Saas Fee
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zur Sendung «Andrea erzählt» vom 23. Juni 2017. Es freut mich sehr, sind Sie wieder mit dabei. Es gibt einige Orte in der Schweiz, die sind richtig berühmt [1]. Da kommen die Menschen aus der ganzen Welt, um dort Ferien zu machen. An einem solchen Ort waren wir mal zu Besuch — und haben viel Lustiges und Spannendes erlebt und gesehen. Deshalb möchte ich Ihnen heute davon erzählen. Der Ort heisst Saas Fee und liegt in den Walliser Bergen. Nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!
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Vor vielen Jahren war mein Mann Tänzer. Damals waren unsere Kinder erst ein- und dreijährig. In jenem Sommer wurde mein Mann zu einer Tournee durch die ganze Schweiz eingeladen. Weil ich nicht alleine zuhause bleiben wollte, sagte er: «Kommt doch mit. Das wird sicher schön.» Wir versuchten also, ein Wohnmobil [2] zu mieten [3]. Das war leider sehr teuer. Deshalb kauften wir zusammen mit meinen Eltern ein altes. Das war billiger und wir haben es heute noch. Es ist schon 34 Jahre alt, aber wir lieben es sehr.
Also packten wir alles ein und reisten los. Einer der Orte, an dem die Tanzgruppe eingeladen war, war Saas Fee. Man sagte uns schon vorher: «Der Ort ist autofrei [4]. Aber ihr könnt euer Wohnmobil in dem grossen Parkhaus unten am Dorf abstellen.» Nun, das war gar nicht so einfach. Unser Auto ist nämlich zu gross für ein Parkhaus. Deshalb mussten wir es auf den steinigen, kleinen Platz nebenan stellen. Von unseren Fenstern aus sah man auf der einen Seite die Berge und auf der anderen das riesige Parkhaus. Wir kicherten [5] und sagten: «Jaja, es ist sehr schön in Saas Fee. Vor allem das Parkhaus.»
Als wir das Auto abgestellt hatten, nahm ich den Kinderwagen heraus. Ich packte alle Dinge hinein, die man mit Kindern so braucht: Windeln [6], Decken und Fläschchen [7]. Mein Mann sagte: «Warte noch rasch [8]. Ich stelle das Auto ein bisschen mehr in den Schatten.» Ich wartete also mit den Kindern ein paar Meter weiter weg. Ich hatte nämlich immer ein wenig Angst, dass sie dem grossen Auto zu nahe kommen könnten. Plötzlich hörten wir ein Knacken [9]. Und dann sah ich auch schon, woher es kam: Mein Mann war mit dem Auto in den Kinderwagen gefahren!
Ich schrie: «Stop! Pass doch auf! Ohne den Wagen haben wir ein grosses Problem.» Der Kinderwagen sah schrecklich aus, das eine Rad war ganz verbogen. Ich hätte am liebsten geweint. Mit zwei kleinen Kindern ohne Kinderwagen unterwegs zu sein [10], ist sehr anstrengend. Aber ich hatte Glück. Der Wagen fuhr noch, auch wenn er nun schrecklich rüttelte [11]. Doch unser Sohn fand das gottseidank sehr lustig.
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Wir gingen mit den Kindern nach Saas Fee hinauf. Es ist wirklich sehr schön dort. Für mich ist es allerdings fast zu schön. Es ist ein bisschen wie Disney World. Was mich aber völlig fasziniert hat: Es gab hier viele Japaner, Russen und jüdisch-orthodoxe Familien. Sie waren fast alle in Gruppen unterwegs. Ich musste grinsen [12]. Plötzlich kam mir nämlich eine Geschichte in den Sinn, die mir eine Freundin mal erzählt hatte. Ihre Eltern haben ein Hotel in Saas Fee. Weil es so weit oben in Bergen ist, ist das Wasser dort extrem kalt. Einmal hatten sie einen japanischen Gast. Am ersten Morgen hörten sie ihn laut schreien. Der Vater meiner Freundin rannte zum Zimmer hinauf und klopfte an die Türe. Der Gast war nackt und in den Duschvorhang [13] eingewickelt. Der Vater fragte: «Was ist denn passiert?» Der Mann antwortete in schlechtem Deutsch: «Wasser so kalt. Ich erschrecken und rennen. Dann ich Vorhang mitreissen.»
