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SWR2 Wissen, Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts

Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts

MANUSKRIPT

Regie: Musik

Sprecher (Zitation Benjamin 1): „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe.“

Sprecherin: Walter Benjamin, deutsch-jüdischer Intellektueller, Literaturkritiker, Philosoph blickt Ende der 30er Jahre auf Europa. Was er sieht, ist ein Trümmerhaufen: Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus. Leid, Elend, Gewalt. Die Schattenseiten der modernen Gesellschaft treten offen zutage.

Sprecher (Zitation Benjamin 2): „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht.“

Sprecherin: Im September 1940 stirbt Walter Benjamin auf der Flucht vor dem NS-Regime. Sein Vermächtnis: eine radikale Fortschrittskritik. Fortschritt, das ist für Benjamin eine Ideologie der Herrschenden, die das Leid der Unterdrückten nur notdürftig kaschiert.

OT 01 - Ursula Marx: Wenn wir zum Beispiel an die Ausnahmezustände in Hongkong denken, in den USA, die Black Lives Matter Bewegung, Massenproteste in Chile, Frankreich, die Situation in Brasilien, Russland, der Türkei. Das sind Gründe, warum Benjamin immer noch aktuell ist.

Sprecherin: Heute ist die Welt nur vordergründig eine andere. Kriege, Krisen, Ausbeutung und Ausnahmezustände bestimmen noch immer den Lauf der Welt.

OT 02 - Ursula Marx: Ich glaube, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Wir sind Opfer von Gewalt, und wir müssen das ändern. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.

Ansage: „Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts“. Von Philipp Lemmerich.

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Walter Benjamin wird 1892 als Sohn des Kunsthändlers Emil Benjamin und dessen Frau Pauline in Berlin-Charlottenburg geboren. Die Familie gehört dem assimilierten Judentum an und hat es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einigem Wohlstand gebracht. 1917 heiratet Benjamin die Journalistin Dora Sophie Kellner und versucht sich zunächst an einer Universitätskarriere. Obwohl er mit summa cum laude promoviert, scheitert er mit seiner Habilitationsschrift zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ 1925 an der Universität Frankfurt. Sein Stil: zu unorthodox für den akademischen Betrieb.

In den Blütejahren der Weimarer Republik macht sich Benjamin als Autor und Literaturkritiker einen Namen. Er verfasst unzählige Aufsätze und Radiosendungen, übersetzt Marcel Proust aus dem Französischen und schult seine philosophischen Überlegungen in Briefwechseln, die heute ganze Bände füllen: Bertolt Brecht, Theodor Adorno, Gershom Scholem, und viele andere. Er bereist Europa und reflektiert über Kunst, Kultur, Ästhetik.

Doch als jüdischer Intellektueller hat Benjamin ein feines Gespür für die Brüche in der Gesellschaft, in denen zunehmend der Faschismus gedeiht. 1932 notiert er:

Sprecher (Zitation Benjamin 3): „Pessimismus auf der ganzen Linie. Misstrauen in das Geschick der Literatur, Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Misstrauen und Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung; zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen.“

Sprecherin: Benjamins düstere Prophezeiungen treten ein. Im Nazi-Deutschland wird er zum Geächteten. Im September 1933, ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung, flieht er ins Exil nach Paris.

Regie: Trenner Atmo

Sprecherin: Finanziell ist das Exil für Benjamin ein Desaster. Einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: ohne Sprachrohr, ohne Zuhörerschaft, ohne Einkommen. An seinen Freund Gershom Scholem schreibt er verbittert:

Sprecher (Zitation Benjamin 4): „Es steht so, dass unter den verschiedenen Gefahrenzonen, in die sich die Erde für die Juden aufteilt, für mich Frankreich gegenwärtig die bedrohlichste ist, weil ich hier ökonomisch vollkommen isoliert stehe.“

Sprecherin: Doch auch abseits seiner persönlichen Situation stellt sich Benjamin die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte aus Europa ein Kontinent des Schreckens werden?

Immer wieder bleiben seine Gedanken an einer Aquarellzeichnung des expressionistischen Malers Paul Klee hängen, die Benjamin 1920 gekauft hat. Darauf zu sehen: ein Engel, der mit aufgerissenen Augen etwas anzustarren scheint. Der Engel der Geschichte.

Sprecher (Zitation Benjamin 5): „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“

OT 03 - Claudia Kalász: Dieser Engel der Geschichte, der sieht das, was in der traditionellen Geschichtsschreibung als Kontinuum beschrieben wird, als einen Trümmerhaufen. Dieses Kontinuum – dass die herrschenden Verhältnisse, Eigentumsverhältnisse, Produktionsverhältnisse, so wie sie sind, immer weiter perpetuiert werden – das ist die Katastrophe, und das ist die zerstörende Kraft.

Sprecherin: Claudia Kalász, Philosophin und Benjamin-Kennerin aus Barcelona.

OT 04 - Jörg Rudolf Zimmer: Diese Exil-Zeit, die biografisch und persönlich in diesem politischen Zusammenhang natürlich sehr, sehr schlimm für ihn war, verbindet sich dann mit einer theoretischen Sicht auf Geschichte, die sowieso von Anfang an niemals etwas mit Fortschrittsoptimismus zu tun gehabt hat.

Sprecherin: Jörg Rudolf Zimmer, Professor für Philosophie an der katalanischen Universität Girona.

OT 05 - Jörg Rudolf Zimmer: Der Hintergrund ist die eigentliche Geschichtswissenschaft, (...) der sogenannte Historismus, und der geht davon aus, (...) so eine Art von Positivismus, dass man nur alles zusammensuchen muss. Und wenn man alle Dokumente einer Epoche hat, dann hat man sozusagen (...) das Puzzle zusammengesetzt. Das ist die Idee der klassischen Historiker im 19. Jahrhundert, und das ist genau die Idee, gegen die Benjamin argumentiert. Das Puzzle ist nicht zu rekonstruieren, weil nämlich es immer auf einer Konstruktion beruht. Und Konstruktion heißt nichts anderes als ein Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit.

Sprecher (Zitation Benjamin 6): Ein Sturm treibt den Engel unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Sprecherin: Im Sommer 1940 treten die Trümmer der Geschichte offen zutage. Nazi-Deutschland unterjocht Europa, der Siegeszug des Faschismus scheint unaufhaltsam. Benjamin

ist nun schon seit sieben Jahren im Exil in Paris und geht beflissentlich Tag für Tag von seiner kleinen Wohnung im XV. Arrondissement in die Bibliothèque Nationale. Doch er ahnt, dass seine Zeit begrenzt ist.

OT 06 - Stéphane Hessel (+ Sprecher Übersetzung)

Sprecher A-OV: In diesem Jahr 1940, als die deutsche Armee allgegenwärtig war, als die Vernichtung der Juden bereits begonnen hatte, hatten die Demokratien nichts mehr entgegenzusetzen.

Sprecherin: Stéphane Hessel, französischer Intellektueller, in einem Dokumentarfilm des spanisch-argentinischen Filmemachers David Mauas.

Sprecher A-OV: Für Benjamin, ein überzeugter Demokrat, bedeutete das ein Gefühl tiefen Misstrauens. Er fühlte, dass er Recht gehabt hatte, als er sagte, dass Geschichte rückwärtsgewandt sei wie der Engel von Paul Klee und dass der Fortschritt Angst bescherte."

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Für Walter Benjamin ist klar: Die Keime des Faschismus, die im 20. Jahrhundert aufgehen, wurden schon viel früher gesät. Der Faschismus ist nicht der Epochenbruch. Der Faschismus geht aus dem Fortschrittsglauben der Moderne hervor. Und doch lässt Benjamin Raum für einen Ausweg.

Sprecher (Zitation Benjamin 7): „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst.“

Sprecherin: Wer mit dem Kontinuum der Zeit bricht, wer die Fortschrittsideologie als Technik der Herrschenden erkennt, kann in der Vergangenheit Elemente der Subversion erkennen. Kann die wirklichen, die radikalen Fragen stellen.

