Wie dumme Einzelteile zusammen intelligent werden - Emergenz
. Eine Ameise alleine ist ziemlich dumm. Sie hat weder viel Grips, noch einen eigenen Willen oder Plan.
Und doch sind viele Ameisen zusammengenommen ziemlich clever.
Eine Ameisenkolonie kann komplexe Strukturen errichten.
Manche Kolonien bauen sogar Pilze an oder halten Vieh.
Sie können Kriege führen oder sich verteidigen.
Wie ist das möglich?
Wie kann ein Haufen dummer Individuen zusammen so klug sein?
Dieses Phänomen heißt Emergenz und es ist eine der faszinierendsten
und mysteriösesten Besonderheiten des Universums.
Kurzgesagt beschreibt es,
wie sich aus kleinen Dingen größere Dinge bilden,
mit Eigenschaften, die über die Summe der Einzelteile hinausgehen.
Emergenz ist Komplexität, die aus Einfachheit entsteht.
Und Emergenz ist überall.
*Intro*
Die Eigenschaften von Wasser unterscheiden sich stark
von denen eines einzelnen Wassermoleküls.
Das sieht man gut am Beispiel von Nässe.
Zoomt man an einen nassen Stoff nah genug ran,
dann sieht man keine Nässe.
Es gibt nur ein paar Wassermoleküle,
die in den Freiräumen zwischen den Stoffmolekülen sitzen.
Nässe ist eine emergente Eigenschaft des Wassers.
Etwas Neues, das erst durch viele Interaktionen
zwischen einzelnen Wassermolekülen entsteht.
Und das ist es quasi schon:
Viele Einzelteile interagieren nach bestimmten Regeln miteinander
und erschaffen etwas, das über sie hinausgeht.
Mehr ist hier anders.
Denn diese neue Eigenschaft ist selbst ein neues Einzelteil,
das sich wieder mit anderen Teilen zusammentun kann,
um den Vorgang zu wiederholen.
Man kann sich das wie Schichten vorstellen,
die aufeinander aufbauen und mit jeder Schicht wird es komplexer.
Atome bilden Moleküle.
Moleküle bilden Proteine.
Aus Proteinen werden Zellen.
Zellen formen Organe und Organe Individuen.
Individuen bilden schließlich Gesellschaften.
Aber wie kann etwas mehr sein als die Summe seiner Teile?
Wie kann aus Ameisen das komplexe Gebilde einer Kolonie entstehen?
Indem sie nach bestimmten Regeln aus Chaos Ordnung herstellen.
Nehmen wir als Beispiel die Aufgabenverteilung
in einer Kolonie und gehen wir davon aus,
dass sie jeweils zu 25% aus Arbeiterinnen,
Brutpflegerinnen, Soldatinnen und Sammlerinnen bestehen sollte.
Ameisen kommunizieren ihre aktuelle Aufgabe über Chemikalien.
Eine Arbeiterameise scheidet zum Beispiel ständig Stoffe aus,
die verkünden: "Ich bin eine Arbeiterin".
Treffen Ameisen aufeinander,
dann sammeln sie durch Schnuppern Informationen
und teilen der anderen ihre Aufgabe mit und was sie gerade tun.
Beide erinnern sich daran, wen sie schon getroffen haben.
Wenn jetzt ein Ameisenbär einen Großteil der Sammlerinnen tötet
und das nicht schnell behoben wird, dann verhungert die Kolonie.
Viele Arbeiterinnen müssen deshalb ihre Aufgabe wechseln.
Aber wie teilt man das Tausenden von ihnen mit?
Ganz einfach: gar nicht.
Eine Arbeiterameise begegnet immer noch anderen Ameisen
und beschnuppert sie.
Dabei trifft sie auf fast keine Sammlerinnen.
Sie registriert "zu wenige" Sammlerinnen,
bis es einen kritischen Punkt erreicht,
dann wechselt sie ihre Aufgabe.
Die Arbeiterin wird zur Sammlerin.
Andere Ameisen tun das Gleiche,
bis es wieder genügend Sammlerinnen gibt.
Die Balance wird also von selbst wieder hergestellt.
Aber dann greift ein so simples und dabei elegantes Regelwerk,
dass der Betrieb der Kolonie als emergente Eigenschaft entsteht.
