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Der Schatz von Franchard - Robert Louis Stevenson, Zweites Kapitel - Eine Morgenunterhaltung - 01

Zweites Kapitel - Eine Morgenunterhaltung - 01

Doktor Desprez pflegte früh aufzustehen. Noch ehe der Rauch in die Lüfte stieg, ehe der erste Viehwagen auf dem Wege zur Tagesarbeit auf den Feldern über die Brücke holperte, konnte man ihn in seinem Garten spazierengehen sehen. Bald pflückte er eine Weintraube, bald aß er unter dem Spalier eine Birne; bald zeichnete er alle möglichen Schnörkel mit dem Stock auf den Gartenweg; dann wieder ging er zum Fluß hinunter und sah dem endlos fließenden Wasser zu, das an dem hölzernen Landungssteg, wo sein Boot angekettet lag, vorüberströmte. Zum Theoretisieren, pflegte er zu sagen, gäbe es keine bessere Zeit als die Morgenfrühe. »Ich stehe früher auf als sonst irgend einer im Dorfe«, prahlte er einmal. »Folglich weiß ich auch mehr als alle anderen und suche mein Wissen weniger auszunutzen.«

Der Doktor war ein Kenner in Sonnenaufgängen und liebte als Auftakt für den Tag einen guten theatralischen Effekt. Er hatte eine eigene Theorie über den Tau, nach der er das Wetter vorauszusagen vermochte. Ja, die meisten Dinge mußten zu diesem Zweck herhalten: der Klang der Glocken aus den umliegenden Dörfern, der Geruch des Waldes, die Wanderungen und das Verhalten der Vögel wie der Fische, das Aussehen der Pflanzen in seinem Garten, die Wolkenbildungen, die Farbe des Lichts, und, als letztes und wichtigstes, ein ganzes Arsenal meteorologischer Instrumente, die in einem Verschlag auf dem Rasen geborgen waren. Seit seiner Niederlassung in Gretz hatte er sich allmählich zu dem Lokalmeteorologen und freiwilligen Verfechter des dortigen Klimas entwickelt. Anfänglich glaubte er, daß es im ganzen Arrondissement keinen gesünderen Flecken gäbe als Gretz; schon nach zwei Jahren behauptete er, es gäbe keinen zuträglicheren Ort in dem ganzen Departement. Und bereits seit längerer Zeit vor seinem Zusammentreffen mit Jean-Marie war er bereit, ganz Frankreich und den größeren Teil von Europa in die Schranken zu rufen, daß kein Ort sich mit seinem Lieblingsaufenthalt messen könnte.

»Doktor,« pflegte er zu sagen, »die Bezeichnung Doktor hat einen üblen Klang. Man sollte sie vor Damen nicht gebrauchen. Sie gemahnt an Krankheiten. Ich betrachte es als einen Mangel unserer Zivilisation, daß wir nicht den nötigen Abscheu vor Krankheiten haben. Ich, für meinen Teil, habe wie Pontius Pilatus meine Hände rein davon gewaschen; ich habe auf meinen Laureatus verzichtet; ich bin kein Doktor; ich bin ein schlichter Beter vor dem Altar der wahren Göttin Hygieia. Glauben Sie mir, sie ist es, die den Cestus trägt! Und hier, in diesem verborgenen Weiler, hat sie ihren Tempel ausgeschlagen: hier haust sie, hier streut sie freigebig ihre Gaben aus. Hier wandle ich in frühen Morgenstunden in ihrer Gesellschaft, und sie zeigt mir, wie stark sie die Bauern gemacht, wie fruchtbar die Felder, wie stattlich unter ihren Augen die Bäume wachsen, wie in ihrer Gegenwart die Fische behend und sauber werden. – Rheumatismus!« pflegte er wohl bei einer vorwitzigen Unterbrechung auszurufen, »ja, ja, ich gebe schon zu, daß wir einigen Rheumatismus haben. Das läßt sich, wissen Sie, kaum vermeiden, wenn man an einem Flusse gelegen ist. Und natürlich ist der Ort ein wenig niedrig gelegen; und die Wiesen sind auch ohne Zweifel etwas sumpfig. Aber sehen Sie sich, lieber Herr, einmal Bourron an! Bourron liegt hoch. Bourron hat einen Wald in der Nähe; Ozon die Hülle und Fülle, sollte man meinen. Und im Vergleich mit Gretz ist Bourron doch ein Loch.«