OT 08 - Ursula Marx: Sein Interesse liegt nicht darin zu erfassen, was in der Vergangenheit gewesen ist, sondern in dem, was einmal möglich gewesen war, aber nicht zur Geltung gekommen ist. Das sind die Geschichten, die Stimmen der Unterdrückten oder der von der Geschichte einfach Übersehenen.

Sprecherin: Ursula Marx, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walter-Benjamin-Archiv in Berlin.

OT 09 - Jörg Rudolf Zimmer: Der innerste Sinn dieses Verfahrens ist Kritik, nämlich Kritik an einer Geschichte, die immer nur die Tradition der Herrschenden ist. Und es geht darum, die andere Kultur sichtbar zu machen und auch ihr eine Stimme zu geben.

Sprecherin: Am 14. Juni 1940 marschiert die Wehrmacht in Paris ein. Benjamin hat bis zuletzt an seinen Manuskripten gearbeitet, er nimmt einen der letzten Züge nach Süden. Vom Küstenstädtchen Banyuls-sur-Mer am Fuße der Pyrenäen aus will Benjamin durch Spanien nach Portugal und dann weiter mit dem Schiff nach New York. Doch dafür muss er erst einmal aus Frankreich herauskommen. Die Zeit drängt, denn die Vichy- Regierung liefert Exilierte kompromisslos an die Deutschen aus.

Sprecherin B (Zitation Fittko 8): „Es ist jetzt schon über vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau daran, mit allen Einzelheiten. Oder könnte es sein, dass ich es mir nur einbilde?

Sprecherin: Benjamin wird an die Widerstandskämpferin Lisa Fittko vermittelt, die Exilierte bei der Flucht über die Pyrenäen unterstützt. Sie erinnert sich in ihren Memoiren:

Sprecherin B (Zitation Fittko 9): „Ich rieb mir die Augen – vor mir stand einer unserer Freunde, Walter Benjamin.

‚Gnädige Frau', sagte er, ‚entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen' Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.“

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Die Gegend wird längst von der französischen Grenzpolizei und von der Gestapo überwacht. Fittko führt Benjamin und zwei weitere Emigranten über einen Pyrenäengipfel im Hinterland.

Regie: Atmo Wanderung

Autor: Heute heißt der Weg „Chemin Walter Benjamin“: Am Ortsausgang von Banyuls-sur- Mer weist eine große Infotafel auf ihn hin.

Für meine Recherche will ich ihn entlangwandern.

Ich will verstehen, wie Benjamin diesen Ort erlebt hat, als herzkranker Philosoph im Gebirge auf der Flucht. Es ist Nachmittag, als ich aufbreche. Eine sengende Hitze.

Der Weg schlängelt sich durch Weinberge, lieblich schon fast. Nach zwei Stunden wird er steiler, unwegsamer, steiniger. Das staubige Geröll rutscht unter den Füßen weg. Die Pyrenäen: dunkle Silhouetten im Sonnenlicht.

Nach drei Stunden der Gipfel, gleichzeitig Grenze und Ort der Rast. Den Grenzstein suche ich vergeblich. Zu beiden Seiten des Bergkamms das Meer. Rechterhand das spanische Städtchen Portbou, es kann nicht mehr weit sein.

Regie: Trenner Musik

Autor: Der Abstieg wird noch steiler, noch steiniger, noch garstiger. Ein Weg kaum mehr erkennbar zwischen Geröll und stacheligem Gestrüpp. Immer ist dort unten Portbou, das Ziel, aber es will nicht näherkommen.

Wer aus den Bergen nach Portbou gelangt, läuft auf eine riesige Mauer zu. Dort oben verbirgt sich der Bahnhof, 1929 eingeweiht, ein Ungetüm, Umschlagplatz, Güterbahnhof und heute, dank Schengen, seiner Funktion beraubt. Wer hinab möchte ins Dorf, muss durch einen langen, feuchten Tunnel. Fledermäuse flattern durch das Dämmerlicht.

Sprecherin: Am 26. September 1940 kommen Walter Benjamin, seine Reisebegleiterin Henny Gurland und deren Sohn Josef nach zehn Stunden Marsch in Portbou an. Doch aus der vermeintlichen Freiheit wird eine Falle: Die spanische Grenzpolizei verbietet ihnen die Weiterreise:

Eine neue Anordnung, ihnen fehle der französische Ausreisestempel, ohne den gehe es nicht weiter. Am Folgetag sollen sie zurück nach Frankreich deportiert werden.

Doch soweit kommt es nicht. Am nächsten Morgen ist Walter Benjamin tot. Er habe eine Überdosis Morphium genommen, wird seine Reisebegleiterin Henny Gurland berichten. Seinen vermeintlichen Abschiedsbrief schreibt sie später aus dem Gedächtnis nieder – das Original habe sie aus Angst vernichten müssen.

(Regie: z. B. französisch / deutsch im Wechsel, evtl. mit Frauenstimme Sprecherin 1 überlagern)

Sprecher (Zitation Benjamin 10): – In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden.

Sprecher (Zitation Benjamin): – In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Wo mich niemand kennt, wird mein Leben ein Ende finden.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben,

Sprecher (Zitation Benjamin): – die ich gerne geschrieben hätte.

Sprecherin: Nur einen Tag später wird die Anordnung der spanischen Behörden aufgehoben. Der Weg durch Spanien wäre wieder frei gewesen.

Sprecher (Zitation Benjamin 11): „So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns.“

Sprecherin: Der Mensch Walter Benjamin ist gescheitert. Auf der Flucht vor dem Faschismus fand er den Tod. Ein Schicksal, in dem sich Europas blutige Geschichte des 20.

Jahrhunderts wie in einem Brennglas zeigt. Doch der Philosoph Walter Benjamin lässt auch noch in der Katastrophe ein Moment der Hoffnung zu.

Sprecher (Zitation Benjamin 12): „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. (...). Den Juden wurde die Zukunft aber darum nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“

OT 10 - Claudia Kalász: Ich denke, es steckt in dem Wunsch der Rettung. Der Wunsch der Rettung von etwas, was verloren ist, ist nicht zu denken, ohne etwas Transzendentes, das die Realität übersteigt. Kant hätte gesagt, das ist eine regulative Idee.

Sprecherin: In einem Moment in der Geschichte, in der es keinen Ausweg aus der Verdammnis des Faschismus zu geben scheint, verortet Benjamin die Rettung in der Erlösung.

OT 11 - Claudia Kalász: Diese theologische Komponente ist weltlich, ist nicht transzendental. Das ist profane Erleuchtung. Es ist wichtig für uns irdische Menschen, es ist die Verwirklichung der Leitidee der Erlösung in unserem Leben. Etwas, was wir vielleicht nie vollständig erreichen können. Die vollkommen erlöste Menschheit ist sicherlich unerreichbar in unserem kontingenten Leben. Aber als regulative Idee, als leitende Idee ist sie wichtig, damit wir nicht in den Alltagsgeschäften steckenbleiben.

Sprecherin: Die Geschichte der Menschheit ist nicht auf ewig dazu verdammt, Unheilsgeschichte zu sein. Doch es braucht einen Boten, der über das Bestehende hinausweist. Ein messianisches Erwachen.

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Schon wenige Tage später erfahren Benjamins Kollegen und Freunde von seinem Tod in Portbou. Sie gehen fest von einem Suizid aus. Erst Jahrzehnte später kommen Zweifel auf. Wie verlässlich ist ein rekonstruierter Abschiedsbrief – wie der von Henny Gurland? Wie tragfähig sind Memoiren, die 40 Jahre später aufgeschrieben wurden – wie die von Lisa Fittko?

Sprecher A-OV: Dieses schon fast detektivische Rätsel zog mich unfassbar an. Es passte einfach alles nicht zusammen. Wenn man ein Organigramm der beteiligten Charaktere zeichnet, sieht man, dass sich nichts mit Sicherheit sagen lässt.

Dazu tauchte eine Frage auf, die mit Benjamins Gedanken zusammenhängt: Wie und auf welche Weise wird Geschichte weitergetragen, wie verstehen wir sie, wie erreicht sie die Gegenwart? Oder um es anders zu sagen: Wie wird die Legende konstruiert?

