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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 11. September, rue Toullier - 001

11. September, rue Toullier - 001

Rainer Maria Rilke Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

11. September, rue Toullier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache. [709]

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.

Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.


11. September, rue Toullier - 001 September 11, rue Toullier - 001

Rainer Maria Rilke Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Rainer Maria Rilke The Records of Malte Laurids Brigge Rainer Maria Rilke Les records de Malte Laurids Brigge

11\\. September, rue Toullier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. So, here's where people come to live, I'd rather think it's going to die here. Donc, les gens viennent ici pour vivre, je préfère penser que ça va mourir ici. Ich bin ausgewesen. I'm out. J'ai été choisi. Ich habe gesehen: Hospitäler. I saw: Hospitals. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. I saw a person who staggered and fell. J'ai vu une personne qui s'est balancée et a coulé. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. People gathered around him, saving me the rest. Des gens se sont rassemblés autour de lui, ce qui m'a sauvé le reste. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. I saw a pregnant woman. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. She pushed herself hard along a high, warm wall, which she sometimes felt for, as if to make sure she was still there. Ja, sie war noch da. Yes, she was still there. Dahinter? Behind it? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. I searched on my plan: Maison d'Accouchement. Gut. Good. Man wird sie entbinden – man kann das. You will release them - you can do that. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Next, rue Saint-Jacques, a large building with a dome. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire. The plan was sent to Val-de-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. I did not need to know that, but it does not hurt. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. The alley began to smell from all sides. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. There was a smell, as far as I could tell, of iodoform, the fat of French fries, of anxiety. Alle Städte riechen im Sommer. All cities smell in the summer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Then I saw a strangely star-blind house, it was not on the plan, but the door was still legible: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Next to the entrance were the prices. Ich habe sie gelesen. I read it. Es war nicht teuer. It was not expensive.

Und sonst? And otherwise? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. a child in a standing pram: it was fat, greenish, and had a noticeable rash on its forehead. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. He obviously healed and did not hurt. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. The child slept, his mouth was open, breathing iodoform, fries, fear. Das war nun mal so. That was the way it was. Die Hauptsache war, daß man lebte. The main thing was to live. Das war die Hauptsache. That was the main thing. [709]

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. That I can not help sleeping with the window open. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Electric trains race through my room. Automobile gehen über mich hin. Automobiles go over me. Eine Tür fällt zu. A door closes. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Somewhere, a disc clatters down, I hear their big shards laughing, the little splinters giggling. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Then suddenly a dull, trapped noise from the other side, inside the house. Jemand steigt die Treppe. Someone is climbing the stairs. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Is there, is there for a long time, pass by. Und wieder die Straße. And the road again. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. A girl yells: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. The Electric runs agitated, over, over, over everything. Jemand ruft. Someone is calling. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. What a relief: a dog. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. At dawn, even a rooster crows, and that is well-being without limits. Dann schlafe ich plötzlich ein.

Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. I think that with big fires there is sometimes a moment of extreme tension, the jets of water fall off, the firefighters don't climb anymore, nobody moves. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.