Kleinwüchsige Menschen und ihr Alltag – Körpergröße ist nicht alles (1)
MANUSKRIPT
Atmo: Küche, Gespräch im Hintergrund
O-Ton 1 - Beate Twittenhoff: So mal eben so im Laufen drehen und Lichtschalter anmachen, da war ich auch schon mal geschmeidiger. – Autorin: Ah, okay, die geht jetzt bei mir bis ans Knie. – BT: Ja, genau, die ist höhenverstellbar. Küche, da sieht man es sehr und Badezimmer sieht man es auch, am Waschbecken … [fährt Küche hoch]. Das braucht man halt, kochen, Wasser. Oder die Schränke, das ist jetzt ein Hängeschrank, der steht eben auf dem Boden.
Atmo: Küche, Gespräch im Hintergrund
Erzählerin [über Atmo Küche]: Beate Twittenhoff steht in der Küche ihres Hauses in der Nähe von Bielefeld. Die Küchenzeile ist höhenverstellbar, sie kann sie hoch und runter fahren. Es gibt zwei Kinderstühle, einen kleinen Tisch. Dort trinken sie und ihr Mann den Kaffee, wenn sie allein sind. Sie sind beide klein und sie findet es schön, dass sie sich in die Augen schauen können – oder einer Besucherin.
O-Ton 2 - Beate Twittenhoff: Sie haben sich, ist mir aufgefallen, eben auch am Türrahmen auch runter gehockt und das finde ich auch schön, wenn man Auge in Auge. Ich habe aber eine Freundin, die mag das gar nicht, wenn sich jemand zu ihr runter beugt, so empfindet sie das.
Das ist so, wie wenn sich ein Erwachsener zu einem Kind beugt. Ich muss auch immer, wenn Sie dicht an mich rangehen, gehe ich zurück, nicht weil ich Sie nicht mag, sondern weil ich den Kopf gar nicht so in den Nacken legen kann. Aber jeder sieht das anders …
Atmo leise weiter
Ansage: „Körpergröße ist nicht alles – Kleinwüchsige Menschen und ihr Alltag“. Von Christine Werner.
O-Ton 3 - Beate Twittenhoff: Waschbecken ist hier, wenn Sie gleich mal zur Toilette gehen, brauchen Sie nur den Hebel umlegen. Toilette sieht man auch, dass die tiefer ist …
Erzählerin [über Atmo Gespräch im Hintergrund]: Beate Twittenhoff und Hans-Peter Wellmann, beide Mitte 50, sind zwei von etwa 100.000 kleinwüchsigen Menschen in Deutschland. Sie ist 98 Zentimeter groß, er einen Meter 16. Außer in der Küche und im Bad fällt das im Haus nicht auf. Die Regale, der Esstisch, das Sofa – alles normal groß.
O-Ton 4 - Beate Twittenhoff: Manche Leute stellen sich vor, dass hier alles auf klein eingestellt ist, das ist nicht so. Man hat ja auch große Freunde und kann den normalgroßen Menschen Hocker anbieten. (…) Ansonsten, wichtige Sachen kann man eben nicht nach oben stellen, da kommt man nicht dran, unwichtige Dinge kann man dann eher nach oben stellen. Und wenn dann jemand da ist, ich habe auch ein Attentat auf Sie vor, weil sie so schön groß sind …
Erzählerin: Die beiden sitzen auf niedrigen Hockern am Couchtisch. Kennengelernt haben sie sich über den „Bundesselbsthilfe-Verband Kleinwüchsiger Menschen e.V.“, einer von zwei Selbsthilfeverbänden für Kleinwüchsige. Sie engagieren sich dort, organisieren jedes Jahr ein großes Bundestreffen, feiern miteinander, unterstützen sich, tauschen sich über Ärzte, Hilfsmittel und Reha-Kliniken aus. Denn die wenigsten Krankenhäuser und Reha-Kliniken sind auf kleinwüchsige Menschen eingestellt.
Duschen, Trainingsgeräte in der Reha, Ergometer, immer ist alles zu groß. Im Krankenhaus passen Blutdruckmanschetten und Diagnose-Geräte nicht.