Von den Touristen-Gruppen in Saas Fee interessierten mich besonderes die orthodoxen [14] Familien. Das Judentum hat mich schon immer fasziniert. Als Kind habe ich sehr viele Bücher darüber gelesen und hätte so gern noch mehr gewusst und verstanden. Ich hatte Glück. Am Nachmittag war ich auf einem Spielplatz etwas ausserhalb des Dorfes. Nicht weit von mir sass eine orthodoxe jüdische Frau. Sie war mit vier Kindern und ihrem Mann hier. Ich grüsste sie und sie fing an mit mir zu sprechen. Schon bald erzählte sie mir: «Wir kommen immer alle zusammen hierher. Es ist wirklich schön. Aber manchmal ist es auch sehr anstrengend [15]. Wir haben eine wirklich grosse Verwandtschaft, die mitkommt. Deshalb sind auch immer viele Kinder dabei. Ich mag das gern, aber es ist für uns Mütter trotzdem streng. Wir haben sehr viel zu tun und kaum eine ruhige Minute.» Ich freute mich sehr, dass die Frau mit mir sprach. Die meisten orthodoxen Familien leben eher zurückgezogen [16].
Ich fände es so schön, wenn Mütter aus allen möglichen Kulturen noch mehr miteinander sprechen würden. Es ist interessant zu hören, was anders ist und was gleich.
Am Abend tanzte mein Mann in Saas Fee und es kamen viele Leute. Ich ging schon früh zum Parkhaus hinab und brachte die Kinder im Auto zu Bett. Mein Mann kam später. Er sagte: «Komm, wir stellen zwei Stühle nach draussen und trinken zusammen einen Whisky.» Eigentlich mag ich Whisky nicht. Aber an diesem Abend passte er. Oben an uns war das kitschige [17] Dorf und unten sassen wir auf dem Parkplatz und tranken unseren Schnaps aus Blechtassen [18]. Das einzige Licht kam von den hellen Lampen aus dem Parkhaus. Ich weiss, es klingt nicht so, aber es war ein unvergesslich [19] schöner und fröhlicher Abend. Trotzdem war klar: Hier oben war es einfach zu langweilig für die Kinder.
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Am nächsten Tag stellten wir das Wohnmobil nach Saas Grund. Das ist ein anderes Dorf weiter unten. Es ist wie die ärmere Schwester von Saas Fee. Es gibt auch hier Touristen, aber alles ist viel normaler. Wir wohnten nun auf einem Zeltplatz. Die Kinder waren glücklich. Am Nachmittag ging mein Mann nach Saas Fee um zu tanzen. Und wir drei gingen dann am Fluss spazieren oder sassen vor dem Wohnmobil und spielten.
Auf dem Zeltplatz hatte es viele andere Familien. Alle Frauen trugen flache, bequeme Schuhe. Ich sagte zu meinem Mann: «Ich weiss, es ist schrecklich unpraktisch [20], aber ich muss trotzdem meine High Heels tragen. Sonst fühle ich mich nur noch wie eine einsame Camping-Mama.» Meinem Mann gefielen meine Schuhe.