Autor: Wenn Geschichte eine Konstruktion der Nachwelt ist – warum sollte das dann nicht auch auf die Umstände von Benjamins Tod zutreffen? Diese Frage stellte sich der argentinische Filmemacher David Mauas am Anfang einer jahrelangen Recherche. In detektivischer Kleinarbeit trug er alle Unstimmigkeiten zusammen, die Benjamins Tod umgaben. Sein Film „Wer tötete Walter Benjamin?“ wurde 2005 veröffentlicht.

Regie: Ausschnitt Film als Atmo

Sprecherin: Der Besitzer der Pension, in der Benjamin starb: erwiesenermaßen ein Faschist. Der Totenschein: ausgestellt von einem Arzt, der nicht vor Ort sein konnte.

Auf dem Totenschein eine andere Todesursache als in Gurlands Erinnerung, ein anderes Sterbedatum als im Kirchenregister. Benjamin – Kommunist, Jude, Selbstmörder – begraben auf einem katholischen Friedhof? Und war die Gestapo nicht längst in Portbou vor Ort?

Sprecher A-OV: Ich wollte den Namenlosen dieser Geschichte eine Stimme geben. All die Akademiker und Historiker, die über Benjamin in Portbou gesprochen oder geschrieben haben, haben sich nicht die Mühe gemacht, die Menschen in Portbou zu fragen, was sie dachten oder was passiert sein könnte. Ich finde das ungeheuerlich.

Regie: Ausschnitt Film als Atmo

Sprecher A-OV: Die Idee von Benjamins Selbstmord hat ihnen gefallen, sie schien ihnen plausibel und so ist es dann geblieben. Heute hat sich diese Version in ein Dogma verwandelt.

Warum nehmen die meisten die Selbstmord-These einfach so hin? Ganz einfach: Wie ist der akademische Diskurs aufgebaut? Und das halte ich für wirklich wichtig: Zitat über Zitat über Zitat. Und niemand sieht sich die Quelle genauer an.

Sprecher A-OV: Oft wird Geschichte auf Grundlagen konstruiert, die es nicht gibt. Es wird eine Realität erzeugt, die keiner Überprüfung standhält.

Regie: Atmo Portbou

Sprecherin B-OV: Wir befinden uns auf dem Friedhofshügel von Portbou. Wir blicken auf das Meer und auf die Klippen, die direkt nach Frankreich führen, wir sind nur einen Kilometer von der Grenze entfernt.

Autor: Pilar Parcerisas, Kunsthistorikerin und Kuratorin, steht auf einer Anhöhe und blickt über Portbou. Linkerhand toben Kinder am Strand, rechterhand fallen die Klippen jäh ab ins Meer.

Sprecherin B-OV: Es ist ein Ort, an dem im spanischen Bürgerkrieg 300.000 Menschen ins Exil nach Frankreich geflohen sind, aber auch ein Ort, an dem kurz darauf viele deutsche Intellektuelle die Grenze überschritten haben. Heinrich Mann, Alma Mahler, Franz Werfel und viele andere.

Auch viele jüdische Flüchtlinge wurden durch die Tunnel der Züge nach Portbou geschleust. Diese Landschaft ist ein Paradies – und gleichzeitig wissen wir, dass diese schrecklichen Dinge hier passiert sind, wissen wir von der historischen Schuld.

Sprecherin: Um diesem historischen Ort zu gedenken, entwarf der israelische Künstler Dani Karavan ein Memorial, das heute weltberühmt ist: „Passagen“, eine Hommage an Walter Benjamin und alle, die folgten – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof von Portbou.

Sprecher (Zitation Dani Karavan 13): „Auf dem Friedhof habe ich verstanden, dass an der Stelle, wo Benjamin ruht – und niemand weiß genau wo auf dem Friedhof –, dass nur dort der Ort sein kann, um sein Andenken aufzuzeigen, wie auch seine Tragödie [...].

Das Geräusch der Züge, von dem großen Grenzbahnhof her, wie das Geräusch der Deportation zu den Lagern. Der Tod, die Grenze, die Hoffnung; ich hatte keine andere Wahl, ich hatte gar keine Wahl, alles wurde mir diktiert.

Regie: Atmo Memorial

Autor: Wer heute das Memorial besucht, sieht als erstes einen Tunnel aus rostigem Stahl.

Er ist in den Fels getrieben, 84 Stufen geht es nach unten. Jeder Schritt hallt wider. Dunkelheit. Am Ende ein kleines Fenster, das größer wird, je näher man herantritt.

Nur Wasser ist zu sehen und ein Fels, um den die Wellen spielen. Reflektierendes Licht im Wasser. Und dann, bei der nächsten Stufe, öffnet sich der Horizont, der Tunnel ist zu Ende. Bei den letzten Stufen scheint der Abhang nah, doch eine Platte aus Glas versperrt den Weg, darauf eingraviert der berühmte Benjamin-Satz:

„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“

Sprecherin: Walter Benjamin ist heute an dem Ort, an dem er starb, kein Namenloser mehr. Auch Benjamins geschichtsphilosophische Thesen sind heute nicht vergessen. Die historischen Umstände sind heute zwar andere als zur Zeit ihrer Entstehung. Aber die Idee, Geschichte nicht als Fortschritt zu begreifen, ist ungebrochen aktuell.

OT 17 - Ursula Marx: Ich glaube aus diesem Gedanken heraus, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Seit Jahren (...) werden wir unterdrückt und falsch behandelt. Wir sind Opfer von

Gewalt, und wir müssen das ändern. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.

Sprecherin: Walter Benjamins Geschichtsphilosophie wird heute hauptsächlich in Ländern außerhalb Europas gelesen. Überall dort, wo Menschen auf die Straße gehen und ihre Rechte geltend machen. Wo sich die Unterdrückten zu Wort melden.

In Kriegen, in politischer Unfreiheit, in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem zeigen sich die Risse und Schründe einer kaputten Welt.

OT 18 - Claudia Kalász: Ich denke, da müssen wir uns auch mal fragen: Wie geht's uns denn eigentlich mit unserer Vergangenheit? Wann können wir sie uns aneignen, in welchen Situationen?

Sprecherin: Claudia Kalász, Walter Benjamin-Kennerin aus Barcelona.

Auch hierzulande hat der Philosoph nicht an Aktualität verloren. Denn unsere Gegenwart ist auf jenen Trümmern der Vergangenheit gebaut, die Benjamin beschrieben hat.

OT 19 - Claudia Kalász: Die Rettung. Auferstanden aus den Trümmern. Tatsächlich in Deutschland präsentiert sich das erstmal so als Bild der Heilung. Bloß was für eine Heilung hat denn da stattgefunden? Der Wohlstand wurde teuer erkauft. Im Wohlstand, in den Bildern des Wohlstands sind vielleicht gerade diese menschlichen Aspekte und dieser politische Wille zur Freiheit und zur Selbstverwaltung untergegangen.

Sprecher (Zitation Benjamin 14): „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte.

Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“

Sprecherin: Auch heute ist das Versprechen des Fortschritts oft zu hören. Doch dass der Pfad des Wachstums und des ‚Weiter so' keine Zukunft hat, wird in der herannahenden Klimakrise zur bitteren Erkenntnis.

Walter Benjamin zeigt uns: Emanzipation besteht gerade darin, aus dem Lauf der Geschichte auszubrechen.

Sprecherin B-OV: Fortschritt gibt es nicht gratis, er hat seinen Preis. Das müssen wir verstehen, wenn wir unsere Welt verbessern wollen. Aber wir halten nicht inne, um nachzudenken. Wir machen weiter, immer mehr und immer mehr und immer schneller und immer schneller. Die Geschwindigkeit bringt uns den Krieg und die ökologische Krise und die Wirtschaftskrise.

Sprecherin B-OV: Es kann nicht nur einen Gott geben, den Gott des Fortschritts und den Gott des Geldes.

Es muss eine andere Dialektik geben, und ich denke, dass uns Benjamin in diesem Zusammenhang eine Tür öffnet, hin zu einer neuen Dimension. Es ist das, was Benjamin heute noch so relevant und auch posthum so erfolgreich macht. Seine Intuition wurde nicht widerlegt, sie ist immer noch gültig.

