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SWR2 Wissen, Was der Mensch beim Spielen lernt

Was der Mensch beim Spielen lernt

MANUSKRIPT

Sprecher:

1990 spielten noch drei Viertel der Kinder in Deutschland nach der Schule im Freien. Vor ein paar Jahren war es nur noch ein Viertel. Die Zeit, die Kinder draußen und mit freiem Spiel verbringen, ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich geschrumpft. Ein weltweiter Trend, der Entwicklungspsychologen und Pädagogen alarmiert. Denn wenn Kinder sich in ihre Spiele vertiefen, entwickeln sie ihre Persönlichkeit und erlernen wichtige Fähigkeiten fürs Leben.

Ansage: Was der Mensch beim Spielen lernt. Eine Sendung von Christina Bergengruen.

O-Ton 1 André F. Zimpel: Für eine gesunde Gehirnentwicklung brauchen Kinder ca. 8 Stunden Flow am Tag. Ganz einfach deshalb, weil ihr Gehirn sich im Wachstum befindet. Sie verfügen über unglaublich viele Neuronen und Nervenverbindungen, die geordnet werden müssen.

Sprecher: Mit dem Begriff „Spielen“ meint Psychologe und Erziehungswissenschaftler Professor André Frank Zimpel von der Universität Hamburg das freie, von Kindern selbst initiierte und selbst organisierte Spiel. Nicht unter diesen Begriff fallen für Spiel- Psychologen zum Beispiel Lernspiele, Gesellschaftsspiele oder PC-Spiele. Denn freies Spielen ist spontan. Die Kinder bestimmen dabei das Thema und die Regeln selbst.

O-Ton 2 André F. Zimpel: Wenn ich irgendetwas vorgebe und sage: Also hier ist ein Sandkasten, mach dort etwas, dann ist es schon kein Spiel mehr. Dann ist es für das Kind eine Aufgabe, die es lösen soll. Was Spiel ist, bestimmt radikal die Person selbst. Weil die intrinsische Motivation ist das, was das Spiel definiert. Dass ich Freude an dem Tun habe.

Sprecher: Es gibt viele Gründe für den Verlust von Spielzeit. Gestresste Familien, fehlende Grünflächen in der Stadt, viel Zeit an Handy und PC. Dazu kommt, dass selbst kleine Kinder oft schon volle Terminkalender haben.

O-Ton 3 Isabell: Ich sehe es immer wieder, ich bin Friseurmeisterin, wenn ich Termine vereinbare für die Kinder, wenn ich da immer höre: Donnerstag können wir nicht, da haben wir Turnen, Mittwoch können wir nicht, da haben wir Ballett, Dienstag ist noch Reiten.

Wann können denn die Kinder einfach mal spielen und frei sein oder draußen in der Natur toben?

Sprecher: Isabell ist Mutter der dreijährigen Frieda und arbeitet als Friseurin in einem teuren Hamburger Stadtteil. Dort hat sie vor allem wohlhabende Eltern und deren Kinder als Kunden. Unabhängig vom sozialen Milieu ist schon die Freizeit der Kleinsten oft durchgetaktet. Vier feste Freizeitaktivitäten haben Kinder zwischen 3 und 12 Jahren pro Woche im bundesweiten Durchschnitt. Da bleibt wenig Zeit für freies Spielen.

Dabei hat die Evolution genau das für Kinder vorgesehen.

O-Ton 4 Franca Parianen: Also, es gibt diverse Tierarten, die spielen, eigentlich fast alle, und wir haben quasi einen Deal gemacht und gesagt: Wir bekommen diesen wahnsinnig hilflosen Nachwuchs, aber der ist dafür in der Lage, nach der Geburt noch sein Gehirnwachstum zu erweitern und sich flexibel anzupassen an die Welt. Und gerade die Spezies, die das machen, spielen sehr viel.

Sprecher: Neurowissenschaftlerin und Buchautorin Dr. Franca Parianen hat sich viel mit dem Spielen und seinen Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben beschäftigt. Unser evolutionäres Programm, sagt sie, hat eigentlich sogar eine vergleichsweise lange Spielphase vorgesehen.

Forts. OT 4 Franca Parianen: Das bedeutet, dass man schon davon ausgehen kann, das Spiel auch ne Art ist, dieses flexible Herangehen an die Welt auszuprobieren.

O-Ton 5: Atmo Greta und Luise, leiser werdend, darüber:

Sprecher: Freies Spielen trainiert das menschliche Gehirn. Und es bereitet den Körper und die Psyche auf die vielfältigen Anforderungen des menschlichen Lebens in verschiedensten Lebensräumen vor. Das Hirn ist gerade bei dieser Art des Spielens besonders aktiv und lernt besonders gut.

O-Ton 6 Franca Parianen: Es gibt diese sehr plastischen Zustände in unserem Gehirn, die durch bestimmte Hormone angeregt werden, und im Spiel erreichen wir diesen sehr plastischen Zustand, in dem wir besonders gut neue Verbindungen aufbauen und alte Verbindungen abbauen können.

Sprecher: Spaß und Glücksgefühl sind beim freien Spielen ganz zentral – und sie lassen sich messen.

O-Ton 7 Franca Parianen: Wenn ein Verhalten, das wir gemacht haben, das gewünschte Ergebnis hat, und wir bekommen eine positive Bestätigung, dann schütten wir Dopamin aus, was dafür sorgt, dass das Gehirn merkt: Ah, da hat irgendetwas gut geklappt. Wir schütten Opioide aus, die uns ein gutes Gefühl geben, ein Rauschgefühl. Und wir vernetzen die Zellen, die dafür verantwortlich sind.

Sprecher: Beim freien, lustvollen Spielen ohne Vorgaben oder Anleitung durch Erwachsene, bei dem Kinder Spiele selbst erdenken und umsetzen, erwerben sie sogenannte exekutive Funktionen. Das sind grundlegende geistige Fähigkeiten, mit deren Hilfe der Mensch seine Emotionen, Gedanken und sein Handeln steuert. Kinder haben einen angeborenen Forscherdrang, in den Erwachsene nicht ständig eingreifen sollten, meint die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen. Außerdem böte das freie Spiel die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was und wie gespielt wird.

O-Ton 8 Franca Parianen: Der Kontrollverlust, den ich ja ständig habe als Kind mit Erwachsenen: Ich darf nicht entscheiden, wann ich ins Bett gehe, ich darf nicht wirklich entscheiden, was gemacht wird oder wann es nach Hause geht, das ist einfach ne Situation, in der Kinder sehr wenig Kontrolle erfahren.

O-Ton 9: Atmo Julian und Linnea beim Spielen mit Luftballon, leiser, darüber:

Sprecher: Beim Spielen machen Linnea und Julian, worauf sie Lust haben. Gerade werfen sich die dreieinhalbjährigen Zwillinge einen Ballon zu. Sie testen, ob sie den Ballon auch schlagen oder in einer Drehung um die eigene Achse auffangen können. Ohne es zu merken, werden die beiden immer besser darin, den Ballon zu fangen. Was sie dabei lernen, nennen Erziehungswissenschaftler wie André Zimpel Selbstwirksamkeit. Die Kinder setzen eine eigene Spielidee um und schaffen so eigene Erfolgserlebnisse.

O-Ton 10 André F. Zimpel: Kinder haben die angeborene Fähigkeit, sich im freien Spiel Aufgaben zu suchen, die sie weder überfordern noch unterfordern. Und damit sichern sie sich natürlich die Erfolgserlebnisse, die führen natürlich dann zu einer gewissen Selbstsicherheit. Also wir haben es mit Personen zu tun, die viel selbstsicherer auftreten als andere.