Sprechstundenhilfen greifen dann schon mal zu Geräten aus der Kinderabteilung, erzählt Beate Twittenhoff. Was zu falschen Ergebnissen führt. Von ihrer Ärztin hört sie dann:
O-Ton 5 - Beate Twittenhoff: „Mit diesen Messergebnissen kann ich ja überhaupt nichts anfangen, weil, das passt nicht zu Ihrem Alter, das passt nicht zu ihrer Größe.“ Und wenn ich jetzt den Bodymaß-Index nehme zum Beispiel, bin ich auch unter null, schwerst fettleibig also. Wenn man außergewöhnlich aus der Norm fällt, dann passt das nicht und die Richtung Universal-Design ist ja auch eine Richtung, die das abschwächen will, durch eine große Verstellbarkeit.
O-Ton 6 - Hans-Peter Wellmann: Also für meinen Alltag wäre es sinnvoll, wenn man Geräte hat oder Sachen oder Möbel, die müssen nicht speziell für mich angefertigt sein, sondern die müssen so designed sein, dass ich sie nutzen kann, dass es möglichst verstellbar ist, das ist wichtig, viel verstellbar.
Erzählerin: Universal-Design, keine eigenen Dinge für Kleinwüchsige, wünschen sich beide. Praktische Hilfsmittel findet Beate Twittenhoff oft bei Produkten für Senioren, das Problem sind aber ihre kurzen Arme. Meist sind die Griffe für sie zu kurz und die Winkel stimmen nicht. Sie zeigt das an einem Kamm, der wie ein Zollstock ausgeklappt werden kann.
O-Ton 7 - Beate Twittenhoff: … und die Länge, Teleskopmäßig, weil dann kann man es hier anfassen, aber es ist noch zu kurz. – Autorin: Sie kommen mit dem Arm nicht hin. – Richtig, sehen Sie, das ist jetzt auch das Problem, so wie ich das halte, habe ich den Kamm so stehen, also ich kann mir wunderbar einen Seitenscheitel kämmen, aber hinten … mit der Hand würde es jetzt gehen. Aber das ist mehr Glück …
Erzählerin: Bis vor einem halben Jahr hat Beate Twittenhoff in einem Krankenhaus in der Sozialberatung gearbeitet. Ihr Mann ist Lehrer an einer Realschule am Rand von Bielefeld. Dass sie einmal mit einem Partner ein eigenständiges Leben führen wird, haben sich ihre Eltern nicht vorstellen können. Sie mussten in den 1960er Jahren für ihre Tochter vieles erkämpfen:
O-Ton 8 - Beate Twittenhoff: Kindergarten hat mich nicht aufgenommen. Angeblich, weil ich auf der Toilette Probleme hätte, mit der Hygiene. Als wenn alle anderen Kinder, naja. Und dann mit der Schule, meine Eltern wollten, dass ich in eine Regelschule gehe. Und der Schulleiter hätte mich nicht aufgenommen, wenn meine Mutter nicht gesagt hätte, okay ich komme jede Stunde und bringe sie von einer Klasse in die nächste und in den Pausen und so …
Erzählerin: Die Diskriminierung kleinwüchsiger Menschen hat in Deutschland lange angehalten. Noch bis in die 1990er Jahre warb der Holiday Park, ein Freizeitpark im rheinland- pfälzischen Haßloch, mit einer besonderen Attraktion: einem „Liliputaner Dorf“.
Zwischen Karussell und Delfinshow wurden dort kleinwüchsige Menschen in ihren Wohnwagen ausgestellt. Besucherinnen und Besucher konnten ihnen beim Wohnen, Essen, Arbeiten zuschauen. Ein Alltag unter Beobachtung. Viele Kneipen veranstalteten außerdem den sogenannten „Zwergen-Weitwurf“. Ein Spektakel, bei dem Kleinwüchsige auf Matten geschleudert wurden. Die Gesellschaft war über Behinderungen überhaupt nicht aufgeklärt, erzählt Beate Twittenhoff.
O-Ton 9 - Beate Twittenhoff: … und damals war ja auch noch, da war noch ansteckend, Behinderung ist ansteckend, da war noch, was habt ihr denn getrieben, dass ihr so ein missgestaltetes Kind habt?