Am Morgen, nachdem man ihn zu dem sterbenden Gaukler gerufen hatte, machte er dem Landungsplatz am Fuße feines Gartens einen Besuch und schaute angelegentlich ins fließende Wasser. Das nannte er seine Andacht halten; ob indes sein Gottesdienst der Göttin Hygieia oder einer orthodoxeren Gottheit galt, war niemals einwandfrei zu ergründen. Tat er doch mitunter dunkle Orakelsprüche, wie: daß der Fluß ein Sinnbild der körperlichen Gesundheit sei; dann wieder pries er ihn als gewaltigen Verkünder der Moral, der dem gequälten menschlichen Geist unablässig Frieden, Kontinuität und Beharrlichkeit vorpredige. Nachdem er einige Meilen klaren Stromes an sich hatte vorüberfließen lassen und etliche Fische als schmalen Silberstreifen an die Oberfläche hatte tauchen sehen, nachdem er ferner nach Herzenslust die langen Schatten der Bäume bewundert, die vom jenseitigen Ufer halb über den Fluß herüberragten und schwimmende Sonnenflecke auf den Wasserspiegel zeichneten, schlenderte er mit dem Gefühl verjüngter Frische durch den Garten ins Haus zurück und auf die Straße.

Das Geräusch seiner Schritte auf dem Fahrdamm leitete das Geschäft des Tages ein, da das Dorf noch in festem Schlafe lag. Der Kirchturm sah im Sonnenglanze besonders luftig aus; vereinzelte Vögel, die ihn umkreisten, schienen in einer Atmosphäre von ungewöhnlicher Leichtigkeit zu schweben, und der in Begleitung seines langen, durchsichtigen Schattens schreitende Doktor sog seine Lungen voll Luft und gestand sich, mit dem Morgen recht wohl zufrieden zu sein. Vor Tentaillons Toreinfahrt gewahrte er eine dunkle, kleine Gestalt gedankenvoll auf einem der Pfosten hocken und erkannte augenblicks Jean-Marie.

»Aha!« sagte er und blieb, beide Hände in launiger Haltung auf die Schenkel gestützt, vor ihm stehen. »Wir find also Frühaufsteher, so, so? Es scheint, wir haben sämtliche Laster der Philosophen.«

Der Junge stellte sich auf die Füße und machte eine ernsthafte Verbeugung.

»Und wie geht es unserem Patienten?« fragte Desprez. Es stellte sich heraus, daß es ihm unverändert ging.

»Und weshalb stehst du morgens so früh auf?« fragte er weiter.

Jean-Marie gestand nach langem Schweigen, daß er es selbst kaum wüßte.

»Du weißt es kaum?« wiederholte Desprez. »Wir wissen schwerlich etwas, junger Mann, was wir nicht zu erlernen suchen. Befrage dein Bewußtsein. Komm, gehen wir dieser Frage auf den Grund. Tust du es gern?«

»Ja,« sagte der Junge sehr langsam, »ja, ich tue es gern.«

»Und weshalb tust du es gern?« fuhr der Doktor fort. »(Wir befolgen jetzt die sokratische Methode.) Weshalb tust du es gern?«

»Es ist überall so still,« entgegnete Jean-Marie; »und ich habe nichts zu tun; und dann kommt es mir vor, als wäre ich gut.«


Zweites Kapitel - Eine Morgenunterhaltung - 01 Second chapter - A morning conversation - 01 Hoofdstuk Twee - Een Ochtendgesprek - 01 Rozdział drugi - Poranna rozmowa - 01 Capítulo Dois - Uma conversa matinal - 01