Sprecher: Diese Selbstsicherheit ist eng verknüpft damit, dass das Kind sich selbst immer besser kennen lernt. In den unterschiedlichsten Spielszenarien erkennt es seine eigenen Grenzen, aber auch seine ureigenen Interessen und Stärken. Wenn Kinder es gewohnt sind, ihre Interessen eigenständig und erfolgreich beim Spielen zu verfolgen, führt das später zu Ausdauer und Geduld auch beim Lernen. Weder geführter Sport noch Lernspiele können das erreichen. Neurowissenschaftlerin Franca Parianen:

O-Ton 11 Franca Parianen: Wenn wir vergleichen, Kindertagesstätten mit nem starken Spielprogramm oder Kindertagesstätten mit nem Programm, das sehr stark vorgegeben ist, wo die Kinder die ganze Zeit immer wissen, was sie tun müssen, dann macht das einen Unterschied für die sozial-emotionale Entwicklung. Tatsächlich gibt es sogar eine Studie, die unterschiedliche Schulleistungen findet.

Sprecher: Diese Studie der US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler Darling-Hammond und Snyder fand 1992 bei Kindern aus deutschen Kindertagesstätten mit viel freiem Spiel einige Jahre später ein höheres Leistungsniveau. Sie konnten, im Gegensatz zu Kindern mit viel Programm in der Kita, in der vierten Grundschulklasse besser lesen und rechnen.

O-Ton 12: Emma beim Rollenspiel mit ihrer Puppe, mit der sie Situationen nachstellt, leiser werdend

Sprecher: Die dreijährige Emma spielt gerne stundenlang Rollenspiele mit ihrer Puppe. Beim Spielen verarbeitet sie Ereignisse aus ihrem Alltag und baut ein, was sie beschäftigt. Dass sie bald ein Brüderchen bekommt, zum Beispiel. Oder dass ihre Eltern ihr etwas verboten haben.

O-Ton 13: Emma, wie sie der Puppe sagt, was sie tun soll.

Sprecher: Im Spiel lernt Emma auch, negative Ereignisse oder Gefühle zu verarbeiten und versetzt sich in andere hinein. Ihre Mutter Miriam ist immer wieder begeistert von den Rollenspielen ihrer Tochter.

O-Ton 14 Miriam: Besonders beeindruckend finde ich auch die Phantasie, mit der sie ihre Spiele spielt; sie taucht dann teilweise über den Zeitraum von einer Stunde oder länger komplett in eine andere Welt ab, in der sie sämtliche der darin enthaltenen Menschen und/oder Tiere spielt, selber, und zwischen diesen Rollen hin und her switcht. Sie spielt mit einer Konzentration, sie spielt mit einer Überzeugung, und man könnte fast meinen, sie geht wirklich davon aus, dass das, was da gerade gespielt wird, tatsächlich auch Realität ist.

Sprecher: Wenn Kinder beim freien Spielen in fiktive Welten abtauchen, entwickeln sie ihre Phantasie weiter. Also die Fähigkeit, sich Dinge, die man nicht sieht, möglichst anschaulich vorstellen zu können. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Psychologen davon aus, Phantasie diene nur der oberflächlichen Erbauung und Unterhaltung, habe aber mit dem Lernen nichts zu tun. Diese Ansichten sind längst widerlegt. Eine gute Phantasie hilft Kindern später in ganz anderen Bereichen, etwa abstrakte Prinzipien zu erkennen oder mathematische Formeln zu verstehen. Spielforscher und Erziehungswissenschaftler André Zimpel.

O-Ton 15 André F. Zimpel: Unsere Untersuchungen zeigen immer wieder, dass wenn Kinder Lernschwierigkeiten haben, dass das immer in einem Mangel an Phantasie begründet. Also wir können immer zeigen, dass wir da an der Phantasieentwicklung arbeiten müssen.

Sprecher: Phantasievolles Spiel schult außerdem das Durchhaltevermögen eines Menschen und fördert seine Motivation. Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Professorin Simone Kühn leitet die Arbeitsgruppe Neuronale Plastizität am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und beschäftigt sich viel mit dem Lernen im Spiel.

O-Ton 16 Kühn: Erstmal ist es unheimlich wichtig, dass man sich das Endergebnis von etwas vorstellen kann, damit ich durchhalten kann. Damit ich am Ende einen Schulabschluss habe, muss ich mir vorstellen können: Wie ist das dann am Ende? Das heißt: Mangelnde Vorstellungskraft, ganz generell, ist ein Problem, weil ich mir das Ziel nicht vor Augen halten kann.

Sprecher: Dass freies Spielen eine Reihe wichtiger Fähigkeiten schult, heißt aber nicht, dass man Kinder immer und überall nur sich selbst überlassen sollte.

Wenn Erwachsene oder ältere Kinder die Kleineren beim freien Spielen inspirieren, kann das neue Entwicklungsschritte bahnen. André Zimpel:

O-Ton 17 André F. Zimpel: Alle Spielthemen, die sich Kinder suchen, stammen aus der Nachahmung. Also ein Kind will am Strand eine wunderbare Sandburg bauen und die stürzt immer wieder ein und ein älteres Kind oder ein Erwachsener kommt dazu und zeigt, wie man vielleicht mit Wasser den Sand etwas haftfähiger machen kann, das ist dann das

„Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung“ und am nächsten Tag macht das Kind das von allein.

Sprecher: Am produktivsten ist, wie so oft, die gesunde Mischung, sagt auch die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen.

O-Ton 18 Franca Parianen: Tatsächlich gibt es, wenn man jetzt vergleicht: „Freies Spielen an sich - Kinder spielen die ganze Zeit nur vor sich hin“ oder „sie kriegen ab und zu auch Anregungen von außen“, die besseren Ergebnisse für diese Mischform. Dass wir gemeinsam lernen oder dass wir dem Kind Anregungen geben, da spricht überhaupt nichts gegen. Wichtig ist nur, dass man ab und zu Freiräume lässt, um auch zu sagen: Okay, jetzt ist einfach nur Spielzeit.

Sprecher: Was passiert, wenn ein Mensch nur wenig oder überhaupt nicht freispielt? Spielmangel oder Spielentzug haben immer gravierende Konsequenzen für das spätere Leben, sagt Spielforscher und Erziehungswissenschaftler André Zimpel. Experimente mit verschiedenen Tierarten zeigten, wie wichtig Spielen sei für das soziale Miteinander einer Gruppe, eines Schwarms oder Rudels.

O-Ton 19 André F. Zimpel: Im Tierversuch bei Säugetieren, bei Vögeln und sogar bei einigen Reptilien kann man nachweisen, dass das freie Spiel die Voraussetzung für das spätere Sozialverhalten darstellt.

Sprecher: Tiere, die zu wenig spielten, zeigten immer Verhaltensstörungen. Und beim Menschen scheint sich das ähnlich auszuwirken.

Der US-amerikanische Arzt und Psychiater Stuart Brown ist Gründer des

kalifornischen „National Institute for Play“. Seit 1966 hat er das Spielverhalten von mehr als 6.000 Erwachsenen untersucht. Sein Ergebnis: Amokläufer und Mörder hatten in ihrer Kindheit durchweg vergleichsweise wenig soziale Spielerfahrungen gesammelt. Zwar wird nicht jeder kriminell, der als Kind wenig spielt. Aber die Zeit und die Qualität der gespielten Spiele in der Kindheit wirken sich auf jeden aus. In der Zeitschrift „Journal of Play“ schreibt Stuart Brown 2009:

Zitator: Bei Kindern, die nicht spielen, zeigt sich der Schaden vor allem in Form eines Mangels an Resilienz und in einer eingeschränkten Neugier. Diese Kinder haben auch Schwierigkeiten bei der Regulierung angemessener Emotionen. Menschen, die unter Spielentzug leiden tendieren dazu, unflexibel zu sein, besonders, wenn etwas Überraschendes passiert. Nichtspieler verfügen über ein eingeschränktes Repertoire an Reaktionen und neigen dazu, Überraschung durch Schock, Angst oder Aggression zu ersetzen.