Erzählerin: Die Eltern sowohl von Beate Twittenhoff als auch von Hans-Peter Wellmann sind normalgroß. Das ist meistens so, denn der Kleinwuchs beruht häufig auf einer spontanen Genmutation. Als kleinwüchsig gilt, wer kleiner ist als 97 Prozent der gleichaltrigen Kinder. Bei Erwachsenen gilt ein Meter 50 als Grenze. Es gebe Hunderte verschiedene Formen von Kleinwüchsigkeit, erklärt Dr. Oliver Semler. Er ist Kinderarzt am Zentrum für seltene Skelett-Erkrankungen der Universitäts-Kinderklink in Köln.
O-Ton 10 - Oliver Semler: Wobei der Kleinwuchs keine eigene Diagnose ist, sondern er ist Folge einer Erkrankung. So ein bisschen kann man es vielleicht vergleichen mit einem Patienten, der Fieber hat. Da ist nicht das Fieber das Entscheidende, sondern, dass man herausfindet: Warum fiebert der Patient? So ähnlich ist das beim Kleinwuchs auch, dass der Kleinwuchs nur ein Symptom ist und man eine Ursache dafür finden muss.
Erzählerin: Oliver Semler ist aufgrund einer Glasknochen-Krankheit kleinwüchsig. Eine genetische Mutation führt dabei zu einem Kollagen-Mangel. In der Folge haben die Knochen zu wenig Struktur und Halt, sie verformen sich und brechen leicht. Die Glasknochen-Krankheit und die Achondroplasie sind die häufigsten Erkrankungen, die zu Kleinwuchs führen. Bei der Achondroplasie wachsen durch einen Gendefekt Knochen und Knorpelgewebe nicht richtig. Kleinwuchs im Kindesalter kann aber auch durch eine Wachstumshormon-Störung oder durch Krankheiten wie Asthma und Mukoviszidose entstehen. Wenn auffallend kleine Kinder zu Oliver Semler kommen, geht die Suche nach der Ursache los:
O-Ton 11 - Oliver Semler: … dann guckt man sich die Patienten weiter an und guckt auch: Wie sind die denn gewachsen? Sind die proportioniert? Das heißt also, das Verhältnis von Oberkörper, Beinen, Extremitäten passt zueinander oder gibt es Hinweise für eine spezifische Knochen-Erkrankung, die z. B. mehr die Arme und Beine betrifft als den Oberkörper wie z. B. bei der Achondroplasie …
Erzählerin: Bei der Achondroplasie haben die Betroffenen meist einen normalgroßen Rumpf, Arme und Beine sind aber verkürzt. Beate Twittenhoff hat diastrophische Dysplasie, ihr Knochengerüst ist nicht gut aufgebaut, die Gelenke sind alle angeschlagen. Ihr Skelett wird mehr durch Muskeln gehalten als durch die Knochen – die Hüften und die Füße sind kaputt.
Atmo: Beate Twittenhoff fährt Rolli aus dem Auto
Erzählerin [über Atmo mit dem Rolli unterwegs]: Wie kommt sie mit ihrer Behinderung im Alltag zurecht? In einer Welt, die auf normalgroße Menschen ausgerichtet ist? Sie will zur Sparkasse und zum Supermarkt und fährt dafür ihren elektrischen Rollstuhl aus dem Auto. Das Auto wurde umgebaut. Gangschaltung, Bremsen, Blinker, alles wurde verlegt, Hebel verlängert. Solange kleinwüchsige Menschen einer Berufstätigkeit nachgehen, wird ein solcher Umbau von Kranken- oder Pflegekassen bezahlt. Beate Twittenhoff musste ihren Beruf aufgeben, weil ihr Körper gestreikt hat. Jetzt, da sie im Vorruhestand ist, müsste sie einen neuen Umbau selbst finanzieren.
Atmo: Beate Twittenhoff / Finde, auch jemand der berentet ist, sollte die Möglichkeit haben, so eine Form von Freiheit zu haben, umgebautes Auto …
Erzählerin: In ihrem Rollstuhl fährt sie flott die Straße hinunter, hält vor einem Geldautomaten, sucht in der Tasche ihre Bankkarte. Sie komme nur schwer an den Schlitz für die Karte, erzählt sie. Ein großes Problem seien auch Touch-Screens:
O-Ton 12 - Beate Twittenhoff: … mit den Tasten, noch sind die Gott sei Dank so, dass man nicht auf dem Display toucht, sondern die Tasten berühren muss, also kann ich das gleich mit meinem Stock machen. Wenn das Display berührt werden muss, da komme ich nicht dran und der Stock hilft nicht, es muss schon Haut sein oder so ein spezieller, wie heißen die Dinger, die man auch für das Tablet benutzt?
