11. Kapitel - 01
»Mit Mühe nur erinnere ich mich der ersten Zeit, nachdem ich entstanden war. Alles, was sich in jener Zeit ereignete, ist mir unklar und verschleiert. Eine Menge unbestimmter Gefühle bemächtigte sich meiner, meine sämtlichen Sinne traten zugleich in Aktion und es bedurfte längerer Erfahrung, bis ich sie auseinander zu halten vermochte. Ich erinnere mich, daß helles Licht auf mich eindrang, so daß ich die Augen schließen mußte. Dann wurde es dunkel um mich und ich fürchtete mich. Als ich dann die Augen wieder öffnete, war es so hell wie zuvor. Ich setzte mich in Bewegung und stieg auf die Straße hinab. Da war es nun wieder ganz anders. Vorher hatten mich undurchsichtige Grenzen umgeben, die ich weder körperlich noch auch mit den Augen durchdringen konnte; draußen aber bemerkte ich, daß ich mich ungehindert zu bewegen vermochte. Das Licht tat mir allmählich weh und zugleich belästigte mich die große Hitze. Ich suchte deshalb einen Platz aus, wo ich mich im Schatten ausruhen konnte. Es war dies ein Wald in der Nähe von Ingolstadt, und hier ließ ich mich am Ufer eines Baches nieder und ruhte, bis mich Hunger und Durst auftrieben. Ich verzehrte Beeren, die ich an Sträuchern oder am Boden fand. Dann stillte ich meinen Durst mit dem Wasser des Baches und legte mich wieder schlafen.
Es war finster, als ich erwachte. Ich fror und hatte ein drückendes Gefühl des Alleinseins. Ehe ich dein Haus verließ, hatte ich mich, da mir kalt war, mit einigen Kleidern behängt, aber sie waren völlig ungenügend, um mich vor dem Tau der Nacht zu schützen. Ich war ein armes, elendes, bedauernswertes Geschöpf. Ich wußte nichts, ich verstand nicht, mich all des Unangenehmen zu erwehren, das von allen Seiten auf mich eindrang. So setzte ich mich nieder und weinte.
Unterdessen kam am Himmel ein mildes Licht heraufgestiegen und ich empfand Freude darüber. Ich sprang auf und erblickte eine glänzende Scheibe, die über den Bäumen stand. Wie ein Wunder starrte ich sie an. Ich bewegte mich langsam und vorsichtig, aber dann bemerkte ich, daß sie mir auf meinem Wege leuchtete. Ich begab mich wieder auf die Suche nach Beeren. Es war noch kalt und unter einem Baume fand ich etwas Schutz. Bestimmte Gefühle hatte ich nicht, alles war noch ganz konfus. Ich fühlte Licht und Dunkelheit, ich empfand Hunger und Durst; unendliche Geräusche füllten mir die Ohren und allerlei Gerüche drangen mir in die Nase. Das Einzige, was ich genau unterscheiden konnte, war der Mond, den ich mit einem gewissen Vergnügen betrachtete.
Mehrere Tage und Nächte waren vergangen und der Mond hatte schon bedeutend abgenommen, als ich allmählich imstande war, meine Empfindungen auseinander zu halten. Ich sah den klaren Bach, der mich mit Wasser versorgte, und die Bäume, die mir mit ihrem Laub Schatten und Schutz gaben. Mit Freude entdeckte ich, daß ein liebliches Geräusch, das mir unter Tags fast unausgesetzt an die Ohren schlug, von kleinen, geflügelten Wesen herrührte. Oftmals versuchte ich ihren Gesang nachzuahmen, aber es war mir unmöglich. Oft auch bemühte ich mich, meinen Gefühlen in meiner Weise Ausdruck zu geben. Da ich aber nur harte, unartikulierte Laute zuwege brachte, erschrak ich und schwieg.
Unterdessen hatte der Mond aufgehört, in den Nächten zu scheinen, und war dann wieder als kleine Sichel am Himmel aufgetaucht. Ich aber weilte immer noch im Walde. Meine Sinne hatten sich während dieser Zeit geschärft und jeder Tag brachte mir neue Anregungen. Meine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und gelernt, die Gegenstände in ihrer richtigen Form zu erkennen. Ich konnte einen Käfer von einer Pflanze und die Pflanzen wieder unter sich unterscheiden. Ich hatte entdeckt, daß der Sperling nur rauhe, häßliche Laute zur Verfügung hat, während der Gesang der Nachtigall oder der Drossel mir Entzücken verursachte.