Sprecher: Wenn diese Flexibilität im Denken nicht durch freies Spielen trainiert würde, seien Menschen später in schwierigen Situationen schneller überfordert und würden eher krank, sagt Brown. Verschiedene Veröffentlichungen anderer Wissenschaftler bringen den alarmierenden Anstieg von psychischen Störungen und Erkrankungen auch damit in Verbindung, dass Kinder im Vergleich zu früheren Generationen immer weniger frei spielten. Spielforscher André Zimpel:

O-Ton 20 André F. Zimpel: Dadurch entstehen auch ganz neue psychische Krankheitsbilder, die früher gar nicht bekannt waren, also ich denke da an Burnout und Boreout und solche Syndrome, die sind relativ neu. Auch Suizide sind oft verursacht durch mangelnde Phantasie und mangelnde Flexibilität im Leben. Und die Anforderungen an Flexibilität sind unglaublich gestiegen.

Sprecher: Der Psychiater Brown untersuchte neben Mördern und Amokläufern auch die Lebensläufe von sehr erfolgreichen und kreativen Menschen. Und er fand auch dort ein verbindendes Element: Denn diese Menschen hatten als Kinder offenbar besonders ausgiebig und phantasievoll gespielt.

O-Ton 21: Atmo Julian und Linnea, leise, darüber:

Sprecher: Die dreieinhalbjährigen Zwillinge Julian und Linnea wollen heute die Platte ihres Kindertisches gemeinsam anmalen. Abwechselnd legen sie sich hin und verschönern die Tischplatte von unten mit Buntstiften. Ein Zwilling wählt die Farben der Malstifte aus und reicht sie dem jeweils anderen, der gerade mit Malen dran ist.

Forts. OT 21: Jetzt wieder lauter: Linnea und Julian beim Zusammenspielen, die nächsten Abschnitte darüber

Sprecher: Das Spiel verlangt von den beiden Vorschulkindern bereits ein fortgeschrittenes Sozialverhalten. Noch nicht mal vier Jahre alt, praktizieren die beiden erfolgreich Arbeitsteilung. Zusammen müssen sie das Spiel am Laufen halten. Keiner der beiden läuft weg, setzt einseitig seine Vorstellungen durch oder weigert sich, sich beim Malen abzuwechseln.

O-Ton 22 André F. Zimpel: Die Impulskontrolle ist eigentlich die Haupt-Aufgabe beim Spielen. Wir können in der Forschung zeigen, dass die Spiele immer ausgedehnter werden und das Spielergebnis immer weiter herausgeschoben wird. Also im Spiel üben Kinder freiwillig Impulskontrolle. Und die Impulskontrolle, das hat ein Kollege in Standford, Walter Mischel, untersucht bei 700 Kindern, ist für eine gesunde Lebensweise, für Erfolg im Beruf, für gelingende Partnerschaften, ganz zentral. Auch beim schulischen Lernen ist es sehr wichtig, Impulse zu unterdrücken.

Sprecher: Und noch eine andere Fähigkeit üben die Zwillinge Linnea und Julian bei ihrem Mal- Spiel trotz ihres jungen Alters: Sie sind sehr konzentriert bei der Sache.

O-Ton 23 André F. Zimpel: Die Gyri Cinguli, das sind also so kreisförmige Gehirnwülste, die um das limibsche System sich so herumlegen, die haben damit zu tun, wie lange man sich konzentrieren kann. Es gibt direkte Korrelationen mit der Zeit, in der Kinder ungestört spielen, dass sich diese Hirnstruktur entwickelt.

O-Ton 24: Atmo Jesse & Freunde spielen draußen Sprecher: Kinder und Jugendliche in Deutschland sind heute im Schnitt nur noch eine halbe Stunde täglich in Bewegung. Zwar sind viele in Sportvereinen angemeldet. Aber einmal pro Woche Hockeytraining oder Kinderballett können den Bewegungsmangel nicht aufwiegen. Die motorischen Defizite sind für sich genommen schon beunruhigend genug. Sie ziehen aber auch Defizite beim Lernen nach sich.

O-Ton 25 André F. Zimpel: Also wir neigen oft dazu, die Dinge zu trennen. Wir reden von körperlich-motorischer Entwicklung und trennen die von der kognitiv-emotionalen Entwicklung. Aber in Wirklichkeit hängt alles ganz eng zusammen. Kinder, die Erfolge im Bewegungslernen haben, die Schaffen dann meistens auch den Transfer in kognitive Aufgaben.

Sprecher: Freies Spielen, das heißt auch: die Eltern müssen nicht ständig dabei sein, nicht jeden einzelnen Schritt ihres Kindes kommentieren oder kontrollieren. Doch diesen Mut zum Risiko bringen immer weniger Eltern auf.

Auch Isabell und vor allem ihrem Mann, den Eltern der dreijährigen Frieda, fällt es nicht immer leicht, ihre Tochter einfach machen zu lassen.

O-Ton 26 Isabell: Es ist natürlich klar, dass Kinder auch in gefährliche Situationen kommen, auf Bäume klettern, über die Straße gehen alleine oder irgendwo runterspringen und sich verletzten können.

Sprecher: Viele Eltern versuchen, die Kleinen von allen Gefahren fernzuhalten. Dabei fördert der Umgang mit Gefahren und Ängsten die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Einige Wissenschaftler vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der mangelnden Risikobereitschaft, die einem Kind beim Spielen von seinen Aufsichtspersonen gestattet wird, und den Ängsten, die es als Erwachsener später entwickelt.

Forschungen, wie die der norwegischen Pädagogin und Spielforscherin Ellen Sandseter, bestätigen das. Sandseter ist überzeugt, Kinder sollten unbedingt den Umgang mit altersgemäßen Risiken lernen. So könnten sie sich rechtzeitig an den Umgang mit Stresshormonen gewöhnen. Gefährliche Situationen im freien Spielen zu meistern, habe sogar lebenslang einen anti-phobischen Effekt.

Neurowissenschaftlerin Franca Parianen:

O-Ton 27 Franca Parianen: Also, es ist wichtig, ab und zu diese Risiken einzugehen. Wenn wir den ersten Ballon poppen hören, dann reagieren wir noch mit nem Wahnsinnsschock, wenn wir den zweiten Ballon poppen hören: Ah, jetzt weiß ich, worum es hier geht. Dann lernen wir, wenn wir irgendwann mal ne Situation haben, wo wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen, dann frieren wir nicht ein, sondern wir lernen, damit umzugehen und zu handeln. Aber natürlich: Damit sowas erstmal passiert, muss ich ja ne Situation haben, wo ich Angst habe. Das heißt, wenn ich die ganze Zeit quasi in der Bauchtrage war bis zum 5. Lebensjahr, dann habe ich ja nie diese Erfahrung gemacht mit: Irgendwas macht mir Angst, jetzt kann ich zurückrennen und mich wieder beruhigen.

Sprecher: Untersuchungen von Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftlern wie Peter Gray oder Sergio Pellis legen nahe, dass Kinder, die beim Spielen gewissen Risiken ausgesetzt waren, später körperlich aktiver, aber auch psychisch gesünder und belastbarer sind. Die Forscher sind überzeugt, dass der heute massenhaft praktizierte risikovermeidende Erziehungsstil zur Verbreitung von psychischen Störungen in der Gesellschaft beiträgt.

Freies Spiel in den ersten Lebensjahren ist also in vielerlei Hinsicht gut und wichtig für die Entwicklung. Mit höherem Alter werden andere Spielformen wichtiger, zum Beispiel Lernspiele. Sie sind, anders als freie Spiele, an Aufgaben gebunden und können etwa im Schulunterricht eingesetzt werden.

O-Ton 28 Nike: Ich gebe Nachhilfe für SchülerInnen zwischen erster und zwölfter Klasse. Ich hab angefangen mit Nachhilfe, ohne richtige Kenntnisse zu haben, wie ich Unterricht gestalte. Und dann kam es vor, dass ich Schwierigkeiten hatte, die SchülerInnen zu motivieren, weil sie nicht freiwillig kommen, und dann hab ich angefangen, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, Stoff beizubringen.

