Vierzehntes Kapitel - Der Hund der Baskervilles - 05
Von Stapletons Gewandtheit erhielten wir selber an jenem Morgen einen Begriff, als er uns so plötzlich entkam. Er wußte von dem Augenblick an, daß ich den Fall in meine Hände genommen hätte, daß also in London sich schwerlich für ihn eine Gelegenheit ergeben würde, seine Mordpläne zur Ausführung zu bringen. Er kehrte daher nach Devonshire zurück und wartete des Baronets Ankunft ab.«
»Einen Augenblick, bitte!« rief ich. »Du hast ohne Zweifel die Reihenfolge der Ereignisse richtig angegeben, aber es bleibt noch ein Punkt unaufgeklärt, was wurde aus dem Hund, während der Herr in London war.«
»Ich habe mich selbst ernstlich mit diesem ohne Frage wichtigen Punkt beschäftigt. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß Stapleton einen Vertrauten hatte, obwohl er ihn wahrscheinlich nicht so weit ins Geheimnis zog, daß seine eigene Sicherheit dadurch gefährdet werden konnte. In Merripit House war ein alter Diener namens Anton. Er ist mit den Stapletons hierher gekommen und soll schon früher bei ihnen gewesen sein. Dann müßte er aber auch gewußt haben, daß die Stapletons nicht Bruder und Schwester, sondern Mann und Frau waren. Der Mann ist heute Nacht verschwunden und nicht wiedergekommen. Auffällig ist auch sein Name. Anton heißen in England nur wenig Leute, dagegen ist Antonio in Spanien und im spanischen Amerika ein sehr gewöhnlicher Name. Er sprach, wie auch Frau Stapleton, gut Englisch, aber mit einem etwas lispelnden Akzent. Ich selbst habe den alten Mann über den Grimpener Morast gehen sehen, er benutzte diesen von Stapleton kenntlich gemachten Pfad. Höchstwahrscheinlich also hat er in Abwesenheit seines Herrn den Hund gefüttert, obwohl er vielleicht den Zweck, zu welchem die Bestie gehalten wurde, nicht gekannt hat.
Ich selbst hatte vom ersten Anfang an auf Stapleton verdacht, und das kam so. Vielleicht erinnerst du dich, daß ich das Papier des Warnungsbriefes genau untersuchte, um eine Wassermarke zu entdecken. Als ich es nun für ein paar Zoll weit von meinen Augen entfernt hielt, bemerkte ich den schwachen Duft eines Parfüms. Es war weißer Jasmin. Es gibt 75 verschiedene Parfüms, und wer sich berufsmäßig mit der Entdeckung von Verbrechen beschäftigt, der muß sie alle voneinander unterscheiden können. Mehr als einmal ist es mir passiert, ein scheinbar unerklärliches Rätsel mithilfe des Geruchssinnes sofort zu lösen. Das Parfüm brachte mich darauf, daß eine Dame im Spiel sein müßte, und so war es ganz natürlich, daß ich meiner Aufmerksamkeit dem Ehepaar Stapleton zuwandte. Ich wußte also, daß ein Hund benutzt war, und ich hatte erraten, wer der Verbrecher war, ehe ich London verlassen hatte.
Was ich hier tat, während du mich zu Hause in der Bakerstraße wähntest, das ist dir ja bekannt. Es bleibt nur noch die Rolle näher zu bestimmen, die die Dame gespielt hat. Ohne Zweifel übte Stapleton eine ungeheure Macht über sie aus. Beruhte diese auf Liebe, beruhte sie auf Furcht? Das weiß ich nicht. Vielleicht war es beides, denn diese beiden Gefühle sind durchaus nicht unvereinbar miteinander. Jedenfalls war die Macht vorhanden und wirksam. Auf seinen Befehl willigte sie ein, für seine Schwester zu gelten. Nur als er sie zu unmittelbarer Mitwirkung an einem Mord heranziehen wollte, da fand er die Grenzen seiner Macht. Sie versuchte, Sir Henry zu warnen, soweit es geschehen konnte, ohne ihren Gatten zu gefährden. Sie versuchte es nicht nur das eine Mal, sondern wiederholt. Stapleton selbst scheint eifersüchtig gewesen zu sein, denn als er sah, wie der Baronet der Dame den Hof machte, da brach seine Leidenschaft wild hervor, obwohl doch Sir Henrys Liebe zu den Faktoren des Mordplanes gehörte. Indem er später das Verhältnis gut hieß, erlangte er die Gewissheit, daß Sir Henry häufig nach Merripit House zum Besuch kommen und daß er selbst dadurch früher oder später die Gelegenheit erhalten würde, auf die er es abgesehen hatte.
