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Frankenstein - Mary W. Shelley, 8. Kapitel - 02

8. Kapitel - 02

Mehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber Befangenheit und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszugehen. Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagten zusammensank, und bat in tiefster Erregung den Gerichtshof, sprechen zu dürfen.

»Ich bin dem unglücklichen getöteten Kinde von je wie eine Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt, noch ehe es auf der Welt war. Es wird mir deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge; aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöpf an der Feigheit seiner angeblichen Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr, dann muß ich reden. Ich bin mit der Angeklagten sehr gut bekannt. Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast zwei Jahre. Während dieser ganzen Zeit habe ich sie als das liebenswürdigste, gütigste Wesen lieben gelernt. Sie pflegte Frau Frankenstein in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferung und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer widerwärtigen Krankheit dahinsiechte, in einer Weise, die allen Bekannten die größte Hochachtung abnötigte; dann kam sie wieder zu uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. Sie war überaus zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie eine fürsorgliche Mutter. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen, doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. Es lag ja für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne weiteres geschenkt hätte.«

Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt der edelmütigen, einfachen und doch packenden Verteidigungsrede, nicht aber dem armen Opfer. Justine weinte, während Elisabeth sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja keinen Augenblick mehr – in teuflischer Bosheit dem unglücklichen Mädchen einen schmachvollen Tod zugedacht haben? Ich befand mich in einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mußten, stürzte ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. Die Leiden der Angeklagten kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das Gefühl der Unschuld in der Brust, während hinter mir wie Eumeniden die Gewissensbisse ihre Geißeln schwangen.

Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsgebäude; aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so daß ich die schicksalsschwere Frage nicht zu stellen vermochte. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die Ursache meines Besuches. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei.

Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigten? Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestanden habe. »In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,« bemerkte er, »aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteilen nicht gern auf Grund von Indizienbeweisen, mögen sie noch so schlüssig sein.«

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartetes. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlich ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

»Meine Liebe,« sagte ich, »es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldige leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpfen lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestanden.«

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. »Wie soll ich,« sagte sie, »jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreinen Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkeit kannten, vermochte einen Mord zu begehen!«

Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. »Ja,« sagte Elisabeth, »ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.« Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.


8. Kapitel - 02 Chapter 8 - 02 Capítulo 8 - 02 Capitolo 8 - 02 Capítulo 8 - 02 Глава 8 - 02 Bölüm 8 - 02

Mehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber Befangenheit und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszugehen. But self-consciousness and abhorrence of the crime they thought they were guilty of prevented them from speaking out properly. Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagten zusammensank, und bat in tiefster Erregung den Gerichtshof, sprechen zu dürfen.

»Ich bin dem unglücklichen getöteten Kinde von je wie eine Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt, noch ehe es auf der Welt war. 'I have always been like a sister to the unfortunate child who was killed, for I lived with his parents before he was even born. Es wird mir deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge; aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöpf an der Feigheit seiner angeblichen Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr, dann muß ich reden. So perhaps I will be held amiss if I push myself forward; but when I see that a fellow creature has to perish because of the cowardice of its supposed friends, then nothing can stop me, I have to talk. Ich bin mit der Angeklagten sehr gut bekannt. Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast zwei Jahre. Während dieser ganzen Zeit habe ich sie als das liebenswürdigste, gütigste Wesen lieben gelernt. Throughout this time I have come to love her as the most lovable, kind being. Sie pflegte Frau Frankenstein in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferung und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer widerwärtigen Krankheit dahinsiechte, in einer Weise, die allen Bekannten die größte Hochachtung abnötigte; dann kam sie wieder zu uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. During her last illness she nursed Frau Frankenstein with the greatest devotion and care; then she cared for her elderly mother, who was dying of a loathsome disease, in a manner that commanded the utmost respect from all who knew her; then she came back to us and made herself popular with the whole family. Sie war überaus zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie eine fürsorgliche Mutter. She was extremely affectionate to the child, who is now taking care of the lawn, and was like a caring mother to him. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen, doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. For my part, I do not hesitate to say that however much the circumstances may be against her, I would lay my hand in the fire for her innocence. Es lag ja für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne weiteres geschenkt hätte.« There was no reason at all for her to do so, for she knew that I loved her so much that if I had asked her I would have given her the picture without further ado."

Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt der edelmütigen, einfachen und doch packenden Verteidigungsrede, nicht aber dem armen Opfer. A murmur of applause filled the room; but it was aimed at the noble, simple and yet gripping defense speech, not at the poor victim. Justine weinte, während Elisabeth sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja keinen Augenblick mehr – in teuflischer Bosheit dem unglücklichen Mädchen einen schmachvollen Tod zugedacht haben? Could the demon who had murdered my brother, I no longer doubted it for a moment, in devilish malice, have planned a shameful death for the unfortunate girl? Ich befand mich in einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mußten, stürzte ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. I found myself in a dreadful, almost unbearable position, and when I saw from the serious faces of the judges that they had to condemn the unfortunate according to the voice of the people, I rushed out of the hall in agony. Me encontré en una posición terrible, casi insoportable, y cuando vi por los rostros serios de los jueces que tenían que condenar a los desafortunados según la voz del pueblo, salí corriendo de la sala en agonía. Die Leiden der Angeklagten kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das Gefühl der Unschuld in der Brust, während hinter mir wie Eumeniden die Gewissensbisse ihre Geißeln schwangen. The sufferings of the accused certainly did not equal mine; she had a feeling of innocence in her breast, while behind me, like Eumenides, pangs of conscience waved their whips.

Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsgebäude; aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so daß ich die schicksalsschwere Frage nicht zu stellen vermochte. Early in the morning I went to the courthouse; but my throat was so tight that I could not ask the fateful question. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die Ursache meines Besuches. I was recognized and an official guessed the reason for my visit. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei. He told me that only black balls had been put in the urn, so Justine was doomed. Me dijo que solo se habían puesto bolas negras en la urna, por lo que Justine estaba condenada.

Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigten? What should I call the feelings that took hold of me? Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestanden habe. The officer added that Justine had admitted her guilt herself. El oficial agregó que Justine había admitido su culpabilidad ella misma. »In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,« bemerkte er, »aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteilen nicht gern auf Grund von Indizienbeweisen, mögen sie noch so schlüssig sein.« "In such a clear case that would not have been necessary," he remarked, "but it is better that way, for our judges do not like to convict on the basis of circumstantial evidence, however conclusive it may be." "En un caso tan claro no hubiera sido necesario", remarcó, "pero es mejor así, porque a nuestros jueces no les gusta condenar sobre la base de pruebas circunstanciales, por concluyentes que sean".

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartetes. It was, however, something strange and unexpected. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlich ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Could my eyes really have deceived me so, or had I really been a fool in suspecting another? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

»Meine Liebe,« sagte ich, »es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. 'My dear,' I said, 'it has turned out as you could have imagined. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldige leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpfen lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestanden.« Our judges would rather let ten innocents suffer than let one guilty slip away; and she is guilty - she admitted it herself."

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. »Wie soll ich,« sagte sie, »jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreinen Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkeit kannten, vermochte einen Mord zu begehen!«

Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. My father didn't want to admit it at first, but then left it to her own discretion. »Ja,« sagte Elisabeth, »ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.« Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.