Sprecher: Nike ist 24 und jobbt in der Berliner Dependance, einer bundesweiten Nachhilfeagentur. Sie gibt dort Einzel- und Gruppenunterricht. Dass die Konzentration bei den Teenagern, die sie unterrichtet, abfällt, merkt Nike oft daran, dass die Schüler ihre Handys rausholen oder langsamer werden.

Forts. OT 28 Nike: Und so hab ich dann - im Internet vor allem - gesucht, in Büchern gesucht nach Spielen, und gerade im Internet gibt es da viele verschiedenen Vorlagen, die man nutzen kann.

Sprecher: Lernspiele, auch didaktische Spiele genannt, bringen oft neuen Schwung. Spieltypische Elemente wie Raten, ein Wettstreit unter Mitspielern und unmittelbares Feedback oder der Reiz des Unerwarteten kommen zum Einsatz.

O-Ton 29 Nike: Zum Beispiel für die Jüngeren geht's dann darum, in Mathematik geht's darum Malfolgen, das kleine Einmaleins zu lernen, Addition, Subtraktion zu lernen, und gerade mit den Kleineren mache ich das oft sehr spielerisch, mache ich Spiele wie Bingo, oder so eine Art Mensch–ärgere-dich-nicht, wobei die Kinder dann weiterkommen, indem sie rechnen. Sprecher: Spaß und Dopaminausschüttung sorgen dafür, dass sich das spielerische Lernen nicht wie Üben anfühlt. Das Lernziel erscheint als positiver Nebeneffekt des Spiels. Besonders digitale Lernspiele können darin sehr effektiv sein. Die sogenannten Serious Games sollen nicht nur unterhalten, sondern bieten ein angenehmes Lernerlebnis. Ihr großes Plus: Sie passen sich individuell an das Niveau des Lernenden an und garantieren viele kleine Erfolgserlebnisse.

O-Ton 30: Atmo DRK-Seniorentreff „Haus Ottensen“, darüber folgender Sprechertext sowie die Erklärung von C. Ratjens:

Sprecher: Was für Kinder und Jugendliche gilt, trifft auch auf Menschen in höherem Alter zu. Im Seniorentreff Haus Ottensen treffen sich Nachbarn bei Leiterin Christiane Ratjens zu gemeinsamen Aktivitäten. Videospiele sind Teil des Programms.

Die 76-jährige Ilo und ihr Bekannter, der 81-jährige Jürgen, üben heute an einer virtuellen Bowlingbahn. Im Gegensatz zum richtigen Bowling können hier auch Senioren mitspielen, die nicht mehr so fit sind und etwa im Sitzen spielen müssen. Ilo und Jürgen sind zwar rüstig, aber auch für sie wäre eine echte Bowlingkugel zu schwer. Das Videospiel ermöglicht es ihnen, Konzentration, Körperkoordination und Gleichgewicht zu trainieren.

O-Ton 31 Christiane Ratjens: Man hat einen Joystick in der Hand, den hat man ums Handgelenk, damit man den nicht nachher in den Fernseher schmeißt. Statt einer Bowlingkugel hat man diese Fernbedienung in der Hand und man behandelt die genau wie einen Ball.

Forts. OT 30: Atmo Haus Ottensen

Sprecher: Die Besucher spielen an einer extra für ältere Menschen entwickelten Konsole, der MemoreBox. Hier kann man zum Beispiel mit vollem Körpereinsatz ein Autofahr- oder ein Zeitungsausträgerspiel spielen. Dabei trainiert man gleichzeitig Körperkoordination, Gleichgewicht, Gedächtnis und Reaktionsfähigkeit.

O-Ton 32: Atmo Autofahrspiel Haus Ottensen

Sprecher: Die technologische Entwicklung hat neue, hochinteressante digitale Lernspiele hervorgebracht. Sie trainieren Menschen in der Aus- und Fortbildung oder auch im gesamten Rehabereich. Das Lernen damit funktioniert in jedem Alter.

Neurowissenschaftlerin Simone Kühn.

O-Ton 33 Simone Kühn: Mittlerweile wissen wir, dass man nicht nur Zellen verliert, sondern auch wieder welche neu bilden kann, dass es wahnsinnige Umstrukturierungsprozesse auch noch im Erwachsenenalter gibt, also nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Insofern macht es absolut Sinn, dass auch Erwachsene spielen. Je mehr man sich beschäftigt mit einer Sache, desto mehr kann das Hirn auch wachsen.

Sprecher: Simone Kühn, die sich bei ihren Forschungen oft von der besonderen Wirksamkeit von Lerngames überzeugen konnte, glaubt trotzdem nicht, dass deren Bonus-Prinzip das freie Spiel im Kindesalter ersetzen kann.

O-Ton 34 Simone Kühn: Das macht mir ein bisschen Angst, muss ich sagen, mit diesem derzeitigen Gamifizierungswahn, wenn man das so sagen darf. Ich glaube schon, dass wenn man jetzt Kinder selektiv darauf trainiert, dass sie sozusagen immer den nächsten Bonus kriegen, immer das nächste Sternchen gewinnen müssen und so, dass man dann darauf trainiert, dass es sofort Feedback geben muss. Und in der normalen Welt es leider oft sehr lange dauert. Und ich glaub schon, dass man da so‘n bisschen fehlerziehen kann.

Sprecher: Auch was den kindlichen Bewegungsmangel angeht, so sind der Gamifizierung des Lernens bei Kindern Grenzen gesetzt. Kreative Problemlöser, tatkräftige, ausdauernde und selbstbewusste Erwachsene bringt wohl eher freies Spiel in der Natur hervor. Und so denkt auch Rentnerin Ilo, die im Alter die Vorzüge des virtuellen Spiels nutzt, gerne an ihre Spielerlebnisse in den 1940er und 50er Jahren zurück.

Sie selbst war zwar Einzelkind …

O-Ton 35 Ilo: Aber auf der Straße spielten alle Kinder, und das waren ne ganze Menge Kinder. Wir spielten also Völkerball und Seilspringen, also mit dem Seil quer über die Straße, und dann mussten mehrere Kinder da reinspringen. Und wir spielten auch mit den Murmeln, und Tambourin, das war ohne Schellen und wir mussten immer einen Tischtennisball hochwerfen, ne, so. Oder Diabolo. Aber ich ging auch viel ins Schwimmbad. Auch ganz allein. Ab 6, so, bin ich losmarschiert. Aber wir haben auch andere Sachen gemacht. Wir haben Walnüsse und Äpfel geklaut. Der Nachbar hatte so einen schönen Walnussbaum. Im Winter – dort konnte man nicht Schlittenfahren bei uns, aber wir haben uns so Glitschen gebaut. Oder Schneemänner bauen, oder natürlich: Schneeballschlachten machen so, das waren unsere Winteraktivitäten draußen.

* * * * *


Was der Mensch beim Spielen lernt What man learns through play Lo que el ser humano aprende jugando Ce que l'homme apprend en jouant O que os seres humanos aprendem através do jogo İnsanlar oyun yoluyla ne öğrenir?

MANUSKRIPT MANUSCRIPT

Sprecher:

1990 spielten noch drei Viertel der Kinder in Deutschland nach der Schule im Freien. Vor ein paar Jahren war es nur noch ein Viertel. Die Zeit, die Kinder draußen und mit freiem Spiel verbringen, ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich geschrumpft. Ein weltweiter Trend, der Entwicklungspsychologen und Pädagogen alarmiert. Denn wenn Kinder sich in ihre Spiele vertiefen, entwickeln sie ihre Persönlichkeit und erlernen wichtige Fähigkeiten fürs Leben.

Ansage: Was der Mensch beim Spielen lernt. Eine Sendung von Christina Bergengruen.

O-Ton 1 André F. Zimpel: Für eine gesunde Gehirnentwicklung brauchen Kinder ca. 8 Stunden Flow am Tag. Ganz einfach deshalb, weil ihr Gehirn sich im Wachstum befindet. Sie verfügen über unglaublich viele Neuronen und Nervenverbindungen, die geordnet werden müssen.