Doktor Desprez pflegte früh aufzustehen. Noch ehe der Rauch in die Lüfte stieg, ehe der erste Viehwagen auf dem Wege zur Tagesarbeit auf den Feldern über die Brücke holperte, konnte man ihn in seinem Garten spazierengehen sehen. Bald pflückte er eine Weintraube, bald aß er unter dem Spalier eine Birne; bald zeichnete er alle möglichen Schnörkel mit dem Stock auf den Gartenweg; dann wieder ging er zum Fluß hinunter und sah dem endlos fließenden Wasser zu, das an dem hölzernen Landungssteg, wo sein Boot angekettet lag, vorüberströmte. Иногда он собирал виноград, иногда ел грушу под шпалерой; иногда рисовал палкой всевозможные загогулины на садовой дорожке; потом снова спускался к реке и смотрел, как бесконечно текущая вода проносится мимо деревянной пристани, где на цепи лежала его лодка. Zum Theoretisieren, pflegte er zu sagen, gäbe es keine bessere Zeit als die Morgenfrühe. »Ich stehe früher auf als sonst irgend einer im Dorfe«, prahlte er einmal. »Folglich weiß ich auch mehr als alle anderen und suche mein Wissen weniger auszunutzen.« "Следовательно, я также знаю больше, чем все остальные, и стремлюсь меньше эксплуатировать свои знания".

Der Doktor war ein Kenner in Sonnenaufgängen und liebte als Auftakt für den Tag einen guten theatralischen Effekt. Er hatte eine eigene Theorie über den Tau, nach der er das Wetter vorauszusagen vermochte. Ja, die meisten Dinge mußten zu diesem Zweck herhalten: der Klang der Glocken aus den umliegenden Dörfern, der Geruch des Waldes, die Wanderungen und das Verhalten der Vögel wie der Fische, das Aussehen der Pflanzen in seinem Garten, die Wolkenbildungen, die Farbe des Lichts, und, als letztes und wichtigstes, ein ganzes Arsenal meteorologischer Instrumente, die in einem Verschlag auf dem Rasen geborgen waren. Seit seiner Niederlassung in Gretz hatte er sich allmählich zu dem Lokalmeteorologen und freiwilligen Verfechter des dortigen Klimas entwickelt. Anfänglich glaubte er, daß es im ganzen Arrondissement keinen gesünderen Flecken gäbe als Gretz; schon nach zwei Jahren behauptete er, es gäbe keinen zuträglicheren Ort in dem ganzen Departement. Und bereits seit längerer Zeit vor seinem Zusammentreffen mit Jean-Marie war er bereit, ganz Frankreich und den größeren Teil von Europa in die Schranken zu rufen, daß kein Ort sich mit seinem Lieblingsaufenthalt messen könnte.

»Doktor,« pflegte er zu sagen, »die Bezeichnung Doktor hat einen üblen Klang. Man sollte sie vor Damen nicht gebrauchen. Sie gemahnt an Krankheiten. Ich betrachte es als einen Mangel unserer Zivilisation, daß wir nicht den nötigen Abscheu vor Krankheiten haben. Ich, für meinen Teil, habe wie Pontius Pilatus meine Hände rein davon gewaschen; ich habe auf meinen Laureatus verzichtet; ich bin kein Doktor; ich bin ein schlichter Beter vor dem Altar der wahren Göttin Hygieia. Glauben Sie mir, sie ist es, die den Cestus trägt! Und hier, in diesem verborgenen Weiler, hat sie ihren Tempel ausgeschlagen: hier haust sie, hier streut sie freigebig ihre Gaben aus. Hier wandle ich in frühen Morgenstunden in ihrer Gesellschaft, und sie zeigt mir, wie stark sie die Bauern gemacht, wie fruchtbar die Felder, wie stattlich unter ihren Augen die Bäume wachsen, wie in ihrer Gegenwart die Fische behend und sauber werden. – Rheumatismus!« pflegte er wohl bei einer vorwitzigen Unterbrechung auszurufen, »ja, ja, ich gebe schon zu, daß wir einigen Rheumatismus haben. Das läßt sich, wissen Sie, kaum vermeiden, wenn man an einem Flusse gelegen ist. Und natürlich ist der Ort ein wenig niedrig gelegen; und die Wiesen sind auch ohne Zweifel etwas sumpfig. Aber sehen Sie sich, lieber Herr, einmal Bourron an! Bourron liegt hoch. Bourron hat einen Wald in der Nähe; Ozon die Hülle und Fülle, sollte man meinen. Und im Vergleich mit Gretz ist Bourron doch ein Loch.«