Sprecherin B-OV: Solange die Geschichte das alles nicht überwunden hat, wird auch der Name Benjamin nicht verschwinden.

Regie: Musik

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MANUSKRIPT

Regie: Musik

Sprecher (Zitation Benjamin 1): „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Speaker (citation Benjamin 1): "The concept of progress is to be grounded in the idea of catastrophe. Relatore (cit. Benjamin 1): “Il concetto di progresso deve essere basato sull'idea di catastrofe. Dass es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe.“ Il fatto che continui 'così' è la catastrofe».

Sprecherin: Walter Benjamin, deutsch-jüdischer Intellektueller, Literaturkritiker, Philosoph blickt Ende der 30er Jahre auf Europa. Narrator: Walter Benjamin, German-Jewish intellectual, literary critic, philosopher looks at Europe in the late 1930s. Was er sieht, ist ein Trümmerhaufen: Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus. What he sees is a pile of ruins: World War II, the Great Depression, the rise of fascism. Leid, Elend, Gewalt. Suffering, misery, violence. Die Schattenseiten der modernen Gesellschaft treten offen zutage. The darker sides of modern society come to light.

Sprecher (Zitation Benjamin 2): „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Speaker (citation Benjamin 2): "It is never a document of culture without at the same time being one of barbarism. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht.“ And just as it is not free of barbarism, neither is the process of transmission."

Sprecherin: Im September 1940 stirbt Walter Benjamin auf der Flucht vor dem NS-Regime. Sein Vermächtnis: eine radikale Fortschrittskritik. Fortschritt, das ist für Benjamin eine Ideologie der Herrschenden, die das Leid der Unterdrückten nur notdürftig kaschiert. For Benjamin, progress is an ideology of the rulers that only makes do with concealing the suffering of the oppressed. Per Benjamin il progresso è un'ideologia dei governanti che nasconde a malapena la sofferenza degli oppressi.

OT 01 - Ursula Marx: Wenn wir zum Beispiel an die Ausnahmezustände in Hongkong denken, in den USA, die Black Lives Matter Bewegung, Massenproteste in Chile, Frankreich, die Situation in Brasilien, Russland, der Türkei. OT 01 - Ursula Marx: Se pensiamo, per esempio, agli stati di emergenza a Hong Kong, negli USA, al movimento Black Lives Matter, alle proteste di massa in Cile, Francia, alla situazione in Brasile, Russia, Turchia. Das sind Gründe, warum Benjamin immer noch aktuell ist. These are reasons why Benjamin is still relevant.

Sprecherin: Heute ist die Welt nur vordergründig eine andere. Narrator: Today, the world is only superficially different. Kriege, Krisen, Ausbeutung und Ausnahmezustände bestimmen noch immer den Lauf der Welt. Wars, crises, exploitation and states of emergency still determine the course of the world.

OT 02 - Ursula Marx: Ich glaube, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Wir sind Opfer von Gewalt, und wir müssen das ändern. OT 02 - Ursula Marx: Credo che soprattutto nelle situazioni di crisi, nelle situazioni di protesta, le persone rendano fruttuoso questo pensiero e dicano: siamo vittime di violenza e dobbiamo cambiarlo. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.

Ansage: „Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts“. Von Philipp Lemmerich.

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Walter Benjamin wird 1892 als Sohn des Kunsthändlers Emil Benjamin und dessen Frau Pauline in Berlin-Charlottenburg geboren. Die Familie gehört dem assimilierten Judentum an und hat es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einigem Wohlstand gebracht. 1917 heiratet Benjamin die Journalistin Dora Sophie Kellner und versucht sich zunächst an einer Universitätskarriere. Obwohl er mit summa cum laude promoviert, scheitert er mit seiner Habilitationsschrift zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ 1925 an der Universität Frankfurt. Although he graduates summa cum laude, he fails with his habilitation thesis on the "Origin of the German Trauerspiel" in 1925 at the University of Frankfurt. Sein Stil: zu unorthodox für den akademischen Betrieb. His style: too unorthodox for the academic establishment.

In den Blütejahren der Weimarer Republik macht sich Benjamin als Autor und Literaturkritiker einen Namen. Er verfasst unzählige Aufsätze und Radiosendungen, übersetzt Marcel Proust aus dem Französischen und schult seine philosophischen Überlegungen in Briefwechseln, die heute ganze Bände füllen: Bertolt Brecht, Theodor Adorno, Gershom Scholem, und viele andere. He wrote countless essays and radio broadcasts, translated Marcel Proust from French, and schooled his philosophical reflections in correspondences that today fill entire volumes: Bertolt Brecht, Theodor Adorno, Gershom Scholem, and many others. Er bereist Europa und reflektiert über Kunst, Kultur, Ästhetik.

Doch als jüdischer Intellektueller hat Benjamin ein feines Gespür für die Brüche in der Gesellschaft, in denen zunehmend der Faschismus gedeiht. But as a Jewish intellectual, Benjamin has a keen sense of the fractures in society in which fascism increasingly thrives. 1932 notiert er:

Sprecher (Zitation Benjamin 3): „Pessimismus auf der ganzen Linie. Speaker (citation Benjamin 3): "Pessimism all along the line. Misstrauen in das Geschick der Literatur, Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Misstrauen und Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung; zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen.“

Sprecherin: Benjamins düstere Prophezeiungen treten ein. Narrator: Benjamin's dark prophecies come to pass. Im Nazi-Deutschland wird er zum Geächteten. In Nazi Germany, he becomes an outlaw. Im September 1933, ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung, flieht er ins Exil nach Paris.

Regie: Trenner Atmo

Sprecherin: Finanziell ist das Exil für Benjamin ein Desaster. Narrator: Financially, the exile is a disaster for Benjamin. Einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: ohne Sprachrohr, ohne Zuhörerschaft, ohne Einkommen. An seinen Freund Gershom Scholem schreibt er verbittert:

Sprecher (Zitation Benjamin 4): „Es steht so, dass unter den verschiedenen Gefahrenzonen, in die sich die Erde für die Juden aufteilt, für mich Frankreich gegenwärtig die bedrohlichste ist, weil ich hier ökonomisch vollkommen isoliert stehe.“ Spokesman (citation Benjamin 4): "It so stands that among the various danger zones into which the earth is divided for the Jews, France is at present the most threatening for me, because here I stand completely isolated economically."

Sprecherin: Doch auch abseits seiner persönlichen Situation stellt sich Benjamin die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Narrator: But even apart from his personal situation, Benjamin asks himself the question: How could it come to this? Wie konnte aus Europa ein Kontinent des Schreckens werden?

Immer wieder bleiben seine Gedanken an einer Aquarellzeichnung des expressionistischen Malers Paul Klee hängen, die Benjamin 1920 gekauft hat. Again and again, his thoughts linger on a watercolor drawing by the expressionist painter Paul Klee that Benjamin bought in 1920. Darauf zu sehen: ein Engel, der mit aufgerissenen Augen etwas anzustarren scheint. Su di esso puoi vedere: un angelo che sembra fissare qualcosa con gli occhi spalancati. Der Engel der Geschichte.

Sprecher (Zitation Benjamin 5): „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Oratore (citazione Benjamin 5): “Ha rivolto la sua faccia al passato. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Where a chain of events appears before us, he sees a single catastrophe that ceaselessly heaps rubble upon rubble and hurls it at his feet."

OT 03 - Claudia Kalász: Dieser Engel der Geschichte, der sieht das, was in der traditionellen Geschichtsschreibung als Kontinuum beschrieben wird, als einen Trümmerhaufen. Dieses Kontinuum – dass die herrschenden Verhältnisse, Eigentumsverhältnisse, Produktionsverhältnisse, so wie sie sind, immer weiter perpetuiert werden – das ist die Katastrophe, und das ist die zerstörende Kraft. This continuum - that the ruling relations, property relations, production relations, as they are, are perpetuated - that is the catastrophe, and that is the destructive force.

Sprecherin: Claudia Kalász, Philosophin und Benjamin-Kennerin aus Barcelona.

