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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 11. September, rue Toullier - 002

11. September, rue Toullier - 002

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein[710] Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. [711]

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich[712] ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.


11. September, rue Toullier - 002 September 11, rue Toullier - 002

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. I do not know what it's all about, it goes deeper into me and does not stop where it always was. Ich habe ein[710] Inneres, von dem ich nicht wußte. I have a heart that I did not know about. Alles geht jetzt dorthin. Everything is going there now. Ich weiß nicht, was dort geschieht. I do not know what's happening there.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. I wrote a letter today, and I noticed that I have only been here for three weeks. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Three weeks elsewhere, in the countryside, for example, that could be like a day, here it is years. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. I do not want to write a letter anymore. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Why should I tell someone that I am changing? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. If I change, I'm not the one I was, and if I'm anything else then it's clear that I have no acquaintances. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben. And I can not write to strangers, to people who do not know me.

Habe ich es schon gesagt? Did I already say so? Ich lerne sehen. I am learning to see. Ja, ich fange an. Yes, I start. Es geht noch schlecht. It is still bad. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. But I want to take advantage of my time.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. That, for example, I never realized how many faces there are. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. There are a lot of people, but many more faces, because everyone has several. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. There are people who wear a face for years, of course it wears off, it gets dirty, it breaks in the folds, it expands like gloves worn on the journey. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. They are frugal, simple people; they do not change it, they do not even clean it. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? It's good enough, they say, and who can prove the opposite? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Now, it is true, since they have several faces, what do they do with the others? Sie heben sie auf. They pick them up. Ihre Kinder sollen sie tragen. Your children should wear them. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. But it also happens that their dogs go out with it. Weshalb auch nicht? Why not? Gesicht ist Gesicht. Face is face. [711] [711]

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Other people put on their faces incredibly quickly, one by one, and take them off. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. It seems to them at first that they have forever, but they are barely forty; there is the last one. Das hat natürlich seine Tragik. This, of course, has its tragedy. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. They are not used to looking after faces, their last is in eight days, has holes, is thin in many places like paper, and then gradually comes out the pad, the non-face, and they go around with it.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. But the woman, the woman: she had fallen in on herself, over into her hands. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. It was on the corner of rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. I started to quietly as soon as I saw her. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. When poor people think, they should not be disturbed. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Maybe they remember.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. The street was too empty, its emptiness boring and pulling me away from under my feet and flipping around with it, over there and there, like a wooden shoe. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. The woman was startled and stood out, too fast, too violent, so that the face remained in both hands. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. I could see it lying in it, its hollow form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. It took me an incredible amount of effort to stay with those hands and not look at what had torn from them. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht. I dreaded seeing a face from within, but I was even more afraid of the bare sore headless face.

Ich fürchte mich. I am afraid. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie einmal hat. You have to do something about fear once you have it. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich[712] ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß sterben. It would be very ugly to get sick here, and if someone invaded me to get me to the Hôtel-Dieu, I would certainly die there. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht. This hotel is a pleasant hotel, immensely visited. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen. These are little buses that keep ringing, and even the Duke of Sagan would have to keep his team when such a little dying man has decided to go straight to God's house. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. The dying are stubborn, and all Paris stops when Madame Legrand, brocanteuse from the rue des Martyrs, comes to a certain place of the Cité. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. It should be noted that these vicious little carriages have extremely stimulating frosted glass windows, behind which one can imagine the most glorious agonies; All you need is the imagination of a concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. If one has even more imagination and suggests it in other directions, then the conjectures are virtually unlimited. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.