Steigt man noch tiefer ein,
dann interagieren auch Millionen komplizierter Moleküle miteinander,
um eine solide, großartige Struktur zu bilden.
Etwas, dessen Eigenschaften weit über die Summe
seiner toten Einzelteile hinausgehen.
Die kleinste Einheit des Lebens: die Zelle.
Es gibt noch keine klare Definition von Leben, aber wir wissen,
dass es aus dem Zusammenspiel eigentlich toter Dinge entsteht.
Zellen verbinden sich und arbeiten zusammen.
Sie spezialisieren sich und reagieren aufeinander.
Mit der Zeit entwickeln sich komplexere Organismen
mit bemerkenswerten Fähigkeiten.
Deine Arme und Beine und dein Herz sind wahnsinnig komplexe
und komplizierte Systeme,
die aus Trillionen von dummen Einzelteilen bestehen.
Und trotzdem atmen und verdauen wir und schauen YouTube-Videos.
Woher wissen deine Zellen, was sie tun sollen?
Denk nur mal an die Schrittmacherzellen in deinem Herzen.
Milliarden von ihnen müssen genau im richtigen Moment
einen Impuls aussenden, um einen gemeinsamen Herzschlag zu erzeugen.
Durch chemische Informationen erfahren sie,
was ihre Nachbarzellen gerade machen und entscheiden dann, was zu tun ist.
Befindet sich eine Zelle in Gesellschaft vieler Zellen,
die die selbe Aktion durchführen, dann schließt sie sich ihnen an.
Es gibt keinen Chef, der Befehle gibt, nur einzelne Einheiten,
die sich mit ihren Nachbarn austauschen
und nach deren Feedback handeln.
Und wie steht es eigentlich mit dem allerwichtigsten System?
Mit dem System, das all diese Fragen stellt?
Ist unser Bewusstsein eine emergente Eigenschaft unserer Gehirnzellen?
Diese Frage ist so groß und bedeutend,
dass sie ein eigenes Video verdient hat.
Manchmal ist Emergenz schwer zu definieren.
Du kannst eine Ameisenkolonie nicht anfassen.
Nur ihre Einzelteile.
Sie hat weder Gehirn, noch Gesicht oder Körper.
Und trotzdem interagiert sie mit der Welt.
Genauso wie Kolonien aus Ameisen entstehen, gibt es auch Dinge,
die aus Menschen entstehen.
Länder zum Beispiel.
Was ist ein Land überhaupt?
Seine Bevölkerung? Seine Institutionen?
Seine Symbole, wie Flaggen, Farben oder Hymnen?
Physischen Einzelteile wie Städte?
Das Gebiet, das es einnimmt?
All diese Dinge sind veränderlich.
Die Bevölkerung verändert sich und wird ersetzt.
Institutionen kommen und gehen,
Städte werden errichtet und verlassen.
Grenzen haben sich in der Geschichte oft geändert.
Und Symbole werden durch neue Symbole ersetzt.
Ein Land hat weder Gesicht, noch Gehirn oder Körper.
Sind Länder dann gar nicht echt?
Natürlich sind sie das. Genau so wie Ameisenkolonien.
Länder interagieren mit der Welt.
Sie können Landschaften verändern, Kriege führen, wachsen
oder schrumpfen, und aufhören zu existieren.
Aber es gibt sie nur, weil sehr viele Menschen miteinander interagieren.
Aber das gilt nicht nur für Länder.
Alle komplexen Strukturen, die uns umgeben, entstehen aus uns.
Auch wenn wir es nicht beabsichtigen,
erschaffen wir ständig Gemeinschaften, Firmen,
Städte und Gesellschaften.
Das sind alles Systeme,
deren Eigenschaften und Fähigkeiten sich fundamental
von den dummen Affen unterscheiden, aus denen sie entstanden sind.
Wir wissen nicht, warum irgendetwas davon passiert.
Wir beobachten es nur und es scheint
eine wesentliche Eigenschaft unseres Universums zu sein.
Vielleicht ist es sogar die schönste
und wundersamste Eigenschaft des Universums.
Untertitel: ARD Text im Auftrag von Funk (2019)