Sprecher: Mit dem Begriff „Spielen“ meint Psychologe und Erziehungswissenschaftler Professor André Frank Zimpel von der Universität Hamburg das freie, von Kindern selbst initiierte und selbst organisierte Spiel. Nicht unter diesen Begriff fallen für Spiel- Psychologen zum Beispiel Lernspiele, Gesellschaftsspiele oder PC-Spiele. Denn freies Spielen ist spontan. Die Kinder bestimmen dabei das Thema und die Regeln selbst.

O-Ton 2 André F. Zimpel: Wenn ich irgendetwas vorgebe und sage: Also hier ist ein Sandkasten, mach dort etwas, dann ist es schon kein Spiel mehr. Dann ist es für das Kind eine Aufgabe, die es lösen soll. Was Spiel ist, bestimmt radikal die Person selbst. Weil die intrinsische Motivation ist das, was das Spiel definiert. Dass ich Freude an dem Tun habe.

Sprecher: Es gibt viele Gründe für den Verlust von Spielzeit. Gestresste Familien, fehlende Grünflächen in der Stadt, viel Zeit an Handy und PC. Dazu kommt, dass selbst kleine Kinder oft schon volle Terminkalender haben.

O-Ton 3 Isabell: Ich sehe es immer wieder, ich bin Friseurmeisterin, wenn ich Termine vereinbare für die Kinder, wenn ich da immer höre: Donnerstag können wir nicht, da haben wir Turnen, Mittwoch können wir nicht, da haben wir Ballett, Dienstag ist noch Reiten. O-Ton 3 Isabell: Lo vedo ancora e ancora, sono un maestro parrucchiere quando prendo appuntamenti per i bambini, quando sento sempre: giovedì non possiamo, è lì che facciamo ginnastica, mercoledì non possiamo, ecco dove abbiamo il balletto, martedì sta ancora cavalcando.

Wann können denn die Kinder einfach mal spielen und frei sein oder draußen in der Natur toben?

Sprecher: Isabell ist Mutter der dreijährigen Frieda und arbeitet als Friseurin in einem teuren Hamburger Stadtteil. Dort hat sie vor allem wohlhabende Eltern und deren Kinder als Kunden. Unabhängig vom sozialen Milieu ist schon die Freizeit der Kleinsten oft durchgetaktet. Vier feste Freizeitaktivitäten haben Kinder zwischen 3 und 12 Jahren pro Woche im bundesweiten Durchschnitt. Da bleibt wenig Zeit für freies Spielen.

Dabei hat die Evolution genau das für Kinder vorgesehen.

O-Ton 4 Franca Parianen: Also, es gibt diverse Tierarten, die spielen, eigentlich fast alle, und wir haben quasi einen Deal gemacht und gesagt: Wir bekommen diesen wahnsinnig hilflosen Nachwuchs, aber der ist dafür in der Lage, nach der Geburt noch sein Gehirnwachstum zu erweitern und sich flexibel anzupassen an die Welt. Und gerade die Spezies, die das machen, spielen sehr viel.

Sprecher: Neurowissenschaftlerin und Buchautorin Dr. Franca Parianen hat sich viel mit dem Spielen und seinen Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben beschäftigt. Unser evolutionäres Programm, sagt sie, hat eigentlich sogar eine vergleichsweise lange Spielphase vorgesehen.

Forts. OT 4 Franca Parianen: Das bedeutet, dass man schon davon ausgehen kann, das Spiel auch ne Art ist, dieses flexible Herangehen an die Welt auszuprobieren.

O-Ton 5: Atmo Greta und Luise, leiser werdend, darüber:

Sprecher: Freies Spielen trainiert das menschliche Gehirn. Und es bereitet den Körper und die Psyche auf die vielfältigen Anforderungen des menschlichen Lebens in verschiedensten Lebensräumen vor. Das Hirn ist gerade bei dieser Art des Spielens besonders aktiv und lernt besonders gut.

O-Ton 6 Franca Parianen: Es gibt diese sehr plastischen Zustände in unserem Gehirn, die durch bestimmte Hormone angeregt werden, und im Spiel erreichen wir diesen sehr plastischen Zustand, in dem wir besonders gut neue Verbindungen aufbauen und alte Verbindungen abbauen können.

Sprecher: Spaß und Glücksgefühl sind beim freien Spielen ganz zentral – und sie lassen sich messen.

O-Ton 7 Franca Parianen: Wenn ein Verhalten, das wir gemacht haben, das gewünschte Ergebnis hat, und wir bekommen eine positive Bestätigung, dann schütten wir Dopamin aus, was dafür sorgt, dass das Gehirn merkt: Ah, da hat irgendetwas gut geklappt. Wir schütten Opioide aus, die uns ein gutes Gefühl geben, ein Rauschgefühl. Und wir vernetzen die Zellen, die dafür verantwortlich sind.

Sprecher: Beim freien, lustvollen Spielen ohne Vorgaben oder Anleitung durch Erwachsene, bei dem Kinder Spiele selbst erdenken und umsetzen, erwerben sie sogenannte exekutive Funktionen. Das sind grundlegende geistige Fähigkeiten, mit deren Hilfe der Mensch seine Emotionen, Gedanken und sein Handeln steuert. Kinder haben einen angeborenen Forscherdrang, in den Erwachsene nicht ständig eingreifen sollten, meint die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen. Außerdem böte das freie Spiel die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was und wie gespielt wird.

O-Ton 8 Franca Parianen: Der Kontrollverlust, den ich ja ständig habe als Kind mit Erwachsenen: Ich darf nicht entscheiden, wann ich ins Bett gehe, ich darf nicht wirklich entscheiden, was gemacht wird oder wann es nach Hause geht, das ist einfach ne Situation, in der Kinder sehr wenig Kontrolle erfahren.

O-Ton 9: Atmo Julian und Linnea beim Spielen mit Luftballon, leiser, darüber:

Sprecher: Beim Spielen machen Linnea und Julian, worauf sie Lust haben. Gerade werfen sich die dreieinhalbjährigen Zwillinge einen Ballon zu. Sie testen, ob sie den Ballon auch schlagen oder in einer Drehung um die eigene Achse auffangen können. Ohne es zu merken, werden die beiden immer besser darin, den Ballon zu fangen. Was sie dabei lernen, nennen Erziehungswissenschaftler wie André Zimpel Selbstwirksamkeit. Die Kinder setzen eine eigene Spielidee um und schaffen so eigene Erfolgserlebnisse.

O-Ton 10 André F. Zimpel: Kinder haben die angeborene Fähigkeit, sich im freien Spiel Aufgaben zu suchen, die sie weder überfordern noch unterfordern. Und damit sichern sie sich natürlich die Erfolgserlebnisse, die führen natürlich dann zu einer gewissen Selbstsicherheit. Also wir haben es mit Personen zu tun, die viel selbstsicherer auftreten als andere.

Sprecher: Diese Selbstsicherheit ist eng verknüpft damit, dass das Kind sich selbst immer besser kennen lernt. In den unterschiedlichsten Spielszenarien erkennt es seine eigenen Grenzen, aber auch seine ureigenen Interessen und Stärken. Wenn Kinder es gewohnt sind, ihre Interessen eigenständig und erfolgreich beim Spielen zu verfolgen, führt das später zu Ausdauer und Geduld auch beim Lernen. Weder geführter Sport noch Lernspiele können das erreichen. Neurowissenschaftlerin Franca Parianen:

O-Ton 11 Franca Parianen: Wenn wir vergleichen, Kindertagesstätten mit nem starken Spielprogramm oder Kindertagesstätten mit nem Programm, das sehr stark vorgegeben ist, wo die Kinder die ganze Zeit immer wissen, was sie tun müssen, dann macht das einen Unterschied für die sozial-emotionale Entwicklung. Tatsächlich gibt es sogar eine Studie, die unterschiedliche Schulleistungen findet.

