Der Tempel - 04
Schließlich jenem Atlantis gegenüberstehend, das ich vorher weitestgehend als Märchen erachtet hatte, wurde ich zum eifrigsten Entdecker. Am Grund des Tals musste einst ein Fluss geflossen sein, denn als ich die Kulisse genauer begutachtete, erblickte ich die Reste von steinernen und marmornen Brücken und Dämmen sowie einstmals herrlich grüne Terrassen und Uferböschungen. In meinem Enthusiasmus wurde ich fast so idiotisch und gefühlsduselig wie der arme Klenze und bemerkte erst spät, dass die Südwärtsströmung endlich nachgelassen hatte und die U29 langsam aufsetzen ließ, so wie ein Flugzeug in einer Stadt an der Oberfläche aufsetzt. Ich stellte auch erst langsam fest, dass der ungewöhnliche Delfinschwarm verschwunden war.
Nach zwei Stunden ruhte das Boot auf einem gepflasterten Platz nahe der felsigen Wand des Tals. Auf einer Seite konnte ich die gesamte Stadt erblicken, wie sie von der Piazza hinunter zum Flussufer fiel, auf der anderen Seite, in erstaunlicher Nähe, sah ich mich gegenüber der reich verzierten und perfekt erhaltenen Fassade eines großen Bauwerks, augenscheinlich eines Tempels, der aus dem soliden Stein gehöhlt war. Über die ursprüngliche Konstruktion dieses gigantischen Dinges kann ich nur mutmaßen. Die Fassade von gewaltigem Ausmaß scheint eine fortlaufende Aushöhlung zu überdecken, denn sie enthält viele und weit verteilte Fenster.
In der Mitte klafft ein riesiges, offenes Tor, dass man über eine eindrucksvolle Treppe erreicht und das von erlesenen Gravuren umgeben, wie Darstellungen von Bacchanalien im Relief. Am herausragendsten von allen sind die großen Säulen und Friese, jeweils dekoriert mit Skulpturen von unbeschreiblicher Schönheit, die offensichtlich idealisierte, pastorale Szenen und Prozessionen von Priestern und Priesterinnen, die fremdartiges zeremonielles Gerät trugen, in Anbetung eines strahlenden Gottes. Die Kunstwerke waren von phänomenaler Perfektion, von ihrer Grundvorstellung weitgehend Hellenisch und doch eigentümlich verschieden. Sie vermittelten eine Anmutung entsetzlicher Antiquität, als seien sie eher die entferntesten als die direkten Vorfahren griechischer Kunst. Auch kann ich nicht bezweifeln, dass jedes Detail dieser massiven Hervorbringung aus dem jungfräulichen Felsgestein dieses, unseres Planeten gestaltet wurde. Sie war offenkundig teil der Talseite, doch wie ihr gewaltiges Inneres ausgeschachtet worden war kann ich mir nicht ausmalen. Vielleicht lieferte eine Höhle oder vielleicht eine Reihe von Höhlen den Kern. Weder Alter noch Überschwemmung haben der ursprünglichen Herrlichkeit dieses schauderhaften Gotteshauses, um das es sich hierbei handeln musste, zugesetzt --- und auch nach tausenden Jahren ruht es makellos und unberührt in der endlosen Nacht und Stille einer Meeresspalte.
Ich kann die Stunden nicht zählen, die ich damit verbrachte, die versunkene Stadt mit ihren Bauwerken, Gewölben, Statuen und Brücken, sowie den kolossalen Tempel in seiner Schönheit und Geheimnisumwittertheit zu betrachten. Obwohl mir bewusst war, dass mir der Tod bevorstand, war meine Neugier verzehrend und ich warf den Schein des Suchlichtes in eifriger Suche umher. Der Lichtstrahl gestattete es mir, viele Details zu erkennen, doch verweigerte er mir, irgendetwas im Innern des klaffenden Tores des in den Felsen gehauenen Tempels zu erkennen und nach einer Weile schaltete ich den Strom ab, der Notwendigkeit des Energiesparens bewusst. Die Strahlen waren nun merkbar dunkler als sie noch während der Wochen des Treibens gewesen waren. Und als wie geschärft durch den bevorstehenden Verlust des Lichtes, wuchs mein Verlangen, die wässrigen Geheimnisse zu erkunden. Ich, ein Deutscher, sollte der erste sein, der diese seit Äonen vergessenen Wege betritt! Ich fertigte und prüfte einen Tiefseetauchanzug aus verbundenem Metall und experimentierte mit einem tragbaren Licht und Luftregenerator. Obwohl es mühevoll sein sollte, die Druckschleuse alleine zu bedienen, konnte ich alle Hindernisse durch meine wissenschaftlichen Fähigkeiten überwinden und tatsächlich höchstselbst in der toten Stadt herumlaufen.