Eines Tages, als mich die Kälte umhertrieb, fand ich ein Feuer, das irgendwelche wandernden Bettler sich im Walde angezündet haben mochten, und freute mich der Wärme, die es ausstrahlte. In meiner Freude steckte ich meine Hand in die Glut, zog sie aber mit einem Aufschrei wieder zurück. Wie seltsam, dachte ich nur, daß ein und dieselbe Ursache so verschiedene Wirkungen haben kann. Ich untersuchte das brennende Material und erkannte zu meiner Wonne, daß es gewöhnliches Holz war. Ich sammelte eilends ein paar Zweige, aber sie waren feucht und wollten nicht brennen. Das tat mir sehr leid und ich setzte mich sinnend ans Feuer und sah ihm zu. Indessen war das Holz, das ich in der Nähe niedergelegt, trocken geworden und war von selbst in Brand geraten. Ich dachte darüber nach und eine Untersuchung der Zweige belehrte mich über die Gründe dieser Erscheinung. Ich machte mich deshalb daran, Holz einzusammeln und stapelte es mir auf, um immer mit recht viel Feuer versehen zu sein. Als es Nacht wurde, fürchtete ich mich vor dem Einschlafen, da ich Angst hatte, das Feuer könne unterdessen erlöschen. Ich deckte es deshalb sorgfältig mit trockenen Zweigen und Blättern zu und legte dann feuchtes Holz darauf. Dann streckte ich mich auf dem Boden aus und versank in Schlaf.
Als ich am Morgen wach wurde, war es mein Erstes, nach dem Feuer zu sehen. Ich deckte es ab und ein leichter Wind fachte es alsbald wieder zu hellen Flammen an. Auch dies beobachtete ich und zog eine Lehre daraus. Ich konstruierte mir einen Fächer aus Zweigen und benützte ihn zum Anfachen der Glut, wenn sie zu erlöschen drohte. Nach Einbruch der Dunkelheit bereitete es mir eine Freude zu sehen, daß das Element nicht nur Wärme, sondern auch Licht verbreitete. Und auch für die Zubereitung meiner Nahrung sollte es mir von Nutzen sein. Denn einige der Speiseabfälle, die die Fremden zurückgelassen hatten, waren durch das Feuer geröstet worden und schmeckten mir besser als die Beeren, die ich bisher von den Sträuchern gepflückt. Ich versuchte deshalb, meine Nahrung in der gleichen Weise zu behandeln, indem ich sie in die Flamme hielt. Die Beeren allerdings wurden vom Feuer verzehrt, während die Nüsse und Wurzeln wesentlich schmackhafter wurden.
Nach und nach wurde meine Nahrung immer spärlicher und ich mußte manchmal den ganzen Tag suchen, bis ich einige armselige Eicheln fand, um meinen rasenden Hunger zu stillen. Ich beschloß daher, meinen bisherigen Aufenthaltsort mit einem anderen zu vertauschen, von dem aus es mir leichter würde, mich mit dem Notwendigsten zu versehen. Allerdings fiel es mir schwer, mein geliebtes Feuer verlassen zu müssen, denn ich wußte ja nicht, wie ich wieder in seinen Besitz kommen könnte. Ich verbrachte längere Zeit mit der Überlegung, wie ich diesem Umstände abhelfen könnte, aber es war vergebens. Ich hüllte mich also fester in meine Lumpen und schritt durch den Wald davon, der sinkenden Sonne entgegen. Drei Tage irrte ich in dem Dickicht umher, bis ich endlich offenes Land erreichte. In der vorhergehenden Nacht war mächtiger Schneefall eingetreten und die ganze Gegend war in ein einförmiges Weiß gehüllt. Es war ein trostloser Anblick und es bereitete mir Schmerz, mit meinen nackten Füßen durch die naßkalte Masse waten zu müssen, die die Erde bedeckte.
Am Morgen fühlte ich ein unbedingtes Bedürfnis nach Speise und einem Unterschlupf; endlich bemerkte ich an einem Hang eine kleine Hütte, die vielleicht für einen Schäfer errichtet worden sein mochte. Der Anblick war mir neu und ich besah mir das Bauwerk genau. Da die Tür offen war, trat ich ein. Ein alter Mann saß drinnen zur Seite eines Herdes, auf dem er seine Mahlzeit bereitete. Als es mich hörte, wendete er sich um, dann sprang er mit einem lauten Schrei auf und rannte über die Felder davon mit einer Eile, deren ich den gebrechlichen Körper nicht für fähig gehalten hätte. Ich war glücklich, daß ich dieses Unterkommen gefunden hatte, denn hier war ich wenigstens sicher vor Regen und Schnee; auch war der Fußboden trocken. Ich verzehrte gierig das stehengebliebene Frühstück, das aus Brot, Käse, Milch und Wein bestand; dem letzteren aber konnte ich keinen Geschmack abgewinnen. Dann überwältigte mich die Müdigkeit und ich legte mich zum Schlummer auf die Streu.