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Der Schatz von Franchard - Robert Louis Stevenson, Viertes Kapitel - Die Erziehung zum Philosophen - 03

Viertes Kapitel - Die Erziehung zum Philosophen - 03

Das war für Jean-Marie zuviel. Daß irgendein Ort den trefflichsten aller Männer derart zu verwandeln vermöchte, überstieg selbst seine Gläubigkeit. Paris, meinte er, sei sogar eine recht angenehme Stadt. »Und als ich dort wohnte, habe ich keinen großen Unterschied gefühlt,« meinte er beschwörend.

»Was?« rief der Doktor. »Hast du nicht gestohlen, während du dort warst?«

Allein der Junge war nicht zu bewegen, einzugestehen, daß er mit Stehlen Unrecht getan hatte. Noch war, in der Tat, der Doktor davon überzeugt; aber dieser Herr pflegte ja, wenn um eine Antwort verlegen, zu keiner Zeit sonderlich gewissenhaft zu sein.

»Und,« fuhr er fort, »fängst du jetzt an, zu begreifen? Meine einzigen Freunde waren die, die mich ruinierten. Gretz ist meine Akademie, mein Sanatorium, mein Himmel unschuldiger Freuden gewesen. Und wenn mir Millionen geboten würden, ich würde sie zurückweisen: Apage, Satanas! Hebe dich hinweg von mir, Böser! Betrachte eingehendst mein Beispiel; verachte den Reichtum, vermeide den demoralisierenden Einfluß der Städte. Hygiene, Hygiene, und ein mittelmäßiges Vermögen – dies sei deine Parole des Lebens!«

Des Doktors System von Hygiene entsprach in überraschender Weise seinen Neigungen; und sein Bild eines vollkommenen Lebens war ein getreues Abbild des Lebens, das er zur Zeit führte. Es ist indes leicht, einen Knaben zu überzeugen, den man selbst mit allem notwendigen Tatsachenmaterial für die Diskussion versieht. Überdies hatte seine Philosophie einen Vorzug, und das war die Begeisterung des Philosophen. Niemals gab es jemanden mit einem festeren Vorsatz, froh und zufrieden zu sein, und verfügte er auch über keine starke Logik und somit auch nicht über das Recht, den Intellekt zu überzeugen, so war er doch zweifellos etwas von einem Dichter, mit dem Zauber, Herzen zu verführen. Was er nicht in der bei ihm üblichen Stimmung strahlender Bewunderung seiner selbst und seiner Lebensumstände zu erreichen vermochte, bewirkte er mitunter in seinen Anfällen von Trübsinn.

»Junge,« pflegte er dann zu sagen, »geh mir heute aus dem Wege. Wäre ich abergläubisch, ich bäte dich sogar um einen Anteil an deinen Gebeten. Ich bin in meiner schwarzen Stimmung; der böse Geist König Sauls, die Vettel des Kaufmanns Abudah, der persönliche Teufel des mittelalterlichen Mönchs weilt bei mir, – in mir,« sich auf die Brust schlagend. »Die Laster meines Wesens haben jetzt die Oberhand; unschuldige Freuden locken mich vergebens; ich sehne mich nach Paris, danach, mich im Kote zu suhlen. Sieh,« fuhr er dann fort und holte eine Handvoll Silbermünzen hervor, »ich entblöße mich selbst, man darf mir nicht einmal das Reisegeld anvertrauen. Nimm es, hebe es für mich auf, verschwende es an entartete Bonbons, wirf es in den tiefsten Teil des Flusses – ich werde deiner Handlungsweise beistimmen. Rette mich von dem Teil meines Ichs, den ich nicht anerkenne. Siehst du mich straucheln, so zaudere nicht; wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen! Ich spreche natürlich in Parabeln. Jedes Unglück wäre besser, als daß ich lebend Paris erreiche.«

Zweifellos genoß der Doktor diese kleinen Szenen, da sie eine Variante seiner Rolle bildeten; sie stellten das Byronsche Element in der etwas künstlichen Poesie seines Daseins dar; dem Jungen indes waren sie, obwohl auch er unklar das Theatralische dabei empfand, mehr. Der Doktor machte sich vielleicht zu wenig, der Junge indes zu viel aus der Realität und Bedeutung dieser Versuchungen.

Eines Tages kam Jean-Marie eine große Erleuchtung. »Läßt sich Reichtum nicht auch gut anwenden?« fragte er.

»Der Theorie nach schon,« entgegnete der Doktor, »aber die Erfahrung lehrt, daß niemand das wirklich tut. Ein jeder denkt, er wird eine Ausnahme sein, wenn er erst reich geworden ist; allein der Besitz wirkt erniedrigend, neue Begierden keimen, und der alberne Hang zur Prahlerei zehrt die Seele des Genusses auf.«

»Dann wären Sie also auch besser dran, wenn Sie weniger hätten,« sagte der Junge.