OT 04 - Jörg Rudolf Zimmer: Diese Exil-Zeit, die biografisch und persönlich in diesem politischen Zusammenhang natürlich sehr, sehr schlimm für ihn war, verbindet sich dann mit einer theoretischen Sicht auf Geschichte, die sowieso von Anfang an niemals etwas mit Fortschrittsoptimismus zu tun gehabt hat. OT 04 - Jörg Rudolf Zimmer: This time in exile, which was of course very, very bad for him biographically and personally in this political context, is then combined with a theoretical view of history, which in any case never had anything to do with optimism about progress from the very beginning.

Sprecherin: Jörg Rudolf Zimmer, Professor für Philosophie an der katalanischen Universität Girona.

OT 05 - Jörg Rudolf Zimmer: Der Hintergrund ist die eigentliche Geschichtswissenschaft, (...) der sogenannte Historismus, und der geht davon aus, (...) so eine Art von Positivismus, dass man nur alles zusammensuchen muss. OT 05 - Jörg Rudolf Zimmer: The background is the actual science of history, (...) the so-called historicism, and it assumes, (...) a kind of positivism, that you only have to gather everything together. Und wenn man alle Dokumente einer Epoche hat, dann hat man sozusagen (...) das Puzzle zusammengesetzt. And when you have all the documents of an era, then you have, so to speak, (...) put the puzzle together. Das ist die Idee der klassischen Historiker im 19. Jahrhundert, und das ist genau die Idee, gegen die Benjamin argumentiert. Das Puzzle ist nicht zu rekonstruieren, weil nämlich es immer auf einer Konstruktion beruht. The puzzle cannot be reconstructed because namely it is always based on a construction. Und Konstruktion heißt nichts anderes als ein Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit. And construction means nothing other than a relationship between the present and the past.

Sprecher (Zitation Benjamin 6): Ein Sturm treibt den Engel unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Speaker (Citation Benjamin 6): A storm drives the angel inexorably into the future, to which he turns his back, while the heap of debris before him grows toward heaven. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Sprecherin: Im Sommer 1940 treten die Trümmer der Geschichte offen zutage. Narrator: In the summer of 1940, the ruins of history come to light. Nazi-Deutschland unterjocht Europa, der Siegeszug des Faschismus scheint unaufhaltsam. Benjamin

ist nun schon seit sieben Jahren im Exil in Paris und geht beflissentlich Tag für Tag von seiner kleinen Wohnung im XV. Arrondissement in die Bibliothèque Nationale. Doch er ahnt, dass seine Zeit begrenzt ist. But he suspects that his time is limited.

OT 06 - Stéphane Hessel (+ Sprecher Übersetzung) OT 06 - Stéphane Hessel (+ speaker translation)

Sprecher A-OV: In diesem Jahr 1940, als die deutsche Armee allgegenwärtig war, als die Vernichtung der Juden bereits begonnen hatte, hatten die Demokratien nichts mehr entgegenzusetzen. Speaker A-OV: In that year 1940, when the German army was omnipresent, when the extermination of the Jews had already begun, the democracies had nothing to oppose.

Sprecherin: Stéphane Hessel, französischer Intellektueller, in einem Dokumentarfilm des spanisch-argentinischen Filmemachers David Mauas.

Sprecher A-OV: Für Benjamin, ein überzeugter Demokrat, bedeutete das ein Gefühl tiefen Misstrauens. Speaker A-OV: For Benjamin, a staunch Democrat, this meant a sense of deep distrust. Er fühlte, dass er Recht gehabt hatte, als er sagte, dass Geschichte rückwärtsgewandt sei wie der Engel von Paul Klee und dass der Fortschritt Angst bescherte." He felt he had been right when he said that history was backward looking like Paul Klee's angel and that progress brought fear."

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Für Walter Benjamin ist klar: Die Keime des Faschismus, die im 20. Jahrhundert aufgehen, wurden schon viel früher gesät. The seeds of the twenty-first century were sown much earlier. Der Faschismus ist nicht der Epochenbruch. Il fascismo non è la rottura di un'epoca. Der Faschismus geht aus dem Fortschrittsglauben der Moderne hervor. Fascism emerges from the belief in progress of modernity. Il fascismo nasce dalla moderna credenza nel progresso. Und doch lässt Benjamin Raum für einen Ausweg. And yet Benjamin leaves room for a way out.

Sprecher (Zitation Benjamin 7): „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst.“ Speaker (citing Benjamin 7): "The subject of historical knowledge is the struggling, oppressed class itself." Relatore (citazione Benjamin 7): "Il soggetto della conoscenza storica è la stessa classe combattente e oppressa".

Sprecherin: Wer mit dem Kontinuum der Zeit bricht, wer die Fortschrittsideologie als Technik der Herrschenden erkennt, kann in der Vergangenheit Elemente der Subversion erkennen. Speaker: Whoever breaks with the continuum of time, whoever recognizes the ideology of progress as a technique of the rulers, can recognize elements of subversion in the past. Kann die wirklichen, die radikalen Fragen stellen.

OT 08 - Ursula Marx: Sein Interesse liegt nicht darin zu erfassen, was in der Vergangenheit gewesen ist, sondern in dem, was einmal möglich gewesen war, aber nicht zur Geltung gekommen ist. OT 08 - Ursula Marx: His interest is not in grasping what has been in the past, but in what had once been possible but had not come to fruition. Das sind die Geschichten, die Stimmen der Unterdrückten oder der von der Geschichte einfach Übersehenen. These are the stories, the voices of the oppressed or those simply overlooked by history.

Sprecherin: Ursula Marx, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walter-Benjamin-Archiv in Berlin.

OT 09 - Jörg Rudolf Zimmer: Der innerste Sinn dieses Verfahrens ist Kritik, nämlich Kritik an einer Geschichte, die immer nur die Tradition der Herrschenden ist. OT 09 - Jörg Rudolf Zimmer: The innermost sense of this procedure is criticism, namely criticism of a history that is always only the tradition of the rulers. Und es geht darum, die andere Kultur sichtbar zu machen und auch ihr eine Stimme zu geben. And it's about making the other culture visible and also giving it a voice.

Sprecherin: Am 14. Juni 1940 marschiert die Wehrmacht in Paris ein. Benjamin hat bis zuletzt an seinen Manuskripten gearbeitet, er nimmt einen der letzten Züge nach Süden. Benjamin worked on his manuscripts until the very end, taking one of the last trains south. Vom Küstenstädtchen Banyuls-sur-Mer am Fuße der Pyrenäen aus will Benjamin durch Spanien nach Portugal und dann weiter mit dem Schiff nach New York. From the coastal town of Banyuls-sur-Mer at the foot of the Pyrenees, Benjamin wants to travel through Spain to Portugal and then on to New York by ship. Doch dafür muss er erst einmal aus Frankreich herauskommen. But to do so, he first has to get out of France. Die Zeit drängt, denn die Vichy- Regierung liefert Exilierte kompromisslos an die Deutschen aus. Time is pressing, because the Vichy government is uncompromisingly delivering exiles to the Germans.

Sprecherin B (Zitation Fittko 8): „Es ist jetzt schon über vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau daran, mit allen Einzelheiten. Speaker B (citation Fittko 8): "It's been over forty years now, but I remember it clearly, with all the details. Oder könnte es sein, dass ich es mir nur einbilde?

Sprecherin: Benjamin wird an die Widerstandskämpferin Lisa Fittko vermittelt, die Exilierte bei der Flucht über die Pyrenäen unterstützt. Narrator: Benjamin is placed with resistance fighter Lisa Fittko, who helps exiles escape across the Pyrenees. Speaker: Benjamin è riferito alla combattente della resistenza Lisa Fittko, che sostiene gli esuli nella loro fuga attraverso i Pirenei. Sie erinnert sich in ihren Memoiren:

Sprecherin B (Zitation Fittko 9): „Ich rieb mir die Augen – vor mir stand einer unserer Freunde, Walter Benjamin. Speaker B (citation Fittko 9): "I rubbed my eyes - in front of me stood one of our friends, Walter Benjamin.