Am Entscheidungstage jedoch erklärte seine Frau sich plötzlich gegen ihn. Sie hatte etwas von dem Tode des entsprungenen Sträflings gehört, und sie erfuhr, daß an demselben Tage, wo Sir Henry zu Tisch kommen sollte, der Hund in das Nebengebäude von Merripit House gebracht worden war. Sie sagte ihrem Manne das beabsichtigte Verbrechen gerade auf den Kopf zu, und es folgte ein heftiger Auftritt, wobei Stapleton in seiner Wut ihr verriet, daß sie eine Nebenbuhlerin hatte. Augenblicklich schlug ihre treue Liebe in bitteren Hass um, und er sah, daß sie ihn verraten würde. Deshalb fesselte und knebelte er sie, damit sie nicht imstande wäre, den Baron zu warnen. Ohne Zweifel hoffte er, wenn die ganze Gegend den Tod des Baronets dem Familienfluch zuschreiben würde, und daran brauchte er nicht zu zweifeln, so würde sie sich ihm wieder zuwenden, mit der vollendeten Tatsache sich abfinden, und über das, was sie wußte, stillschweigen bewahren. Hierin hatte er sich allerdings meiner Meinung nach auf jeden Fall verrechnet. Er wäre verloren gewesen, selbst wenn wir nicht dazwischen gekommen wären. Ein Weib, in deren Adern spanisches Blut glüht, vergibt nicht so leicht eine so grausame Beschimpfung… und das wäre wohl alles, was über den Fall zu sagen ist.
»Aber Stapleton konnte doch nicht erwarten, daß der junge, kräftige Sir Henry aus reiner Angst vor dem Hunde sterben würde, wie es ihm bei dem alten, herzkranken Baronet geglückt war?«
»Nein, das nicht, aber die Bestie war blutgierig und halb verhungert, und der Anblick des wilden Tieres mit dem feurigen Schlund mußte jedenfalls dazu beitragen, die Widerstandskraft zu lähmen. Übrigens war ja die Wirkung auf Sir Henrys Nerven schwer genug. Dr. Mortimer sagte mir, es sei ein wahres Wunder, daß Sir Henry die Nacht so gut überstanden habe. Er habe anfangs Schlimmeres befürchtet. Es würden Monate nötig sein, um ihm die volle Gesundheit wiederzugeben. Sir Henry hat, um die grauenhaften Eindrücke loszuwerden, beschlossen, eine Reise um die Welt zu machen, und Dr. Mortimer wird ihn begleiten.
»Noch eins, wenn Stapleton die Erbschaft antrat, — wie konnte er es glaubhaft machen, daß er, der Erbe, jahrelang unter angenommenem Namen hier in unmittelbarer Nähe seines Eigentums geliebt hatte? Mußte das nicht Verdacht erregen und dadurch Nachforschungen veranlassen?«
»Diese Schwierigkeit ist allerdings sehr beträchtlich, und ich fürchte, ich kann sie dir nicht erklären. Vergangenheit und Gegenwart sind das Gebiet meiner Berufstätigkeit — aber was jemand in Zukunft tun werde, diese Frage lässt sich schwer beantworten. Frau Stapleton — die ich natürlich darüber befragt habe — hat ihren Mann zu verschiedenen Malen diese Frage diskutieren hören. Es waren drei Möglichkeiten vorhanden. Er konnte seine Ansprüche von Südamerika aus geltend machen, seine Identität vor einem britischen Konsul nachweisen und auf diese Weise sich in Besitz des Vermögens setzen, ohne überhaupt nach England zu kommen. Oder er konnte für die kurze Zeit, die er zur Erledigung des Geschäftes in London hätte sein müssen, sich einer geschickten Verkleidung bedienen. Oder er konnte einem Helfershelfer die nötigen Dokumente und Papiere ausliefern. Dieser hätte die Erbschaft antreten und ihm natürlich den größeren Teil des Einkommens überlassen müssen. Nach dem, was wir von ihm gesehen haben, können wir wohl annehmen, dass er schon einen Ausweg aus der Schwierigkeit gefunden haben würde. Denn, mein lieber Watson, ich sagte es schon in London und wiederhole es hier, niemals haben wir einen gefährlicheren Verbrecher zu verfolgen gehabt, als den Mann, der jetzt hier unter der trügerischen grünen Decke des Sumpfes liegt.«
Und damit deutete Sherlock Holmes' langer Arm auf die miasmen aushauchende weite Fläche des Morastes, der sich in der Ferne in dem melancholischen Braun des Heidemoors verlor.