Einmal an einem Morgen ging ich mit meiner Tochter auf dem Arm zum kleinen Laden des Zeltplatzes. Hier konnte man Milch und Brot holen. Als wir alles eingekauft hatten, sagte meine Kleine: «Mama komm, renn mit mir zu Papa und Samuel zurück.» Ich war einverstanden und rannte mit ihr den kleinen Weg zu unserem Auto hinunter. Meine Tochter kreischte [21] vor Vergnügen. Vor den anderen Wohnmobilen und Zelten sassen viele Familien beim Frühstück. Sie schauten uns zu. Da stolperte [22] ich plötzlich mit meinen High Heels — und fiel mit meiner Tochter, der Milch und dem Brot zusammen auf den Weg.
Meine Tochter weinte kurz und ich schämte mich, dass ich mit meinem Kind hingefallen war. Die Familien an den Frühstückstischen schauten alle weg und sagten nichts. Man konnte fast hören, was sie dachten: «Wie kann diese blöde Mutter mit High Heels und einem Kind auf dem Arm auf einem Zeltplatz herumrennen?» Ich verstand sie ja. Aber ich fragte mich auch ein wenig, warum man in die Ferien fährt, wenn man dann doch nur schlecht gelaunt am Frühstückstisch sitzt. So wie zu Hause. Ich hätte gern mit allen zusammen über mich gelacht.
Gut, hatte mein Mann alles von Weitem gesehen. Er rannte zu uns und rief: «Alles ok bei euch?» Als er sah, dass es uns gut ging, musste er so laut lachen, dass er fast nicht mehr aufhören konnte. Die Lach-Tränen liefen ihm die Wangen hinab. In solchen Momenten denke ich jeweils: «Ich habe wirklich den richtigen Mann geheiratet. Einen Menschen, der genau so gerne lacht wie ich.» Was für ein Geschenk. Vor allem, weil wir beide auch eine melancholische Seite haben. Lachen ist unsere Medizin.
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So, jetzt wünsche ich auch Ihnen, dass Sie diesen Sommer viel zu lachen haben. Ich freue mich sehr, wenn Sie bei Instagram unter #PodClubAndrea und #andreaerzaehlt vorbeischauen und am 7. Juli wieder auf podclub.ch oder über unsere App mit dem Vokabeltrainer mit dabei sind, wenn es heisst «Andrea erzählt». Dann werde ich Ihnen von «Winterthur» erzählen. Auf Wiederhören!
Glossaire: Andrea erzählt (D) [1] berühmt: sehr bekannt, populär
[2] das Wohnmobil: Auto, in dem man schlafen, kochen und essen kann
[3] mieten: für Geld ausleihen
[4] autofrei: ohne Autos (ausser Lieferwagen, Krankenwagen, Polizei etc.)
[5] kichern: leise und fröhlich lachen
[6] die Windel: eine Art Höschen für Kinder, die noch nicht selbst auf das WC können (und z.T. auch für alte oder kranke Menschen)
[7] das Fläschchen: kleine Flasche (für Kinder zum Trinken, auch: Schoppen)
[8] rasch: schnell, kurz
[9] das Knacken: trockenes Geräusch, z.B. wenn ein Ast bricht oder ein Feuer brennt
[10] unterwegs sein: nicht zu Hause sein, auf dem Weg an einen Ort sein
[11] rütteln: schütteln, heftig an etwas schütteln
[12] grinsen: lächeln über etwas Lustiges (auch manchmal Gemeines, Unanständiges)
[13] der Duschvorhang: Stück Stoff in der Dusche, der das Wasser abhält
[14] orthodoxe Juden: sehr streng gläubige Juden (es gibt verschiedene Ausrichtungen)
[15] anstrengend: braucht viel Kraft
[16] zurückgezogen: weg von den anderen Menschen
[17] kitschig: übertrieben schön, lieblich
[18] die Blechtasse: Tasse aus Metall, meist für Camping oder Militär
[19] unvergesslich: so besonders, dass man es nie mehr vergisst
[20] unpraktisch: nicht praktisch, nicht bequem, nicht einfach zu brauchen
[21] kreischen: schreien
[22] stolpern: mit den Füssen an etwas hängenbleiben