‚Gnädige Frau', sagte er, ‚entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen' Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.“ 'Madam,' he said, 'I'm sorry to bother you, I hope I'm not inconvenienced' The world is coming apart at the seams, I thought, but Benjamin's courtesy is unwavering." "Signora," disse, "scusate il disturbo, spero di non essere di disturbo. Il mondo sta cadendo a pezzi, pensai, ma la cortesia di Benjamin è incrollabile".

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Die Gegend wird längst von der französischen Grenzpolizei und von der Gestapo überwacht. Narrator: The area has long been under surveillance by the French border police and the Gestapo. Fittko führt Benjamin und zwei weitere Emigranten über einen Pyrenäengipfel im Hinterland.

Regie: Atmo Wanderung

Autor: Heute heißt der Weg „Chemin Walter Benjamin“: Am Ortsausgang von Banyuls-sur- Mer weist eine große Infotafel auf ihn hin. Author: Today the path is called "Chemin Walter Benjamin": At the end of the village of Banyuls-sur- Mer, a large information board points it out.

Für meine Recherche will ich ihn entlangwandern. For my research, I want to hike along it. Voglio percorrerlo per la mia ricerca.

Ich will verstehen, wie Benjamin diesen Ort erlebt hat, als herzkranker Philosoph im Gebirge auf der Flucht. Es ist Nachmittag, als ich aufbreche. È pomeriggio quando parto. Eine sengende Hitze. Un caldo torrido.

Der Weg schlängelt sich durch Weinberge, lieblich schon fast. The path winds through vineyards, lovely almost. Il sentiero si snoda tra i vigneti, quasi incantevole. Nach zwei Stunden wird er steiler, unwegsamer, steiniger. Dopo due ore diventa più ripido, impervio e roccioso. Das staubige Geröll rutscht unter den Füßen weg. The dusty scree slides away from under your feet. Die Pyrenäen: dunkle Silhouetten im Sonnenlicht. I Pirenei: sagome scure alla luce del sole.

Nach drei Stunden der Gipfel, gleichzeitig Grenze und Ort der Rast. After three hours the summit, at the same time border and place of rest. Dopo tre ore la vetta, contemporaneamente confine e luogo di sosta. Den Grenzstein suche ich vergeblich. I look for the boundary stone in vain. Cerco invano la pietra di confine. Zu beiden Seiten des Bergkamms das Meer. Il mare su entrambi i lati del crinale. Rechterhand das spanische Städtchen Portbou, es kann nicht mehr weit sein. Sulla destra la città spagnola di Portbou, non può essere più lontana.

Regie: Trenner Musik

Autor: Der Abstieg wird noch steiler, noch steiniger, noch garstiger. Author: The descent becomes even steeper, even stonier, even nastier. Ein Weg kaum mehr erkennbar zwischen Geröll und stacheligem Gestrüpp. A path barely recognizable between boulders and prickly undergrowth. Un sentiero appena riconoscibile tra ghiaioni e sottobosco spinoso. Immer ist dort unten Portbou, das Ziel, aber es will nicht näherkommen.

Wer aus den Bergen nach Portbou gelangt, läuft auf eine riesige Mauer zu. Those who come to Portbou from the mountains run into a huge wall. Dort oben verbirgt sich der Bahnhof, 1929 eingeweiht, ein Ungetüm, Umschlagplatz, Güterbahnhof und heute, dank Schengen, seiner Funktion beraubt. Up there hides the train station, inaugurated in 1929, a monster, transhipment point, freight station and today, thanks to Schengen, deprived of its function. Nascosta lassù c'è la stazione, inaugurata nel 1929, mostro, punto di trasbordo, scalo merci e oggi, grazie a Schengen, privata della sua funzione. Wer hinab möchte ins Dorf, muss durch einen langen, feuchten Tunnel. If you want to go down to the village, you have to go through a long, wet tunnel. Se vuoi scendere al villaggio, devi attraversare un lungo tunnel umido. Fledermäuse flattern durch das Dämmerlicht. Bats flutter through the twilight. I pipistrelli svolazzano nel crepuscolo.

Sprecherin: Am 26. September 1940 kommen Walter Benjamin, seine Reisebegleiterin Henny Gurland und deren Sohn Josef nach zehn Stunden Marsch in Portbou an. Doch aus der vermeintlichen Freiheit wird eine Falle: Die spanische Grenzpolizei verbietet ihnen die Weiterreise: But their supposed freedom turns into a trap: the Spanish border police forbid them to continue their journey:

Eine neue Anordnung, ihnen fehle der französische Ausreisestempel, ohne den gehe es nicht weiter. A new order, they lacked the French exit stamp, without which it goes no further. Am Folgetag sollen sie zurück nach Frankreich deportiert werden.

Doch soweit kommt es nicht. Am nächsten Morgen ist Walter Benjamin tot. The next morning, Walter Benjamin is dead. Er habe eine Überdosis Morphium genommen, wird seine Reisebegleiterin Henny Gurland berichten. Seinen vermeintlichen Abschiedsbrief schreibt sie später aus dem Gedächtnis nieder – das Original habe sie aus Angst vernichten müssen. She later writes down his supposed farewell letter from memory - she had to destroy the original out of fear.

(Regie: z. B. französisch / deutsch im Wechsel, evtl. mit Frauenstimme Sprecherin 1 überlagern)

Sprecher (Zitation Benjamin 10): – In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Speaker (Citation Benjamin 10): - In this hopeless situation, I have no other option but to end it.

Sprecher (Zitation Benjamin): – In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Wo mich niemand kennt, wird mein Leben ein Ende finden. Speaker (Citation Benjamin): - Where no one knows me, my life will come to an end.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe.

Sprecher (Zitation Benjamin): – Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben,

Sprecher (Zitation Benjamin): – die ich gerne geschrieben hätte.

Sprecherin: Nur einen Tag später wird die Anordnung der spanischen Behörden aufgehoben. Spokeswoman: Only one day later, the order of the Spanish authorities is lifted. Der Weg durch Spanien wäre wieder frei gewesen.

Sprecher (Zitation Benjamin 11): „So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns.“ Speaker (citing Benjamin 11): "So then, as Kafka says, there is infinite hope, just not for us."

Sprecherin: Der Mensch Walter Benjamin ist gescheitert. Speaker: The man Walter Benjamin has failed. Auf der Flucht vor dem Faschismus fand er den Tod. Ein Schicksal, in dem sich Europas blutige Geschichte des 20.

Jahrhunderts wie in einem Brennglas zeigt. Doch der Philosoph Walter Benjamin lässt auch noch in der Katastrophe ein Moment der Hoffnung zu.

Sprecher (Zitation Benjamin 12): „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Speaker (citation Benjamin 12): "As is well known, the Jews were forbidden to investigate the future. (...). Den Juden wurde die Zukunft aber darum nicht zur homogenen und leeren Zeit. For the Jews, however, the future did not become a homogeneous and empty time. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“ For in her every second was the little gate through which the Messiah could enter."

OT 10 - Claudia Kalász: Ich denke, es steckt in dem Wunsch der Rettung. OT 10 - Claudia Kalász: I think it is in the desire of salvation. Der Wunsch der Rettung von etwas, was verloren ist, ist nicht zu denken, ohne etwas Transzendentes, das die Realität übersteigt. The desire of saving something that is lost cannot be thought without something transcendent that transcends reality. Kant hätte gesagt, das ist eine regulative Idee.

Sprecherin: In einem Moment in der Geschichte, in der es keinen Ausweg aus der Verdammnis des Faschismus zu geben scheint, verortet Benjamin die Rettung in der Erlösung. Narrator: At a moment in history when there seems to be no way out of the damnation of fascism, Benjamin locates salvation in redemption.

