Märchen der Völker — Don Quixote: XIV. Don Quixote fordert den König der Wüste
— „Komme, was da wolle! Ich fühle Kraft in mir,
selbst mit dem leib- haftigen Satanas anzubinden!“
Don Quixote sagte dieses mit tiefem Brustton und reckte sich gewaltig dabei.
Sancho Pansa wußte, daß sein Herr nach der Verzauberung seiner Gebieterin,
der Dulcinea von Toboso, allen bösen Geistern
und Zauberern den Tod geschworen hatte und von neuer Abenteuerlust beseelt war. —
„Lieber will ich mit einem Schock Affen zusammen in einen Käfig gesperrt werden,
als Euch, edelster Ritter aller Zeiten, weiter folgen,
wenn ihr jetzt sogar mit dem leibhaftigen Satanas streiten wollt!“
Mittlerweile hatte sich ihnen ein mit Fahnen geschmückter Karren genähert
und es zeigte sich, daß es ein fahrender Käfig war,
in dem ein gewaltiger Löwe wild seine Mähne schüttelte. —
„Wer seid Ihr, Leute? Wohin geht Ihr?
Zu welchem Zwecke führt Ihr in diesem Käfig
ein solch gefährliches Untier mit Euch?!“ fragte Don Quixote. —
„Herr,“ antwortete der Fuhrmann,
„ich transportiere für Seine Majestät dieses Prachtexemplar von einem Löwen,
den der Statthalter von Oran dem König zum Geschenke sendet.“ —
„Ist dieser Löwe stark und mutig genug,
um sich mit mir in einem Kampfe zu messen?“ rief Don Quixote,
indem er die Bestie im Käfig mit herausfordernden Augen maß.
„Öffnet das Gitter und zieht euch zurück!
Hier mitten auf dem freien Felde will ich mit dem König der Tiere kämpfen
und ihm zeigen, welch tapferer Geist Don Quixote von la Mancha innewohnt,
dem Ritter von der traurigen Gestalt.
Öffnet, sage ich! Heraus mit der Bestie,
die mir der Herrscher Spaniens selbst in den Weg schickt,
um meinen Mut zu erproben!“
Sancho Pansa hatte seinem Herrn hinten in den Rüstriemen gefaßt und versuchte,
ihn zurückzuziehen: „Ich bitte Euch, um Gottes Willen –
der Löwe wird Euch unfehlbar in Stücke zerreißen!“ —
„Hinweg, Du jämmerlicher Tropf!“ schrie der Ritter,
„Du fürchtest dich vor diesem Tiere? Du weiche Butterkuchenseele!“
Mit diesen letzten Worten war Don Quixote von seiner Rosinante gesprungen,
stürzte auf den Käfig zu und riß so heftig an der Kette der eisernen Gittertür,
daß diese aufsprang.
Bei diesem tollkühnen Unsinn hatten sich Sancho Pansa
und die beiden Wächter zusammen auf die Rosinante geschwungen
und waren, gefolgt von dem Fuhrmann,
mit Pfeilesschnelle in den Wald gesprengt
und im Nu hinter den Bäumen verschwunden.
Don Quixote war Schritt für Schritt zurückgegangen,
um das furchtbare Raubtier auf freier Bahn zum Kampfe zu erwarten.
Er deckte seine Brust mit dem Schilde,
zückte sein Schwert und empfahl seine mutige Seele
der hochverehrlichen Prinzessin Dulcinea von Toboso. -
Sancho Pansa und die Wärter waren am Waldesrand auf die Bäume geklettert
und zitterten schon in Erwartung eines grausigen Kampfes.
Der Löwe war dumpf brüllend aus dem Käfig hervorgesprungen
und hatte sich nach Katzenart niedergeduckt,
um sich mit seinen gewaltigen Pranken auf sein Opfer zu stürzen.
Sancho Pansa gab seinen Herrn verloren und faltete seine Hände im stillen Gebete. —
Da kam Rosinante, die sich vernach- lässigt fühlte und nicht recht wußte,
wohin sie gehörte, in vollem Galopp zu ihrem Herrn zurück
und rannte in ihrem Ungestüm direkt auf die am Boden kauernde Bestie los.
Der Löwe machte entsetzt einen Satz zurück und schlich wie ein feiger Hund,
mit hängendem Schwanz, in seinen Käfig zurück.
Kein Schimpfen und Schmähen des kampflustigen Ritters
konnte den König der Wüste wieder hervorlocken.
So nahm dieses Abenteuer ein unblutiges Ende
und klang aus in ein übermütiges Lachen.