»Durchaus nicht«, versetzte der Doktor; aber seine Stimme zitterte dabei.

»Warum nicht?« fragte die erbarmungslose Unschuld. Doktor Desprez sah im Augenblick sämtliche Farben des Regenbogens vor sich; das stabile Weltall um ihn her schien zusammenstürzen zu wollen. »Weil,« sagte er, und gab sich nach einer merklichen Pause den Anschein der Überlegung, »weil ich mein Leben nach meinem gegenwärtigen Einkommen eingerichtet habe. Es ist für Männer meines Alters nicht gut, gewaltsam aus ihren Gewohnheiten gerissen zu werden.«

Die Sache war heikel gewesen. Der Doktor atmete schwer und verfiel den Nachmittag über in Schweigen. Was den Jungen betraf, so war er entzückt über die Lösung seiner Zweifel; ja, er wunderte sich sogar, daß er die naheliegende und bündige Antwort nicht vorausgesehen hatte. Sein Glaube an den Doktor war eine solide Sache. Desprez pflegte nach Tisch, besonders nach Rhoner Wein, seinem Lieblingslaster, einige Ähnlichkeit mit einer Wetterfahne zu besitzen. Er verweilte dann bei der Wärme seiner Gefühle für Anastasie, debattierte, mit brennenden Wangen und einem lockeren, unsicheren Lächeln über alle möglichen Dinge und versuchte, auf eine schwache und indiskrete Weise witzig zu sein. Allein der adoptierte Stalljunge gestattete sich nie einen Zweifel, der nach Undankbarkeit hätte schmecken können. Ein Mann kann sehr wohl wie ein zweiter Vater sein und dennoch gern etwas über den Durst trinken; doch das sind Wahrheiten, die von den besten Naturen stets zuletzt akzeptiert werden.

Der Doktor herrschte unumschränkt über sein Herz, wenn er auch seinen Einfluß auf Jean-Maries Geist vielleicht überschätzte. Zwar machte sich dieser zweifellos einige der Ansichten seines Herrn zu eigen, aber niemand hat je erfahren, daß er eine seiner eigenen aufgegeben hätte. Überzeugungen lebten in ihm, wie Gott sie ihm eingegeben hatte; sie waren jungfräulich, ungeschliffen, rohes Metall. Er konnte zwar neue hinzufügen, nicht aber welche hinwegnehmen; auch war es ihm gleichgültig, ob sie sich untereinander vertrugen, und seine geistigen Freuden bestanden keineswegs darin, an ihnen Kritik zu üben oder sie mit Worten zu rechtfertigen. Worte waren für ihn nichts als eine Kunst, wie zum Beispiel das Tanzen. Wenn er allein war, waren seine Freuden fast vegetabilisch. Er pflegte in die Wälder bei Achères zu entschlüpfen und am Eingang einer Höhle unter grauen Birken zu sitzen. Seine Seele starrte ihm geradewegs aus den Augen; er rührte sich weder, noch faßte er einen Gedanken; Sonnenlicht, schlanke, schwankende Schatten im Wind, die Umrisse der Tannen gegen den Himmel abgezeichnet, erfüllten und bannten seine Sinne. Er war eine vollkommene Einheit, ein völlig losgelöster Geist. Eine einzige Stimmung nahm ihn ganz gefangen, zu der alle durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge beitrugen, wie die Farben des Spektrums alle in Weiß zusammenfließen und verschwinden.

Also versank, während der Doktor sich an Worten berauschte, der angenommene Stalljunge in Sinnen und Schweigen.


Viertes Kapitel - Die Erziehung zum Philosophen - 03

Das war für Jean-Marie zuviel. Daß irgendein Ort den trefflichsten aller Männer derart zu verwandeln vermöchte, überstieg selbst seine Gläubigkeit. Paris, meinte er, sei sogar eine recht angenehme Stadt. »Und als ich dort wohnte, habe ich keinen großen Unterschied gefühlt,« meinte er beschwörend.

»Was?« rief der Doktor. »Hast du nicht gestohlen, während du dort warst?«

Allein der Junge war nicht zu bewegen, einzugestehen, daß er mit Stehlen Unrecht getan hatte. Noch war, in der Tat, der Doktor davon überzeugt; aber dieser Herr pflegte ja, wenn um eine Antwort verlegen, zu keiner Zeit sonderlich gewissenhaft zu sein.

