naß und die Nacht rauh. Ist es natürlich, daß er fünf oder zehn Minuten lang auf derselben Stelle stand, wie Doktor Mortimer mit mehr Beobachtungsgabe, als ich ihm zugetraut hätte, aus der Zigarrenasche folgerte?«
»Aber er ging doch jeden Abend aus.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, daß er jeden Abend an der Moorpforte gewartet hat. Im Gegenteil, die Zeugen haben bekundet, daß er das Moor vermied. An jenem Abend wartete er. Es war der Abend vor seiner Abreise nach London. Das Ding nimmt Gestalt an, Watson. Es kommt Zusammenhang hinein. Darf ich dich bitten, mir meine Geige herüberzureichen? Wir wollen alles weitere Nachdenken über die Angelegenheit bis morgen früh verschieben; dann werden uns ja Doktor Mortimer und Sir Henry Baskerville mit ihrem Besuch zu Hilfe kommen.«