Sprecher: Diese Studie der US-amerikanischen Erziehungswissenschaftler Darling-Hammond und Snyder fand 1992 bei Kindern aus deutschen Kindertagesstätten mit viel freiem Spiel einige Jahre später ein höheres Leistungsniveau. Sie konnten, im Gegensatz zu Kindern mit viel Programm in der Kita, in der vierten Grundschulklasse besser lesen und rechnen.

O-Ton 12: Emma beim Rollenspiel mit ihrer Puppe, mit der sie Situationen nachstellt, leiser werdend

Sprecher: Die dreijährige Emma spielt gerne stundenlang Rollenspiele mit ihrer Puppe. Beim Spielen verarbeitet sie Ereignisse aus ihrem Alltag und baut ein, was sie beschäftigt. Dass sie bald ein Brüderchen bekommt, zum Beispiel. Oder dass ihre Eltern ihr etwas verboten haben.

O-Ton 13: Emma, wie sie der Puppe sagt, was sie tun soll.

Sprecher: Im Spiel lernt Emma auch, negative Ereignisse oder Gefühle zu verarbeiten und versetzt sich in andere hinein. Ihre Mutter Miriam ist immer wieder begeistert von den Rollenspielen ihrer Tochter.

O-Ton 14 Miriam: Besonders beeindruckend finde ich auch die Phantasie, mit der sie ihre Spiele spielt; sie taucht dann teilweise über den Zeitraum von einer Stunde oder länger komplett in eine andere Welt ab, in der sie sämtliche der darin enthaltenen Menschen und/oder Tiere spielt, selber, und zwischen diesen Rollen hin und her switcht. Sie spielt mit einer Konzentration, sie spielt mit einer Überzeugung, und man könnte fast meinen, sie geht wirklich davon aus, dass das, was da gerade gespielt wird, tatsächlich auch Realität ist.

Sprecher: Wenn Kinder beim freien Spielen in fiktive Welten abtauchen, entwickeln sie ihre Phantasie weiter. Also die Fähigkeit, sich Dinge, die man nicht sieht, möglichst anschaulich vorstellen zu können. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen Psychologen davon aus, Phantasie diene nur der oberflächlichen Erbauung und Unterhaltung, habe aber mit dem Lernen nichts zu tun. Diese Ansichten sind längst widerlegt. Eine gute Phantasie hilft Kindern später in ganz anderen Bereichen, etwa abstrakte Prinzipien zu erkennen oder mathematische Formeln zu verstehen. Spielforscher und Erziehungswissenschaftler André Zimpel.

O-Ton 15 André F. Zimpel: Unsere Untersuchungen zeigen immer wieder, dass wenn Kinder Lernschwierigkeiten haben, dass das immer in einem Mangel an Phantasie begründet. Also wir können immer zeigen, dass wir da an der Phantasieentwicklung arbeiten müssen.

Sprecher: Phantasievolles Spiel schult außerdem das Durchhaltevermögen eines Menschen und fördert seine Motivation. Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Professorin Simone Kühn leitet die Arbeitsgruppe Neuronale Plastizität am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und beschäftigt sich viel mit dem Lernen im Spiel. La psicologa e neuroscienziata Professor Simone Kühn dirige il gruppo di lavoro Neural Plasticity presso il Centro medico universitario Hamburg-Eppendorf ed è molto coinvolta nell'apprendimento attraverso i giochi.

O-Ton 16 Kühn: Erstmal ist es unheimlich wichtig, dass man sich das Endergebnis von etwas vorstellen kann, damit ich durchhalten kann. Damit ich am Ende einen Schulabschluss habe, muss ich mir vorstellen können: Wie ist das dann am Ende? Das heißt: Mangelnde Vorstellungskraft, ganz generell, ist ein Problem, weil ich mir das Ziel nicht vor Augen halten kann.

Sprecher: Dass freies Spielen eine Reihe wichtiger Fähigkeiten schult, heißt aber nicht, dass man Kinder immer und überall nur sich selbst überlassen sollte.

Wenn Erwachsene oder ältere Kinder die Kleineren beim freien Spielen inspirieren, kann das neue Entwicklungsschritte bahnen. Se gli adulti o i bambini più grandi ispirano i più piccoli a giocare liberamente, questo può aprire la strada a nuove fasi di sviluppo. André Zimpel:

O-Ton 17 André F. Zimpel: Alle Spielthemen, die sich Kinder suchen, stammen aus der Nachahmung. Also ein Kind will am Strand eine wunderbare Sandburg bauen und die stürzt immer wieder ein und ein älteres Kind oder ein Erwachsener kommt dazu und zeigt, wie man vielleicht mit Wasser den Sand etwas haftfähiger machen kann, das ist dann das

„Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung“ und am nächsten Tag macht das Kind das von allein.

Sprecher: Am produktivsten ist, wie so oft, die gesunde Mischung, sagt auch die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen.

O-Ton 18 Franca Parianen: Tatsächlich gibt es, wenn man jetzt vergleicht: „Freies Spielen an sich - Kinder spielen die ganze Zeit nur vor sich hin“ oder „sie kriegen ab und zu auch Anregungen von außen“, die besseren Ergebnisse für diese Mischform. Dass wir gemeinsam lernen oder dass wir dem Kind Anregungen geben, da spricht überhaupt nichts gegen. Wichtig ist nur, dass man ab und zu Freiräume lässt, um auch zu sagen: Okay, jetzt ist einfach nur Spielzeit.

Sprecher: Was passiert, wenn ein Mensch nur wenig oder überhaupt nicht freispielt? Spielmangel oder Spielentzug haben immer gravierende Konsequenzen für das spätere Leben, sagt Spielforscher und Erziehungswissenschaftler André Zimpel. Experimente mit verschiedenen Tierarten zeigten, wie wichtig Spielen sei für das soziale Miteinander einer Gruppe, eines Schwarms oder Rudels.

O-Ton 19 André F. Zimpel: Im Tierversuch bei Säugetieren, bei Vögeln und sogar bei einigen Reptilien kann man nachweisen, dass das freie Spiel die Voraussetzung für das spätere Sozialverhalten darstellt.

Sprecher: Tiere, die zu wenig spielten, zeigten immer Verhaltensstörungen. Und beim Menschen scheint sich das ähnlich auszuwirken. E sembra avere un effetto simile sugli esseri umani.

Der US-amerikanische Arzt und Psychiater Stuart Brown ist Gründer des

kalifornischen „National Institute for Play“. Seit 1966 hat er das Spielverhalten von mehr als 6.000 Erwachsenen untersucht. Sein Ergebnis: Amokläufer und Mörder hatten in ihrer Kindheit durchweg vergleichsweise wenig soziale Spielerfahrungen gesammelt. Zwar wird nicht jeder kriminell, der als Kind wenig spielt. Aber die Zeit und die Qualität der gespielten Spiele in der Kindheit wirken sich auf jeden aus. In der Zeitschrift „Journal of Play“ schreibt Stuart Brown 2009:

Zitator: Bei Kindern, die nicht spielen, zeigt sich der Schaden vor allem in Form eines Mangels an Resilienz und in einer eingeschränkten Neugier. Diese Kinder haben auch Schwierigkeiten bei der Regulierung angemessener Emotionen. Menschen, die unter Spielentzug leiden tendieren dazu, unflexibel zu sein, besonders, wenn etwas Überraschendes passiert. Nichtspieler verfügen über ein eingeschränktes Repertoire an Reaktionen und neigen dazu, Überraschung durch Schock, Angst oder Aggression zu ersetzen.

