Vierzehntes Kapitel - Der Hund der Baskervilles - 02
Mit jeder Minute schob sich die weiße, wolkige Schicht, die bereits die Hälfte des Moores bedeckte, näher und näher an das Haus heran. Schon kräuselten sich die ersten feinen Ausläufer des Nebels vor dem goldenen Viereck des erleuchteten Fensters. Die rückseitige Mauer des Obstgartens war bereits unsichtbar, und die Bäume erhoben sich aus einem brodelnden weißen Dampf in die Luft. Und schon wälzten sich Nebelstreifen um die Ecke des Hauses herum und vereinigten sich allmählich zu einer dichten, glatt abgeschnittenen Wolke, über welcher das obere Stockwerk und das Dach des Hauses wie ein Gespensterschiff auf seltsamem Meer schwammen. Holmes schlug aufgeregt mit der Faust auf den Felsen, hinter dem wir uns versteckt hatten und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß.
»Wenn er nicht binnen einer Viertelstunde draußen ist, so wird der Fußweg bedeckt sein. In einer halben Stunde können wir keine Hand mehr vor Augen sehen.«
»Sollen wir uns nicht ein Stück Weges zurückziehen? Hinter uns steigt der Grund an.«
»Ja, das wird wohl das beste sein.«
Wir gingen also, vor der Nebelbank allmählich zurückweichend, weiter aufs Moor hinaus, bis wir etwa tausend Schritte vom Hause entfernt waren – und immer noch kroch die weiße Masse mit der mondbeglänzten Oberfläche näher an uns heran, unerbittlich immer näher.
»Wir gehen zu weit.« sagte Holmes. »Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, daß er eingeholt wird, bevor er bis an unser Versteck heran ist. Hier, wo wir jetzt sind, müssen wir auf alle Fälle bleiben.« Er ließ sich auf die Knie nieder und hielt das eine Ohr an den Erdboden. »Gott sei Dank! Ich glaube, ich höre ihn kommen.«
Wirklich wurden jetzt schnelle Schritte in der Stille des Moores hörbar. Uns an die Felsblöcke anschmiegend, beobachteten wir mit gespanntester Erwartung die schimmernde Nebelbank, die vor uns lag. Und jetzt trat, wie wenn er einen Vorhang zerteilt, aus dem weißen Nebel heraus der Mann, auf den wir warteten.
Er blickte sich überrascht um, als er plötzlich die klare, sternenbeglänzte Nachtlandschaft vor sich sah. Dann eilte er schnellen Schrittes auf dem Pfad dahin, an unserem Versteck vorbei, und den Hügel hinauf, der sich sanft ansteigend hinter uns erstreckte. Während er vorwärts eilte, sah er beständig bald über die eine, bald über die andere Schulter nach hinten. Augenscheinlich war ihm unbehaglich zu Mute.
»Sst!« rief Holmes, und ich hörte ein scharfes Knacken; er hatte den Hahn seines Revolvers gespannt. »Aufgepaßt! Es kommt!«
Wir hörten ein dünnes, scharfes, regelmäßiges Getrappel mitten aus der heranwabernden Nebelmasse heraus. Die Wolke lag fünfzig Schritte vor uns und wir starrten alle drei auf die weiße Fläche. Was für ein Grauen würde aus ihr hervorbrechen? Ich stand eng neben Holmes und warf einen schnellen Blick auf sein Gesicht. Er war bleich, aber offenbar frohlockte er innerlich; seine Augen funkelten hell im Mondenschein. Dann aber traten sie jählings aus den Höhlen, er starrte gebannt und seine Lippen öffneten sich in maßlosem Erstaunen. Im selben Augenblick stieß Lestrade einen Schrei des Entsetzens aus und warf sich mit dem Gesicht auf die Erde. Ich sprang auf; meine zitternde Hand umklammerte den Revolver, aber ich konnte nicht schießen, ich war gelähmt von dem Anblick des grausigen Geschöpfes, das aus dem Nebel auf uns zu gesprungen kam.
Es war ein Hund, ein riesiger kohlschwarzer Hund, aber ein Hund, wie keines Menschen Augen ihn jemals gesehen haben. Feuer sprühte aus dem offenen Rachen hervor, die Augen glühten, Schnauze, Lefzen und Wamme waren von lodernden Flammen umgeben. Ein Wahnsinniger könnte sich in seinen Fieberträumen kein wilderes, grausigeres Ungeheuer vorstellen; wie ein Geschöpf der Hölle brach die schwarze Bestie aus dem weißen Dunst hervor.