OT 11 - Claudia Kalász: Diese theologische Komponente ist weltlich, ist nicht transzendental. OT 11 - Claudia Kalász: Questa componente teologica è mondana, non trascendentale. Das ist profane Erleuchtung. This is profane enlightenment. Es ist wichtig für uns irdische Menschen, es ist die Verwirklichung der Leitidee der Erlösung in unserem Leben. È importante per noi uomini terreni, è la realizzazione del principio guida della salvezza nella nostra vita. Etwas, was wir vielleicht nie vollständig erreichen können. Die vollkommen erlöste Menschheit ist sicherlich unerreichbar in unserem kontingenten Leben. Perfectly redeemed humanity is certainly unattainable in our contingent lives. L'umanità pienamente redenta è certamente irraggiungibile nella nostra vita contingente. Aber als regulative Idee, als leitende Idee ist sie wichtig, damit wir nicht in den Alltagsgeschäften steckenbleiben. But as a regulative idea, as a guiding idea, it is important so that we don't get stuck in the day-to-day business. Ma come idea regolatrice, come idea guida, è importante per non rimanere bloccati negli affari di tutti i giorni.

Sprecherin: Die Geschichte der Menschheit ist nicht auf ewig dazu verdammt, Unheilsgeschichte zu sein. Speaker: The history of mankind is not eternally doomed to be history of doom. Doch es braucht einen Boten, der über das Bestehende hinausweist. But it needs a messenger who points beyond the existing. Ma ciò che serve è un messaggero che punti al di là di ciò che già esiste. Ein messianisches Erwachen.

Regie: Trenner Musik

Sprecherin: Schon wenige Tage später erfahren Benjamins Kollegen und Freunde von seinem Tod in Portbou. Sie gehen fest von einem Suizid aus. They firmly believe it was a suicide. Erst Jahrzehnte später kommen Zweifel auf. Wie verlässlich ist ein rekonstruierter Abschiedsbrief – wie der von Henny Gurland? How reliable is a reconstructed suicide note - like Henny Gurland's? Wie tragfähig sind Memoiren, die 40 Jahre später aufgeschrieben wurden – wie die von Lisa Fittko? How viable are memoirs written down 40 years later - like Lisa Fittko's?

Sprecher A-OV: Dieses schon fast detektivische Rätsel zog mich unfassbar an. Speaker A-OV: This almost detective mystery drew me in beyond belief. Speaker A-OV: Questo puzzle quasi da detective mi ha attratto incredibilmente. Es passte einfach alles nicht zusammen. Everything just didn't fit together. Semplicemente non andava d'accordo. Wenn man ein Organigramm der beteiligten Charaktere zeichnet, sieht man, dass sich nichts mit Sicherheit sagen lässt. If you draw an organizational chart of the characters involved, you can see that nothing can be said with certainty. Se disegni un organigramma dei personaggi coinvolti, puoi vedere che nulla può essere detto con certezza.

Dazu tauchte eine Frage auf, die mit Benjamins Gedanken zusammenhängt: Wie und auf welche Weise wird Geschichte weitergetragen, wie verstehen wir sie, wie erreicht sie die Gegenwart? To this end, a question emerged that is related to Benjamin's thought: How and in what way is history carried forward, how do we understand it, how does it reach the present? Inoltre, è sorta una domanda che è legata al pensiero di Benjamin: come e in che modo si svolge la storia, come la comprendiamo, come arriva al presente? Oder um es anders zu sagen: Wie wird die Legende konstruiert? Or to put it another way, how is the legend constructed?

Autor: Wenn Geschichte eine Konstruktion der Nachwelt ist – warum sollte das dann nicht auch auf die Umstände von Benjamins Tod zutreffen? Author: If history is a construction of posterity - why shouldn't that also apply to the circumstances of Benjamin's death? Autore: Se la storia è una costruzione dei posteri, perché non dovrebbe essere così anche per le circostanze della morte di Benjamin? Diese Frage stellte sich der argentinische Filmemacher David Mauas am Anfang einer jahrelangen Recherche. In detektivischer Kleinarbeit trug er alle Unstimmigkeiten zusammen, die Benjamins Tod umgaben. In detective-like detail, he collected all the discrepancies that surrounded Benjamin's death. In un lavoro investigativo dettagliato, ha riunito tutte le discrepanze che circondano la morte di Benjamin. Sein Film „Wer tötete Walter Benjamin?“ wurde 2005 veröffentlicht.

Regie: Ausschnitt Film als Atmo Regia: estratto dal film come atmosfera

Sprecherin: Der Besitzer der Pension, in der Benjamin starb: erwiesenermaßen ein Faschist. Narrator: The owner of the boarding house where Benjamin died: proven to be a fascist. Der Totenschein: ausgestellt von einem Arzt, der nicht vor Ort sein konnte. The death certificate: issued by a doctor who could not be on site. Il certificato di morte: rilasciato da un medico che non poteva essere presente.

Auf dem Totenschein eine andere Todesursache als in Gurlands Erinnerung, ein anderes Sterbedatum als im Kirchenregister. On the death certificate a different cause of death than Gurland remembers, a different date of death than in the church register. Sul certificato di morte una causa di morte diversa da quella nella memoria di Gurland, una data di morte diversa da quella nel registro della chiesa. Benjamin – Kommunist, Jude, Selbstmörder – begraben auf einem katholischen Friedhof? Benjamin - communist, Jew, suicide - buried in a Catholic cemetery? Und war die Gestapo nicht längst in Portbou vor Ort? And hadn't the Gestapo been on the scene in Portbou for a long time?

Sprecher A-OV: Ich wollte den Namenlosen dieser Geschichte eine Stimme geben. All die Akademiker und Historiker, die über Benjamin in Portbou gesprochen oder geschrieben haben, haben sich nicht die Mühe gemacht, die Menschen in Portbou zu fragen, was sie dachten oder was passiert sein könnte. All the academics and historians who have spoken or written about Benjamin in Portbou have not bothered to ask the people of Portbou what they thought or what might have happened. Ich finde das ungeheuerlich. Penso che sia scandaloso.

Regie: Ausschnitt Film als Atmo

Sprecher A-OV: Die Idee von Benjamins Selbstmord hat ihnen gefallen, sie schien ihnen plausibel und so ist es dann geblieben. Speaker A-OV: They liked the idea of Benjamin's suicide, it seemed plausible to them, and that's how it stayed. Heute hat sich diese Version in ein Dogma verwandelt. Today, this version has turned into dogma.

Warum nehmen die meisten die Selbstmord-These einfach so hin? Why do most people just accept the suicide thesis? Ganz einfach: Wie ist der akademische Diskurs aufgebaut? Quite simply, how is academic discourse structured? Und das halte ich für wirklich wichtig: Zitat über Zitat über Zitat. And that's what I think is really important: quote after quote after quote. Und niemand sieht sich die Quelle genauer an.

Sprecher A-OV: Oft wird Geschichte auf Grundlagen konstruiert, die es nicht gibt. Speaker A-OV: Often history is constructed on foundations that do not exist. Es wird eine Realität erzeugt, die keiner Überprüfung standhält. A reality is created that does not stand up to scrutiny.

Regie: Atmo Portbou

Sprecherin B-OV: Wir befinden uns auf dem Friedhofshügel von Portbou. Wir blicken auf das Meer und auf die Klippen, die direkt nach Frankreich führen, wir sind nur einen Kilometer von der Grenze entfernt.

Autor: Pilar Parcerisas, Kunsthistorikerin und Kuratorin, steht auf einer Anhöhe und blickt über Portbou. Linkerhand toben Kinder am Strand, rechterhand fallen die Klippen jäh ab ins Meer. To the left, children romp on the beach; to the right, the cliffs drop abruptly into the sea. A sinistra, i bambini si scatenano sulla spiaggia, a destra le scogliere cadono improvvisamente in mare.

Sprecherin B-OV: Es ist ein Ort, an dem im spanischen Bürgerkrieg 300.000 Menschen ins Exil nach Frankreich geflohen sind, aber auch ein Ort, an dem kurz darauf viele deutsche Intellektuelle die Grenze überschritten haben. Heinrich Mann, Alma Mahler, Franz Werfel und viele andere.

Auch viele jüdische Flüchtlinge wurden durch die Tunnel der Züge nach Portbou geschleust. Diese Landschaft ist ein Paradies – und gleichzeitig wissen wir, dass diese schrecklichen Dinge hier passiert sind, wissen wir von der historischen Schuld.

