21. Kapitel - 03
Ich weiß nicht wie es kam, aber ich glaubte, daß mein Dämon da sei, um sich über mein Unglück zu freuen und mir Clervals Tod vorzuhalten; vielleicht in der Hoffnung, daß ich seinen satanischem Wünschen nun entsprechen werde. Ich legte deshalb die Hand vor die Augen und schrie in furchtbarer Todesangst:
»O schaffen Sie ihn fort! Ich kann ihn nicht sehen; um Gottes willen lassen Sie ihn nicht herein!«
Herr Kirwin sah mich bekümmert an. Er schien diesen Gefühlsausbruch für einen Beweis meiner Schuld zu halten und sagte in ernstem Tone:
»Ich hätte gedacht, junger Mann, daß Ihnen Ihr Vater sehr willkommen sein müßte; Sie aber weigern sich so heftig, ihn zu sehen?«
»Mein Vater?« rief ich, indem sich meine Angst in hohe Freude verwandelte. »Wirklich, mein Vater? Wie gut von ihm, daß er kommt. Aber wo ist er, warum läßt man ihn nicht ein?«
Der Bürgermeister wurde nun wieder freundlicher und erhob sich, indem er der Wärterin einen Wink gab, die Zelle zu verlassen. Während sie beide hinausgingen, trat mein Vater ein.
Wie glücklich war ich, das alte, liebe Gesicht zu sehen! Ich streckte meinem Vater die Hand entgegen und sagte:
»Also bist du gesund? Und wie geht es Elisabeth? Wie geht es Ernst?«
Die Antwort meines Vaters beruhigte mich und ein schwacher Schimmer von Freude zog in mein gequältes Herz. »Wo muß ich dich antreffen, mein armes Kind!« sagte mein Vater, indem er traurig auf das vergitterte Fenster und die armselige Einrichtung blickte. »Du hast uns verlassen, um dein Glück zu suchen, aber es scheint kein Glücksstern über dir zu leuchten. Und der arme Clerval!«
Schwach, wie ich noch war, wurde ich vom Schmerz überwältigt, als ich diesen Namen hörte, und aus meinen Augen floß ein heißer Tränenstrom.
»Es ist leider wahr, lieber Vater,« entgegnete ich, »daß ein Unstern über mir schwebt, und ich scheine für ein ganz besonderes Schicksal bestimmt zu sein, sonst wäre ich am Sarge Henrys sicherlich gestorben.«
Allzulange war es uns nicht vergönnt beisammen zu bleiben, denn meine noch sehr schwache Gesundheit gebot äußerste Vorsicht. Herr Kirwin trat ein und riet mir, mich nicht allzusehr anzustrengen. Aber mein Vater war mein guter Engel gewesen und seiner Anwesenheit hatte ich meine Genesung zu verdanken.
Wenn auch meine Krankheit gewichen war, so konnte ich doch einer tiefen Melancholie nicht Herr werden. Ich sah immer noch Clerval vor mir, tot und bleich. Oftmals erregte mich die Erinnerung so stark, daß meine Freunde einen Rückfall befürchteten. Warum auch sorgten sie so für mein zerstörtes, elendes Dasein? Sicherlich nur deswegen, daß ich meinem Schicksal nicht entgehen konnte, das sich nun seiner Erfüllung näherte. Bald, sehr bald wird der Tod kommen und mich von der Qual befreien, die mich zu Boden drückt. Damals war die Aussicht zu sterben sehr gering, und oft sehnte ich mich nach einem elementaren Ereignis, das mich und meinen Feind zu Staub zermalmte.
Unterdessen kam der Tag der Verhandlung näher. Ich war schon drei Monate im Gefängnis, und wenn ich mich auch vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte, so mußte ich doch eine Reise von nahezu hundert Meilen unternehmen, um die Hauptstadt der Grafschaft zu erreichen, wo der Gerichtshof tagte. Herr Kirwin hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, Entlastungszeugen für mich beizubringen und mir einen tüchtigen Verteidiger zu besorgen. Allerdings blieb es mir erspart, als Angeklagter vor dem Gericht zu erscheinen, das über Leben und Tod entschied. Die vorsitzenden Richter hatten die Anklage fallen lassen, da erwiesen war, daß ich zu der Zeit, als der Leichnam meines Freundes gefunden ward, mich auf einer der Orkneyinseln aufhielt. Vierzehn Tage später war ich frei.
Mein Vater war überglücklich, daß ich den Qualen eines Verhörs entgangen war, daß ich wieder frische Luft atmen und bald in mein Heimatland zurückkehren durfte. Ich konnte mich nicht in gleichem Maße freuen, denn in meinem Gemütszustande war mir das Leben verhaßt, ob mich die Mauern eines Gefängnisses oder eines Palastes umgaben. Mein Dasein war auf ewig vergiftet; und wenn mir auch die Sonne leuchtete, wie all den frohen, glücklichen Menschen um mich her, so umgab mich doch ein undurchdringliches Dunkel, durch das mir zwei Augen entgegenstarrten. Einmal waren es Henrys ausdrucksvolle Augen mit den langen, dunklen Wimpern, die im Tode gebrochen waren, ein andermal meinte ich die wässerigen Augen meines bösen Dämons zu erkennen.
