Der entwendete Brief - 02
»Da haben Sie also«, sagte Dupin zu mir, »genau das, was Sie als Bedingung für das Übergewicht für erforderlich halten: der Räuber weiß, daß der Beraubte ihn als den Räuber kennt.«
»Ja«, entgegnete der Präfekt; »und die derart erlangte Gewalt wird nun schon seit Monaten in gefährlichem Umfang zu politischen Zwecken ausgenutzt. Die bestohlene Person erkennt mit jedem Tag mehr die Notwendigkeit, den Brief zurückzuerlangen. Das kann aber natürlich nicht offen geschehen. In ihrer Verzweiflung hat sie schließlich mir die Angelegenheit übertragen.«
»Denn wie hätte sie sich«, sagte Dupin und stieß eine gewaltige Rauchwolke aus, »einen scharfsinnigeren Vermittler wünschen oder auch nur vorstellen können!«
»Sie schmeicheln«, entgegnete der Präfekt, »aber es ist möglich, daß eine solche Ansicht vorlag.«
»Es ist, wie Sie selbst bemerkt haben, klar«, sagte ich, »daß der Brief sich noch in den Händen des Ministers befindet; denn dieser Besitz und nicht etwa eine Anwendung des Briefes ist es, was Macht verleiht. Mit der Ausbeutung des Briefes ist die Macht dahin.«
»Sehr wahr«, sagte G.; »und von dieser Überzeugung ging ich aus. Meine erste Sorge war, das Palais des Ministers gründlich zu durchsuchen. Die Schwierigkeit lag nun darin, dies ohne sein Wissen zu bewerkstelligen. Ich wurde nämlich vor der Gefahr gewarnt, die daraus entstehen würde, wenn er unsere Absicht argwöhnte.«
»Nun«, sagte ich, »Sie sind in solchen Nachforschungen ja durchaus bewandert. Die Pariser Polizei hat dergleichen schon oft vorgenommen.«
»Ja, gewiß; und darum verzweifelte ich auch nicht. Überdies boten mir die Lebensgewohnheiten des Ministers einen großen Vorteil. Er ist oft die ganze Nacht nicht zu Hause. Seine Dienerschaft ist keineswegs zahlreich. Ihre Schlafzimmer liegen in ziemlicher Entfernung von den Wohnräumen des Herrn. Die Leute sind übrigens zum großen Teil Napolitaner und daher leicht betrunken zu machen. Wie Sie wissen, habe ich Schlüssel, mit denen ich jedes Zimmer in Paris öffnen kann. Seit drei Monaten ist kaum eine Nacht vergangen, in der ich nicht mehrere Stunden lang persönlich das D.sche Palais durchstöbert hätte. Meine Ehre steht auf dem Spiel, und – ganz im geheimen! – die Belohnung ist ungewöhnlich hoch. Ich gab also die Suche nicht eher auf, als bis ich vollkommen davon überzeugt war, daß der Dieb schlauer sei als ich. Ich habe sicherlich jede Ecke und jeden Winkel durchforscht, in dem nur irgend das Papier versteckt sein konnte.«
»Aber ist es nicht vielleicht möglich«, mutmaßte ich, »daß der Minister den Brief anderswo als in seinem eigenen Hause verborgen hat?«
»Das ist kaum möglich«, sagte Dupin. »Die gegenwärtige Lage der Dinge bei Hofe und vor allem jene Intrigen, in die D., wie man weiß, verwickelt ist, lassen die jederzeitige sofortige Verwendbarkeit des Dokumentes – die Möglichkeit, es immer vorweisen zu können – als einen ebenso wichtigen Punkt erscheinen, wie der Besitz desselben es ist.«
»Die Möglichkeit, es vorzuweisen?« fragte ich.
»Nämlich, um es gleich vernichten zu können«, sagte Dupin.