Sprecherin: Um diesem historischen Ort zu gedenken, entwarf der israelische Künstler Dani Karavan ein Memorial, das heute weltberühmt ist: „Passagen“, eine Hommage an Walter Benjamin und alle, die folgten – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof von Portbou. Speaker: To commemorate this historic site, Israeli artist Dani Karavan designed a memorial that is now world-famous: "Passages," a tribute to Walter Benjamin and all who followed - in the immediate vicinity of the Portbou cemetery.

Sprecher (Zitation Dani Karavan 13): „Auf dem Friedhof habe ich verstanden, dass an der Stelle, wo Benjamin ruht – und niemand weiß genau wo auf dem Friedhof –, dass nur dort der Ort sein kann, um sein Andenken aufzuzeigen, wie auch seine Tragödie [...]. Speaker (citing Dani Karavan 13): "In the cemetery I understood that in the place where Benjamin rests - and no one knows exactly where in the cemetery - that only there can be the place to show his memory, as well as his tragedy [...].

Das Geräusch der Züge, von dem großen Grenzbahnhof her, wie das Geräusch der Deportation zu den Lagern. The sound of trains, from the big border station, like the sound of deportation to the camps. Der Tod, die Grenze, die Hoffnung; ich hatte keine andere Wahl, ich hatte gar keine Wahl, alles wurde mir diktiert. Death, the border, hope; I had no other choice, I had no choice at all, everything was dictated to me.

Regie: Atmo Memorial

Autor: Wer heute das Memorial besucht, sieht als erstes einen Tunnel aus rostigem Stahl.

Er ist in den Fels getrieben, 84 Stufen geht es nach unten. It is driven into the rock, 84 steps go down. Jeder Schritt hallt wider. Ogni passo riecheggia. Dunkelheit. Am Ende ein kleines Fenster, das größer wird, je näher man herantritt. At the end, a small window that gets bigger the closer you get.

Nur Wasser ist zu sehen und ein Fels, um den die Wellen spielen. Only water can be seen and a rock around which the waves play. Reflektierendes Licht im Wasser. Reflecting light in the water. Und dann, bei der nächsten Stufe, öffnet sich der Horizont, der Tunnel ist zu Ende. Bei den letzten Stufen scheint der Abhang nah, doch eine Platte aus Glas versperrt den Weg, darauf eingraviert der berühmte Benjamin-Satz: At the last steps, the slope seems close, but a plate of glass blocks the way, engraved on it the famous Benjamin sentence: Agli ultimi gradini la salita sembra vicina, ma sbarra la strada una lastra di vetro, sulla quale è incisa la famosa frase di Benjamin:

„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. "It is harder to honor the memory of the nameless than that of the famous. “È più difficile onorare la memoria dei senza nome che quella dei famosi. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ To the memory of the nameless is consecrated the historical construction." La costruzione storica è dedicata alla memoria dei senza nome."

Sprecherin: Walter Benjamin ist heute an dem Ort, an dem er starb, kein Namenloser mehr. Speaker: Today, Walter Benjamin is no longer a nameless man in the place where he died. Auch Benjamins geschichtsphilosophische Thesen sind heute nicht vergessen. Die historischen Umstände sind heute zwar andere als zur Zeit ihrer Entstehung. It is true that the historical circumstances are different today than they were at the time of its creation. Aber die Idee, Geschichte nicht als Fortschritt zu begreifen, ist ungebrochen aktuell. But the idea of not seeing history as progress is still relevant.

OT 17 - Ursula Marx: Ich glaube aus diesem Gedanken heraus, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Seit Jahren (...) werden wir unterdrückt und falsch behandelt. OT 17 - Ursula Marx: I believe from this thought that especially in crisis situations, in protest situations, people make this thought fruitful and say: For years (...) we have been oppressed and treated wrongly. Wir sind Opfer von

Gewalt, und wir müssen das ändern. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.

Sprecherin: Walter Benjamins Geschichtsphilosophie wird heute hauptsächlich in Ländern außerhalb Europas gelesen. Relatore: La filosofia della storia di Walter Benjamin è oggi letta soprattutto nei paesi extraeuropei. Überall dort, wo Menschen auf die Straße gehen und ihre Rechte geltend machen. Ovunque le persone scendono in piazza e fanno valere i propri diritti. Wo sich die Unterdrückten zu Wort melden.

In Kriegen, in politischer Unfreiheit, in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem zeigen sich die Risse und Schründe einer kaputten Welt. In wars, in political unfreedom, in an exploitative economic system, the cracks and crevices of a broken world are revealed. Nelle guerre, nella schiavitù politica, in un sistema economico di sfruttamento, vengono rivelate le crepe e le crepe di un mondo distrutto.

OT 18 - Claudia Kalász: Ich denke, da müssen wir uns auch mal fragen: Wie geht's uns denn eigentlich mit unserer Vergangenheit? Wann können wir sie uns aneignen, in welchen Situationen? When can we appropriate them, in what situations? Quando possiamo acquisirli, in quali situazioni?

Sprecherin: Claudia Kalász, Walter Benjamin-Kennerin aus Barcelona.

Auch hierzulande hat der Philosoph nicht an Aktualität verloren. Even in this country, the philosopher has not lost his relevance. Denn unsere Gegenwart ist auf jenen Trümmern der Vergangenheit gebaut, die Benjamin beschrieben hat. For our present is built on those ruins of the past that Benjamin described.

OT 19 - Claudia Kalász: Die Rettung. Auferstanden aus den Trümmern. Tatsächlich in Deutschland präsentiert sich das erstmal so als Bild der Heilung. Bloß was für eine Heilung hat denn da stattgefunden? Der Wohlstand wurde teuer erkauft. The prosperity was bought dearly. Im Wohlstand, in den Bildern des Wohlstands sind vielleicht gerade diese menschlichen Aspekte und dieser politische Wille zur Freiheit und zur Selbstverwaltung untergegangen. In the prosperity, in the images of prosperity, perhaps these very human aspects and this political will for freedom and self-government have been lost.

Sprecher (Zitation Benjamin 14): „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte.

Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. But perhaps this is completely different. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ Perhaps revolutions are the grasp of the human race traveling in this wake for the emergency brake."

Sprecherin: Auch heute ist das Versprechen des Fortschritts oft zu hören. Doch dass der Pfad des Wachstums und des ‚Weiter so' keine Zukunft hat, wird in der herannahenden Klimakrise zur bitteren Erkenntnis. But the fact that the path of growth and 'business as usual' has no future is becoming a bitter realization in the approaching climate crisis.

Walter Benjamin zeigt uns: Emanzipation besteht gerade darin, aus dem Lauf der Geschichte auszubrechen. Walter Benjamin shows us: emancipation consists precisely in breaking out of the course of history. Walter Benjamin ci mostra che l'emancipazione consiste proprio nell'irrompere nel corso della storia.

Sprecherin B-OV: Fortschritt gibt es nicht gratis, er hat seinen Preis. Spokesperson B-OV: Progress does not come for free, it has its price. Das müssen wir verstehen, wenn wir unsere Welt verbessern wollen. Aber wir halten nicht inne, um nachzudenken. But we don't stop to think. Wir machen weiter, immer mehr und immer mehr und immer schneller und immer schneller. We keep going, more and more and more and faster and faster. Die Geschwindigkeit bringt uns den Krieg und die ökologische Krise und die Wirtschaftskrise.

Sprecherin B-OV: Es kann nicht nur einen Gott geben, den Gott des Fortschritts und den Gott des Geldes. Speaker B-OV: There cannot be only one God, the God of progress and the God of money.

Es muss eine andere Dialektik geben, und ich denke, dass uns Benjamin in diesem Zusammenhang eine Tür öffnet, hin zu einer neuen Dimension. There must be another dialectic, and I think that Benjamin opens a door for us in this context, towards a new dimension. Es ist das, was Benjamin heute noch so relevant und auch posthum so erfolgreich macht. Seine Intuition wurde nicht widerlegt, sie ist immer noch gültig.

Sprecherin B-OV: Solange die Geschichte das alles nicht überwunden hat, wird auch der Name Benjamin nicht verschwinden.

Regie: Musik

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