Erzählerin [über Atmo]: Sie hat die Karte, findet aber keine Ablage für die Tasche, stellt sich auf das Trittbrett des Rollstuhls, streckt sich, bekommt die Karte gerade so in den Schlitz, greift nach dem Stock, um damit die Tasten am Display zu drücken, sagt der Kundin hinter ihr, dass es etwas dauert, stellt sich wieder, um die Geheimzahl einzutippen – tippt aber nicht schnell genug:
O-Ton 13 - Beate Twittenhoff: BT: Kann ich jetzt auch nicht richtig lesen. – Autorin: Wurde abgebrochen, sagt er jetzt. – BT: Achhh … können Sie mir gerade mal die Karte rausgeben und nochmal wieder reinstecken. So jetzt …
Erzählerin: Geld aus dem Automaten holen, für normalgroße Menschen nicht der Rede wert.
O-Ton 14 - Beate Twittenhoff: Sportlich ist es schon! – Autorin: Für mich sieht es anstrengend aus. – Ja, ich hatte ja auch einen Termin bei der Sparkasse … [erzählt weiter: Rollstuhlautomat lohnt sich nicht. Haben mir Greifzange geschenkt.]
Erzählerin: Ein Geldautomat, den Rollstuhlfahrer bequem bedienen können, lohne sich nicht, hat ihr die Sparkasse mitgeteilt. Sie hätten ihr stattdessen eine Greifzange geschenkt, erzählt Beate Twittenhoff auf dem Weg zum Supermarkt. Beim Bäcker im Eingangsbereich kennt man sie, alle helfen, wenn nötig. Der Vorteil eines kleinen Ortes. Auch am Supermarktregal spricht sie Kundinnen oder Mitarbeiter an.
O-Ton 15 - Beate Twittenhoff: Ich muss gestehen, dass ich die Leute nicht so richtig anschaue. Das sind für mich auch Hilfsmittel. Manchmal kommen ja nette Sprüche und dann gucke ich genauer hin und merke dann, dass ich das als Hilfsmittel sehe, jemanden anzusprechen.
Erzählerin: Wann soll man ihr Hilfe anbieten? Zwischen Bäckerei und Kühltheke hält Beate Twittenhoff inne. Und denkt über das Verhältnis Behinderte und Nicht-Behinderte nach:
O-Ton 16 - Beate Twittenhoff: Wenn es ein gesundes Miteinander gibt, dann lernt jede Seite. Ich, dass ich mir Zeit lasse und nicht damit rechne, ich muss mich beeilen, damit mich niemand anquatscht. Und die andere Seite wartet vielleicht mal kurz ab und fragt dann, ob ich Hilfe brauche. Da braucht man dann auch keine Seminare, wie gehen behinderte Menschen mit Nicht-Behinderten Menschen um. Einfach miteinander leben.
Atmo: Beate Twittenhof fährt los
Erzählerin: Zu hohe Geldautomaten und unerreichbare Regale im Supermarkt, zu hohe Türgriffe und Lichtschalter. Eine Herausforderung für kleinwüchsige Menschen ist aber auch passende Kleidung zu finden.
O-Ton 17a - Anna Spindelndreier: … also schön finde ich zum Beispiel das Thema Blusen. Blusen sind so Sachen, die müssen einfach gut sitzen. Erzählerin: Anna Spindelndreier, 32 Jahre alt, 1,23 Meter groß, muss vieles umändern lassen. T- Shirts mit kurzem Arm gingen ja ganz gut, sagt sie, weil ihr Rumpf normalgroß ist. Hosen dagegen sind immer zu lang. Mode für kleinwüchsige Menschen findet sie inzwischen beim Modelabel „Auf Augenhöhe“, vor sieben Jahren von Sema Gedik gegründet: O-Ton 17b - Anna Spindelndreier: Und als Sema so die erste Bluse entworfen hat, habe ich gedacht, jow, das genau, das fehlt eigentlich für mich. Auch beim Thema Blazer, wo man als Frau einfach Lust hat, sich bisschen schicker anzuziehen, und es wichtig ist, dass die Sachen gut sitzen, da hoffe ich, dass das die Marktlücke ist für „Auf Augenhöhe“.