»Ja, das ist richtig«, bemerkte ich. »Das Papier ist also bestimmt im Hause. Daß der Minister dasselbe etwa beständig bei sich trage, kommt wohl gar nicht in Frage.«
»Nein«, sagte der Präfekt. »Er ist zweimal von meinen Leuten in der Maske von Straßenräubern angefallen und unter meinen eigenen Augen gründlich durchsucht worden.«
»Diese Mühe hätten Sie sich sparen können«, sagte Dupin. »D. ist, denke ich, kein ganzer Narr und muß daher solche Überfälle vorausgesehen haben.«
»Wohl nicht ein ganzer Narr«, sagte G., »aber er ist ein Dichter, und solche Leute stehen den Narren nicht allzufern.«
»Gewiß«, sagte Dupin nach einem nachdenklichen langen Zug aus seiner Meerschaumpfeife, »obschon auch ich hie und da Knüttelverse verbrochen habe.«
»Wie wäre es«, fragte ich, »wenn Sie uns die Einzelheiten Ihrer Suche darlegen würden?«
»Schön. Die Sache ist die, daß wir uns Zeit ließen und überall suchten. In solchen Dingen habe ich große Erfahrung. Ich nahm das ganze Haus vor, Zimmer nach Zimmer; und jedem einzelnen widmete ich die Nächte einer ganzen Woche. Zunächst untersuchten wir in jedem Raum die Möbel. Wir öffneten alle möglichen Schubfächer; ich nehme an, Sie wissen, daß es für einen gut geschulten Polizeiagenten so etwas wie ein Geheimfach nicht gibt. Der Mann, dem bei einer solche Suche ein ›Geheim‹fach entgeht, ist ein Tölpel. Die Sache ist ja so einfach! Da ist doch der Raum, der Umfang, den man bei jedem Schreibtisch im Auge haben muß. Es ist doch nicht schwer zu berechnen, ob der von außen sichtbare Raum eines Möbels von den Fächern wirklich ausgefüllt wird. Und dann haben wir unsere ganz bestimmten Regeln. Nicht der fünfzigste Teil einer Linie könnte uns entgehen! Nach den Schreibtischen und Kommoden nahmen wir die Stühle vor. Die Sitze untersuchten wir mit den dünnen langen Nadeln, die Sie mich gelegentlich schon anwenden sahen. Von den Tischen entfernten wir die Platten.«
»Warum das?«
»Die Person, die einen Gegenstand zu verbergen wünscht, tut das manchmal in der Weise, daß sie die Platte eines Tisches oder ähnlichen Möbelstückes entfernt, ein Bein desselben aushöhlt, den Gegenstand in die Höhlung legt und die Platte wieder aufsetzt. In derselben Weise benutzt man die Füße und Knäufe der Bettpfosten.«
»Konnte man so eine Höhlung nicht durch Klanguntersuchung entdecken?« fragte ich.
»Unmöglich, falls der Gegenstand beim Hineinlegen genügend in Watte gebettet wurde. Übrigens waren wir in diesem Fall genötigt, geräuschlos vorzugehen.«
»Aber Sie konnten doch unmöglich alle Möbelstücke auseinandernehmen, in denen ein Versteck, wie Sie es soeben beschrieben haben, hätte angelegt sein können! Ein Brief kann spiralförmig so dünn zusammengerollt werden, daß er in Form und Umfang nicht anders ist als eine große Stricknadel, und in solcher Form könnte er z. B. bequem in einer ganz dünnen Stuhlleiste untergebracht werden. Sie nahmen doch wohl nicht alle Stühle auseinander?«
»Gewiß nicht; aber wir taten etwas Besseres – wir prüften sämtliche Stuhlleisten und überhaupt die Verbindungsstellen sämtlicher Möbel im Hause mit Hilfe eines sehr starken Vergrößerungsglases. Wäre irgendwo die geringste Spur einer jüngst vorgenommenen Veränderung gewesen, so hätten wir sie unfehlbar entdecken müssen. Ein einziges Körnchen Holzmehl z. B. wäre unserm bewaffneten Auge in der Größe eines Apfels erschienen. Jede Verschiebung an den zusammengeleimten Stellen – ein ungewöhnliches Klaffen der Fugen – hätte genügt, eine Entdeckung herbeizuführen.«
»Ich nehme an, daß Sie auch die Spiegel zwischen Rückwand und Glasplatte untersuchten sowie die Betten und Leintücher, Vorhänge und Teppiche.«
»Natürlich; und nachdem wir auf diese Weise jeden Einrichtungsgegenstand untersucht hatten, nahmen wir das Haus selbst in Angriff. Wir teilten sämtliche Wand- und Bodenflächen in Felder ein, die wir numerierten, so daß keines übersehen werden konnte. Dann durchforschten wir jeden Quadratzoll des Hauses und der beiden Nachbarhäuser mit dem Mikroskop.«