Am Morgen, nachdem man ihn zu dem sterbenden Gaukler gerufen hatte, machte er dem Landungsplatz am Fuße feines Gartens einen Besuch und schaute angelegentlich ins fließende Wasser. Das nannte er seine Andacht halten; ob indes sein Gottesdienst der Göttin Hygieia oder einer orthodoxeren Gottheit galt, war niemals einwandfrei zu ergründen. Tat er doch mitunter dunkle Orakelsprüche, wie: daß der Fluß ein Sinnbild der körperlichen Gesundheit sei; dann wieder pries er ihn als gewaltigen Verkünder der Moral, der dem gequälten menschlichen Geist unablässig Frieden, Kontinuität und Beharrlichkeit vorpredige. Nachdem er einige Meilen klaren Stromes an sich hatte vorüberfließen lassen und etliche Fische als schmalen Silberstreifen an die Oberfläche hatte tauchen sehen, nachdem er ferner nach Herzenslust die langen Schatten der Bäume bewundert, die vom jenseitigen Ufer halb über den Fluß herüberragten und schwimmende Sonnenflecke auf den Wasserspiegel zeichneten, schlenderte er mit dem Gefühl verjüngter Frische durch den Garten ins Haus zurück und auf die Straße.

Das Geräusch seiner Schritte auf dem Fahrdamm leitete das Geschäft des Tages ein, da das Dorf noch in festem Schlafe lag. Der Kirchturm sah im Sonnenglanze besonders luftig aus; vereinzelte Vögel, die ihn umkreisten, schienen in einer Atmosphäre von ungewöhnlicher Leichtigkeit zu schweben, und der in Begleitung seines langen, durchsichtigen Schattens schreitende Doktor sog seine Lungen voll Luft und gestand sich, mit dem Morgen recht wohl zufrieden zu sein. Vor Tentaillons Toreinfahrt gewahrte er eine dunkle, kleine Gestalt gedankenvoll auf einem der Pfosten hocken und erkannte augenblicks Jean-Marie.

»Aha!« sagte er und blieb, beide Hände in launiger Haltung auf die Schenkel gestützt, vor ihm stehen. »Wir find also Frühaufsteher, so, so? Es scheint, wir haben sämtliche Laster der Philosophen.«

Der Junge stellte sich auf die Füße und machte eine ernsthafte Verbeugung.

»Und wie geht es unserem Patienten?« fragte Desprez. Es stellte sich heraus, daß es ihm unverändert ging.

»Und weshalb stehst du morgens so früh auf?« fragte er weiter.

Jean-Marie gestand nach langem Schweigen, daß er es selbst kaum wüßte.

»Du weißt es kaum?« wiederholte Desprez. »Wir wissen schwerlich etwas, junger Mann, was wir nicht zu erlernen suchen. Befrage dein Bewußtsein. Komm, gehen wir dieser Frage auf den Grund. Tust du es gern?«

»Ja,« sagte der Junge sehr langsam, »ja, ich tue es gern.«

»Und weshalb tust du es gern?« fuhr der Doktor fort. »(Wir befolgen jetzt die sokratische Methode.) Weshalb tust du es gern?«

»Es ist überall so still,« entgegnete Jean-Marie; »und ich habe nichts zu tun; und dann kommt es mir vor, als wäre ich gut.«