Am 16. August brachte ich es zustande, die U29 zu verlassen und bahnte mir mühevoll meinen Weg durch die zerstörten und von Schlick verstopften Straßen zu dem uralten Fluss. Ich fand keine Skelette oder andere menschliche Überreste vor, doch sammelte ich eine Fülle an archäologischem Wissen durch Skulpturen und Münzen. Davon kann ich jetzt nichts berichten bis auf meine Ehrfurcht vor dieser Kultur im Zenit ihrer Pracht während Höhlenbewohner Europa durchstreiften und der Nil unbewacht ins Meer floss. Andere müssen, angeleitet durch dieses Manuskript, sollte es jemals gefunden werden, die Mysterien enthüllen, die ich hier nur andeuten kann. Ich kehrte zum Boot zurück als meine Batterien schwach wurden, entschlossen den Felsentempel am nächsten Tag zu erkunden.
Am 17., als mein Antrieb, das Geheimnis des Tempels herauszufinden noch eindringlicher geworden war, ereilte mich eine große Enttäuschung als ich feststellte, dass die Materialien um meinen tragbaren Scheinwerfer aufzufrischen in der Meuterei dieser Schweine im Juli zerstört worden waren. Meine Wut war grenzenlos, doch mein Deutscher Verstand verbot mir, unvorbereitet in das absolut schwarze Innere, welches sich als Höhle eines unbeschreiblichen Meeresungeheuers oder als Labyrinth von Gängen aus deren Windungen ich mich niemals würde befreien können herausstellen konnte. Alles was ich tun konnte war, das schwindende Licht des Suchscheinwerfers der U29 einzuschalten und mit dessen Hilfe die Stufen zum Tempel heraufzusteigen und die Gravuren auf der Außenseite zu studieren. Der Lichtstrahl fiel in einem aufsteigenden Winkel durch das Tor und ich spähte hinein um einen flüchtigen Blick auf irgendetwas werfen zu können, doch vergeblich. Nicht einmal die Decke war sichtbar und obwohl ich ein, zwei Schritte hinein tat, nachdem ich den Boden mit einem Stock überprüft hatte, wagte ich nicht, weiterzugehen. Vielmehr verspürte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl von Furcht. Ich begann zu begreifen, wie einige der Launen des armen Klenze entstehen konnten, denn obgleich mich der Tempel mehr und mehr lockte, fürchtete ich seine wässrigen Klüfte mit blindem, zunehmendem Schrecken. Zum Uboot zurückgekehrt, schaltete ich die Lichter aus und saß nachdenklich im Dunkel. Elektrizität muss nun für Notfälle aufgespart werden.
Samstag, den 18. verbrachte ich in vollkommener Dunkelheit, geplagt von Gedanken und Erinnerungen, die drohten, meinen Deutschen Willen zu überkommen. Klenze war wahnsinnig geworden und gestorben bevor er diesen finsteren Überrest einer unheimlich fernen Vergangenheit erreichen konnte und er hatte mir geraten, mit ihm zu gehen. Hat das Schicksal wirklich nur meine Vernunft bewahrt um mich unwiderstehlich zu einem Ende hin zu ziehen, noch schrecklicher und unvorstellbarer als alles was ein Mensch sich zu träumen vermag? Meine Nerven waren offensichtlich zutiefst strapaziert und ich muss diese Anmutungen Schwächerer abschütteln.