Mein Vater suchte mich auf jede Weise zu zerstreuen. Er erzählte mir von Genf, das ich nun bald wiedersehen sollte, von Elisabeth und von Ernst. Aber meine einzige Antwort waren tiefe, bange Seufzer. Zuweilen empfand ich wieder etwas wie Sehnsucht nach Glück und dachte in schmerzlicher Freude an meine Geliebte; oder ich verlangte in furchtbarem Heimweh den blauen See und den reißenden Rhon wiederzusehen, die mir von meiner Kinderzeit her lieb und vertraut waren. Meistens aber befand ich mich in einem Zustande starrer Gleichgültigkeit, der nur selten mit Ausbrüchen wilder Verzweiflung abwechselte. Oftmals faßte ich in solchen Augenblicken den Entschluß, meinem verhaßten Dasein ein Ende zu machen, und es bedurfte fortgesetzter Überwachung, um mich von dem letzten Schritt abzuhalten.
Nur das Bewußtsein einer Pflicht hielt mich schließlich davon ab, in meinem Egoismus den Qualen mich zu entziehen. Ich mußte unverweilt nach Genf zurückkehren, um über das Leben derer zu wachen, die mir lieber waren als alles auf der Welt. Ich mußte dem Mörder auflauern, denn ich wollte unbedingt das häßliche Gebilde, dem ich eine noch häßlichere Seele eingehaucht, zerstören, wenn es mir gelang, seinen Aufenthalt ausfindig zu machen oder wenn es wagte, mir noch einmal gegenüber zu treten. Mein Vater allerdings wünschte mit der Abreise noch zu warten, weil er fürchtete, daß ich den Anstrengungen der Reise nicht gewachsen sei. Denn ich war tatsächlich ein Wrack, nur ein Schatten meiner selbst, ein Skelett. Und heftige Fieber rüttelten immer wieder an meinem schwachen Körper.
Da ich aber so sehr drängte, Irland zu verlassen, hielt es mein Vater schließlich doch für das beste, nachzugeben. Wir machten die Reise an Bord eines Seglers, der nach Havre gehen sollte, und gingen vor einer frischen Brise in See, fort von der irischen Küste. Es war Mitternacht. Ich lag auf Deck, sah in die Sterne über mir und lauschte dem Plätschern der Wellen an den Schiffsplanken. Ich war froh, daß das Dunkel bald die Gestade Irlands meinen Blicken entzog, und mein Herz pochte stürmisch, wenn ich daran dachte, daß die Heimat vor mir lag. Das Vergangene erschien mir dann wie ein düsterer Traum; aber das Schiff, auf dem ich mich befand, der Wind, der von dem verwünschten Irland her wehte, die Wasser rings um mich erzählten mir mit zwingender Sprache, daß alles Wahrheit sei, daß mein geliebter Clerval, mein treuester Freund, meiner wahnwitzigen Schöpfung und damit mir zum Opfer gefallen war. Mein ganzes Leben ließ ich in meinen Gedanken vor mir vorüberziehen: mein stilles Glück, als ich noch im Schoße meiner Familie in Genf weilte; den Tod meiner Mutter und meine Abreise nach Ingolstadt. Ich erinnerte mich mit Schrecken des übernatürlichen Eifers, der mich immer wieder anstachelte, meinen schlimmsten Feind zu schaffen, und der Nacht, in der das Ungetüm Leben gewann. Weiter vermochte ich nicht mehr zu denken, sondern ich weinte bittere Tränen.
Seit ich von meinem Fieber einigermaßen wiederhergestellt war, hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend eine Dosis Laudanum zu mir zu nehmen, um auf diese Weise den zur Erhaltung meines Lebens nötigen Schlaf zu ermöglichen. Da ich durch die Erinnerung an das Vergangene besonders erregt war, hatte ich an jenem Abend die doppelte Dosis eingenommen und schlief einen tiefen, bleiernen Schlaf. Von meinen Gedanken und Ängsten vermochte er mich ja nicht ganz zu befreien, denn auch im Traume quälten mich alle erdenklichen Dinge. Gegen Morgen legte es sich auf mich wie ein Alb. Ich fühlte den harten Griff meines Dämons an der Kehle und hatte nicht die Kraft, mich loszumachen; Weinen und Seufzen klang in meinen Ohren. Mein Vater, der mich bewachte, hatte gemerkt, daß ich unruhig war, und weckte mich. Eintönig schlugen die Wogen an den hölzernen Leib des Schiffes; der Himmel über uns war bedeckt. Mein Dämon war nicht hier. Das Bewußtsein, daß jetzt in meinen Schicksalen eine Ruhepause eingetreten sei, gab mir ein Gefühl der Sicherheit, das ich schon lange nicht mehr kannte. Auf meine Seele senkte sich der Zustand friedlichen Vergessens hernieder, dem der Mensch ja besonders zugänglich ist.