Sprecher: Wenn diese Flexibilität im Denken nicht durch freies Spielen trainiert würde, seien Menschen später in schwierigen Situationen schneller überfordert und würden eher krank, sagt Brown. Verschiedene Veröffentlichungen anderer Wissenschaftler bringen den alarmierenden Anstieg von psychischen Störungen und Erkrankungen auch damit in Verbindung, dass Kinder im Vergleich zu früheren Generationen immer weniger frei spielten. Spielforscher André Zimpel:

O-Ton 20 André F. Zimpel: Dadurch entstehen auch ganz neue psychische Krankheitsbilder, die früher gar nicht bekannt waren, also ich denke da an Burnout und Boreout und solche Syndrome, die sind relativ neu. Auch Suizide sind oft verursacht durch mangelnde Phantasie und mangelnde Flexibilität im Leben. Und die Anforderungen an Flexibilität sind unglaublich gestiegen.

Sprecher: Der Psychiater Brown untersuchte neben Mördern und Amokläufern auch die Lebensläufe von sehr erfolgreichen und kreativen Menschen. Und er fand auch dort ein verbindendes Element: Denn diese Menschen hatten als Kinder offenbar besonders ausgiebig und phantasievoll gespielt.

O-Ton 21: Atmo Julian und Linnea, leise, darüber:

Sprecher: Die dreieinhalbjährigen Zwillinge Julian und Linnea wollen heute die Platte ihres Kindertisches gemeinsam anmalen. Speaker: I gemelli di tre anni e mezzo Julian e Linnea vogliono dipingere insieme il tavolo dei loro figli oggi. Abwechselnd legen sie sich hin und verschönern die Tischplatte von unten mit Buntstiften. A turno si sdraiano e decorano il piano del tavolo dal basso con matite colorate. Ein Zwilling wählt die Farben der Malstifte aus und reicht sie dem jeweils anderen, der gerade mit Malen dran ist. Un gemello sceglie i colori dei pastelli e li passa all'altro che sta dipingendo.

Forts. OT 21: Jetzt wieder lauter: Linnea und Julian beim Zusammenspielen, die nächsten Abschnitte darüber

Sprecher: Das Spiel verlangt von den beiden Vorschulkindern bereits ein fortgeschrittenes Sozialverhalten. Noch nicht mal vier Jahre alt, praktizieren die beiden erfolgreich Arbeitsteilung. Zusammen müssen sie das Spiel am Laufen halten. Keiner der beiden läuft weg, setzt einseitig seine Vorstellungen durch oder weigert sich, sich beim Malen abzuwechseln.

O-Ton 22 André F. Zimpel: Die Impulskontrolle ist eigentlich die Haupt-Aufgabe beim Spielen. Wir können in der Forschung zeigen, dass die Spiele immer ausgedehnter werden und das Spielergebnis immer weiter herausgeschoben wird. Also im Spiel üben Kinder freiwillig Impulskontrolle. Und die Impulskontrolle, das hat ein Kollege in Standford, Walter Mischel, untersucht bei 700 Kindern, ist für eine gesunde Lebensweise, für Erfolg im Beruf, für gelingende Partnerschaften, ganz zentral. Auch beim schulischen Lernen ist es sehr wichtig, Impulse zu unterdrücken.

Sprecher: Und noch eine andere Fähigkeit üben die Zwillinge Linnea und Julian bei ihrem Mal- Spiel trotz ihres jungen Alters: Sie sind sehr konzentriert bei der Sache.

O-Ton 23 André F. Zimpel: Die Gyri Cinguli, das sind also so kreisförmige Gehirnwülste, die um das limibsche System sich so herumlegen, die haben damit zu tun, wie lange man sich konzentrieren kann. Es gibt direkte Korrelationen mit der Zeit, in der Kinder ungestört spielen, dass sich diese Hirnstruktur entwickelt.

O-Ton 24: Atmo Jesse & Freunde spielen draußen Sprecher: Kinder und Jugendliche in Deutschland sind heute im Schnitt nur noch eine halbe Stunde täglich in Bewegung. Zwar sind viele in Sportvereinen angemeldet. Aber einmal pro Woche Hockeytraining oder Kinderballett können den Bewegungsmangel nicht aufwiegen. Die motorischen Defizite sind für sich genommen schon beunruhigend genug. Sie ziehen aber auch Defizite beim Lernen nach sich.

O-Ton 25 André F. Zimpel: Also wir neigen oft dazu, die Dinge zu trennen. Wir reden von körperlich-motorischer Entwicklung und trennen die von der kognitiv-emotionalen Entwicklung. Aber in Wirklichkeit hängt alles ganz eng zusammen. Kinder, die Erfolge im Bewegungslernen haben, die Schaffen dann meistens auch den Transfer in kognitive Aufgaben.

Sprecher: Freies Spielen, das heißt auch: die Eltern müssen nicht ständig dabei sein, nicht jeden einzelnen Schritt ihres Kindes kommentieren oder kontrollieren. Doch diesen Mut zum Risiko bringen immer weniger Eltern auf.

Auch Isabell und vor allem ihrem Mann, den Eltern der dreijährigen Frieda, fällt es nicht immer leicht, ihre Tochter einfach machen zu lassen.

O-Ton 26 Isabell: Es ist natürlich klar, dass Kinder auch in gefährliche Situationen kommen, auf Bäume klettern, über die Straße gehen alleine oder irgendwo runterspringen und sich verletzten können.

Sprecher: Viele Eltern versuchen, die Kleinen von allen Gefahren fernzuhalten. Dabei fördert der Umgang mit Gefahren und Ängsten die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Einige Wissenschaftler vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der mangelnden Risikobereitschaft, die einem Kind beim Spielen von seinen Aufsichtspersonen gestattet wird, und den Ängsten, die es als Erwachsener später entwickelt.

Forschungen, wie die der norwegischen Pädagogin und Spielforscherin Ellen Sandseter, bestätigen das. Sandseter ist überzeugt, Kinder sollten unbedingt den Umgang mit altersgemäßen Risiken lernen. So könnten sie sich rechtzeitig an den Umgang mit Stresshormonen gewöhnen. Gefährliche Situationen im freien Spielen zu meistern, habe sogar lebenslang einen anti-phobischen Effekt.

Neurowissenschaftlerin Franca Parianen:

O-Ton 27 Franca Parianen: Also, es ist wichtig, ab und zu diese Risiken einzugehen. Wenn wir den ersten Ballon poppen hören, dann reagieren wir noch mit nem Wahnsinnsschock, wenn wir den zweiten Ballon poppen hören: Ah, jetzt weiß ich, worum es hier geht. Dann lernen wir, wenn wir irgendwann mal ne Situation haben, wo wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen, dann frieren wir nicht ein, sondern wir lernen, damit umzugehen und zu handeln. Aber natürlich: Damit sowas erstmal passiert, muss ich ja ne Situation haben, wo ich Angst habe. Das heißt, wenn ich die ganze Zeit quasi in der Bauchtrage war bis zum 5. Lebensjahr, dann habe ich ja nie diese Erfahrung gemacht mit: Irgendwas macht mir Angst, jetzt kann ich zurückrennen und mich wieder beruhigen.

Sprecher: Untersuchungen von Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftlern wie Peter Gray oder Sergio Pellis legen nahe, dass Kinder, die beim Spielen gewissen Risiken ausgesetzt waren, später körperlich aktiver, aber auch psychisch gesünder und belastbarer sind. Die Forscher sind überzeugt, dass der heute massenhaft praktizierte risikovermeidende Erziehungsstil zur Verbreitung von psychischen Störungen in der Gesellschaft beiträgt.

Freies Spiel in den ersten Lebensjahren ist also in vielerlei Hinsicht gut und wichtig für die Entwicklung. Mit höherem Alter werden andere Spielformen wichtiger, zum Beispiel Lernspiele. Sie sind, anders als freie Spiele, an Aufgaben gebunden und können etwa im Schulunterricht eingesetzt werden.

O-Ton 28 Nike: Ich gebe Nachhilfe für SchülerInnen zwischen erster und zwölfter Klasse. Ich hab angefangen mit Nachhilfe, ohne richtige Kenntnisse zu haben, wie ich Unterricht gestalte. Und dann kam es vor, dass ich Schwierigkeiten hatte, die SchülerInnen zu motivieren, weil sie nicht freiwillig kommen, und dann hab ich angefangen, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, Stoff beizubringen.