In langen Sätzen sprang der riesige schwarze Hund den schmalen Weg entlang; die Nase dicht über dem Erdboden haltend, folgte er den Fußspuren unseres Freundes. Wir waren durch diese Erscheinung wie gelähmt, und ehe wir unsere Besinnung wiedererlangt hatten, war die Bestie schon an unserem Versteck vorübergesprungen. Dann feuerten Holmes und ich gleichzeitig, und ein schauerliches Geheul bewies uns, daß wenigstens einer von uns getroffen haben mußte. Doch der Hund ließ sich nicht aufhalten, sondern jagte mit unverminderter Schnelligkeit weiter. In ziemlich weiter Entfernung sahen wir Sir Henry auf dem Weg stehen; er mit kreideweißem Antlitz, dessen Blässe durch den voll darauffallenden Mondschein noch mehr hervorgehoben wurde, blickte er sich um, die Hände hatte er voller Entsetzen emporgeworfen und hilflos starrte er auf das grausige Ungeheuer, das auf ihn losgesprungen kam.
Aber das Schmerzgeheul des Hundes zerstreute all unsere Furcht. Wenn er verwundbar war, so war er ein Erdengeschöpf, und wenn wir ihn verwunden konnten, so konnten wir ihn auch töten. Niemals habe ich einen Menschen rennen sehen, wie Sherlock Holmes in diesem entscheidenden Augenblick rannte. Ich gelte für einen schnellen Läufer, aber ich blieb weit hinter meinem Freund zurück, und in gleicher Entfernung hinter mir folgte erst der kleine Londoner Detektiv. Vor uns hörten wir Schrei auf Schrei, die gellenden Angstrufe des Baronets und dazwischen das tiefe Gebell des Hundes. Ich sah, wie die Bestie auf ihr Opfer lossprang, Sir Henry zu Boden warf und ihm an die Kehle fuhr.
Im nächsten Augenblick aber hatte Holmes dem Tier die fünf übrigen Kugeln seines Revolvers in die Flanke gejagt. Mit einem letzten Todesgeheul und noch einmal wild um sich beißend rollte der Hund auf den Rücken; die Beine fuhren noch ein paarmal durch die Luft, dann fiel er auf die Seite und lag regungslos da. Keuchend sprang ich an das Tier heran und hielt den Lauf meines Revolvers an den fürchterlichen feuerumlohten Kopf; aber ich brauchte nicht mehr abzudrücken. Der riesige Hund war tot.
Sir Henry lag bewußtlos auf der Stelle, an der er umgesunken war. Wir rissen ihm den Kragen auf, und Holmes stieß ein Dankgebet aus, als wir sahen, daß keine Wunde vorhanden, und daß unsere Hilfe noch zur rechten Zeit gekommen war. Bald zuckten die Augenlider unseres Freundes, und er machte einen schwachen Versuch, sich zu bewegen. Lestrade schob dem Baronet seine Brandyflasche zwischen die Zähne – und dann sahen uns zwei ängstliche Augen an.
»Mein Gott,« flüsterte Sir Henry. »Was war das? Um des Himmels willen – was war es?«
»Was es auch gewesen sein mag, es ist tot,« antwortete Holmes. »Wir haben dem Familiengespenst für ewige Zeiten den Garaus gemacht.«
Das Tier, das da zu unseren Füßen hingestreckt lag, war schon allein durch seine Größe und Stärke eine fürchterliche Bestie. Es war kein reinrassiger Bluthund und auch keine reiner Mastiff, sondern schien aus einer Kreuzung beider hervorgegangen zu sein – ein zottiges, dürres Geschöpf von der Größe einer kleinen Löwin. Noch jetzt, wo es tot war, schien von den gewaltigen Kinnladen ein bläuliches Feuer zu triefen, und die tiefliegenden, grausamen kleinen Augen waren von Flammenringen umgeben. Und als ich mit meinen Händen das furchtbare Maul auseinanderriß, da schimmerten auch meine Finger feurig in der Dunkelheit.
»Phosphor!« rief ich.
»Ja, ein Phosphorpräparat – und ein sehr geschickt bereitetes,« sagte Holmes, der sich niedergebeugt hatte und den Kopf des toten Tieres beroch. »Es ist eine geruchlose Lösung, die den Spürsinn des Tieres nicht beeinträchtigen konnte. – Wir müssen Sie von ganzem Herzen um Verzeihung bitten, Sir Henry, daß wir Sie der Gefahr eines so furchtbaren Schrecks ausgesetzt haben. Ich war auf einen Hund gefaßt – aber nicht auf eine Bestie wie diese hier. Und infolge des Nebels hatten wir nur einen ganz kurzen Augenblick Zeit, um sie mit mehreren Schüssen zu empfangen.«
»Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Nachdem ich es erst in Gefahr gebracht hatte. Sind Sie kräftig genug, um sich auf Ihren Füßen halten zu können?«
»Lassen Sie mich noch einen Schluck Brandy zu mir nehmen, und ich bin zu allem bereit. – So. Wollen Sie mir jetzt bitte aufhelfen? Was gedenken Sie zunächst zu tun?«
»Sie hier zu lassen. Sie sind nicht imstande, in dieser Nacht noch mehr Abenteuer durchzumachen. Wenn Sie auf unsere Rückkunft warten wollen, so kann einer von uns Sie zum Schloß begleiten.«