Sprecher: Nike ist 24 und jobbt in der Berliner Dependance, einer bundesweiten Nachhilfeagentur. Relatore: Nike ha 24 anni e lavora nella filiale di Berlino, un'agenzia di tutoraggio nazionale. Sie gibt dort Einzel- und Gruppenunterricht. Dass die Konzentration bei den Teenagern, die sie unterrichtet, abfällt, merkt Nike oft daran, dass die Schüler ihre Handys rausholen oder langsamer werden.

Forts. OT 28 Nike: Und so hab ich dann - im Internet vor allem - gesucht, in Büchern gesucht nach Spielen, und gerade im Internet gibt es da viele verschiedenen Vorlagen, die man nutzen kann.

Sprecher: Lernspiele, auch didaktische Spiele genannt, bringen oft neuen Schwung. Spieltypische Elemente wie Raten, ein Wettstreit unter Mitspielern und unmittelbares Feedback oder der Reiz des Unerwarteten kommen zum Einsatz.

O-Ton 29 Nike: Zum Beispiel für die Jüngeren geht's dann darum, in Mathematik geht's darum Malfolgen, das kleine Einmaleins zu lernen, Addition, Subtraktion zu lernen, und gerade mit den Kleineren mache ich das oft sehr spielerisch, mache ich Spiele wie Bingo, oder so eine Art Mensch–ärgere-dich-nicht, wobei die Kinder dann weiterkommen, indem sie rechnen. O-Ton 29 Nike: Per i più piccoli, ad esempio, si tratta, la matematica riguarda la pittura delle sequenze, l'apprendimento delle tabelline, l'apprendimento delle addizioni, delle sottrazioni, e soprattutto con i più piccoli lo faccio spesso in modo molto giocoso, gioco come bingo, o qualche tipo di persona - non arrabbiarti, per cui i bambini vanno avanti facendo i calcoli. Sprecher: Spaß und Dopaminausschüttung sorgen dafür, dass sich das spielerische Lernen nicht wie Üben anfühlt. Das Lernziel erscheint als positiver Nebeneffekt des Spiels. Besonders digitale Lernspiele können darin sehr effektiv sein. Die sogenannten Serious Games sollen nicht nur unterhalten, sondern bieten ein angenehmes Lernerlebnis. Ihr großes Plus: Sie passen sich individuell an das Niveau des Lernenden an und garantieren viele kleine Erfolgserlebnisse.

O-Ton 30: Atmo DRK-Seniorentreff „Haus Ottensen“, darüber folgender Sprechertext sowie die Erklärung von C. Ratjens:

Sprecher: Was für Kinder und Jugendliche gilt, trifft auch auf Menschen in höherem Alter zu. Im Seniorentreff Haus Ottensen treffen sich Nachbarn bei Leiterin Christiane Ratjens zu gemeinsamen Aktivitäten. Videospiele sind Teil des Programms.

Die 76-jährige Ilo und ihr Bekannter, der 81-jährige Jürgen, üben heute an einer virtuellen Bowlingbahn. Im Gegensatz zum richtigen Bowling können hier auch Senioren mitspielen, die nicht mehr so fit sind und etwa im Sitzen spielen müssen. Ilo und Jürgen sind zwar rüstig, aber auch für sie wäre eine echte Bowlingkugel zu schwer. Das Videospiel ermöglicht es ihnen, Konzentration, Körperkoordination und Gleichgewicht zu trainieren.

O-Ton 31 Christiane Ratjens: Man hat einen Joystick in der Hand, den hat man ums Handgelenk, damit man den nicht nachher in den Fernseher schmeißt. Statt einer Bowlingkugel hat man diese Fernbedienung in der Hand und man behandelt die genau wie einen Ball.

Forts. OT 30: Atmo Haus Ottensen

Sprecher: Die Besucher spielen an einer extra für ältere Menschen entwickelten Konsole, der MemoreBox. Hier kann man zum Beispiel mit vollem Körpereinsatz ein Autofahr- oder ein Zeitungsausträgerspiel spielen. Dabei trainiert man gleichzeitig Körperkoordination, Gleichgewicht, Gedächtnis und Reaktionsfähigkeit.

O-Ton 32: Atmo Autofahrspiel Haus Ottensen

Sprecher: Die technologische Entwicklung hat neue, hochinteressante digitale Lernspiele hervorgebracht. Sie trainieren Menschen in der Aus- und Fortbildung oder auch im gesamten Rehabereich. Das Lernen damit funktioniert in jedem Alter.

Neurowissenschaftlerin Simone Kühn.

O-Ton 33 Simone Kühn: Mittlerweile wissen wir, dass man nicht nur Zellen verliert, sondern auch wieder welche neu bilden kann, dass es wahnsinnige Umstrukturierungsprozesse auch noch im Erwachsenenalter gibt, also nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Insofern macht es absolut Sinn, dass auch Erwachsene spielen. Je mehr man sich beschäftigt mit einer Sache, desto mehr kann das Hirn auch wachsen.

Sprecher: Simone Kühn, die sich bei ihren Forschungen oft von der besonderen Wirksamkeit von Lerngames überzeugen konnte, glaubt trotzdem nicht, dass deren Bonus-Prinzip das freie Spiel im Kindesalter ersetzen kann.

O-Ton 34 Simone Kühn: Das macht mir ein bisschen Angst, muss ich sagen, mit diesem derzeitigen Gamifizierungswahn, wenn man das so sagen darf. Ich glaube schon, dass wenn man jetzt Kinder selektiv darauf trainiert, dass sie sozusagen immer den nächsten Bonus kriegen, immer das nächste Sternchen gewinnen müssen und so, dass man dann darauf trainiert, dass es sofort Feedback geben muss. Und in der normalen Welt es leider oft sehr lange dauert. Und ich glaub schon, dass man da so‘n bisschen fehlerziehen kann. E penso che tu possa fare un piccolo errore lì.

Sprecher: Auch was den kindlichen Bewegungsmangel angeht, so sind der Gamifizierung des Lernens bei Kindern Grenzen gesetzt. Kreative Problemlöser, tatkräftige, ausdauernde und selbstbewusste Erwachsene bringt wohl eher freies Spiel in der Natur hervor. Risolutori di problemi creativi, adulti energici, perseveranti e sicuri di sé hanno maggiori probabilità di produrre gioco libero in natura. Und so denkt auch Rentnerin Ilo, die im Alter die Vorzüge des virtuellen Spiels nutzt, gerne an ihre Spielerlebnisse in den 1940er und 50er Jahren zurück. E così la pensionata Ilo, che usa i vantaggi dei giochi virtuali in età avanzata, ama ripensare alle sue esperienze di gioco negli anni '40 e '50.

Sie selbst war zwar Einzelkind …

O-Ton 35 Ilo: Aber auf der Straße spielten alle Kinder, und das waren ne ganze Menge Kinder. Wir spielten also Völkerball und Seilspringen, also mit dem Seil quer über die Straße, und dann mussten mehrere Kinder da reinspringen. Und wir spielten auch mit den Murmeln, und Tambourin, das war ohne Schellen und wir mussten immer einen Tischtennisball hochwerfen, ne, so. E giocavamo anche con le biglie, e il tamburello, che era senza campane e dovevamo sempre lanciare una pallina da ping pong, no, quindi. Oder Diabolo. Aber ich ging auch viel ins Schwimmbad. Auch ganz allein. Ab 6, so, bin ich losmarschiert. Dalle 6, quindi, ho iniziato a marciare. Aber wir haben auch andere Sachen gemacht. Wir haben Walnüsse und Äpfel geklaut. Der Nachbar hatte so einen schönen Walnussbaum. Im Winter – dort konnte man nicht Schlittenfahren bei uns, aber wir haben uns so Glitschen gebaut. Oder Schneemänner bauen, oder natürlich: Schneeballschlachten machen so, das waren unsere Winteraktivitäten draußen.

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