»Und,« fuhr er fort, »fängst du jetzt an, zu begreifen? Meine einzigen Freunde waren die, die mich ruinierten. Gretz ist meine Akademie, mein Sanatorium, mein Himmel unschuldiger Freuden gewesen. Und wenn mir Millionen geboten würden, ich würde sie zurückweisen: __Apage, Satanas__! Hebe dich hinweg von mir, Böser! Betrachte eingehendst mein Beispiel; verachte den Reichtum, vermeide den demoralisierenden Einfluß der Städte. Hygiene, Hygiene, und ein mittelmäßiges Vermögen – dies sei deine Parole des Lebens!«

Des Doktors System von Hygiene entsprach in überraschender Weise seinen Neigungen; und sein Bild eines vollkommenen Lebens war ein getreues Abbild des Lebens, das er zur Zeit führte. Es ist indes leicht, einen Knaben zu überzeugen, den man selbst mit allem notwendigen Tatsachenmaterial für die Diskussion versieht. Überdies hatte seine Philosophie einen Vorzug, und das war die Begeisterung des Philosophen. Niemals gab es jemanden mit einem festeren Vorsatz, froh und zufrieden zu sein, und verfügte er auch über keine starke Logik und somit auch nicht über das Recht, den Intellekt zu überzeugen, so war er doch zweifellos etwas von einem Dichter, mit dem Zauber, Herzen zu verführen. Was er nicht in der bei ihm üblichen Stimmung strahlender Bewunderung seiner selbst und seiner Lebensumstände zu erreichen vermochte, bewirkte er mitunter in seinen Anfällen von Trübsinn.

»Junge,« pflegte er dann zu sagen, »geh mir heute aus dem Wege. Wäre ich abergläubisch, ich bäte dich sogar um einen Anteil an deinen Gebeten. Ich bin in meiner schwarzen Stimmung; der böse Geist König Sauls, die Vettel des Kaufmanns Abudah, der persönliche Teufel des mittelalterlichen Mönchs weilt bei mir, – in mir,« sich auf die Brust schlagend. »Die Laster meines Wesens haben jetzt die Oberhand; unschuldige Freuden locken mich vergebens; ich sehne mich nach Paris, danach, mich im Kote zu suhlen. Sieh,« fuhr er dann fort und holte eine Handvoll Silbermünzen hervor, »ich entblöße mich selbst, man darf mir nicht einmal das Reisegeld anvertrauen. Nimm es, hebe es für mich auf, verschwende es an entartete Bonbons, wirf es in den tiefsten Teil des Flusses – ich werde deiner Handlungsweise beistimmen. Rette mich von dem Teil meines Ichs, den ich nicht anerkenne. Siehst du mich straucheln, so zaudere nicht; wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen! Ich spreche natürlich in Parabeln. Jedes Unglück wäre besser, als daß ich lebend Paris erreiche.«

Zweifellos genoß der Doktor diese kleinen Szenen, da sie eine Variante seiner Rolle bildeten; sie stellten das Byronsche Element in der etwas künstlichen Poesie seines Daseins dar; dem Jungen indes waren sie, obwohl auch er unklar das Theatralische dabei empfand, mehr. Der Doktor machte sich vielleicht zu wenig, der Junge indes zu viel aus der Realität und Bedeutung dieser Versuchungen.

Eines Tages kam Jean-Marie eine große Erleuchtung. »Läßt sich Reichtum nicht auch gut anwenden?« fragte er.

»Der Theorie nach schon,« entgegnete der Doktor, »aber die Erfahrung lehrt, daß niemand das wirklich tut. Ein jeder denkt, er wird eine Ausnahme sein, wenn er erst reich geworden ist; allein der Besitz wirkt erniedrigend, neue Begierden keimen, und der alberne Hang zur Prahlerei zehrt die Seele des Genusses auf.«

»Dann wären Sie also auch besser dran, wenn Sie weniger hätten,« sagte der Junge.

»Durchaus nicht«, versetzte der Doktor; aber seine Stimme zitterte dabei.

»Warum nicht?« fragte die erbarmungslose Unschuld. Doktor Desprez sah im Augenblick sämtliche Farben des Regenbogens vor sich; das stabile Weltall um ihn her schien zusammenstürzen zu wollen. »Weil,« sagte er, und gab sich nach einer merklichen Pause den Anschein der Überlegung, »weil ich mein Leben nach meinem gegenwärtigen Einkommen eingerichtet habe. Es ist für Männer meines Alters nicht gut, gewaltsam aus ihren Gewohnheiten gerissen zu werden.«

Die Sache war heikel gewesen. Der Doktor atmete schwer und verfiel den Nachmittag über in Schweigen. Was den Jungen betraf, so war er entzückt über die Lösung seiner Zweifel; ja, er wunderte sich sogar, daß er die naheliegende und bündige Antwort nicht vorausgesehen hatte. Sein Glaube an den Doktor war eine solide Sache. Desprez pflegte nach Tisch, besonders nach Rhoner Wein, seinem Lieblingslaster, einige Ähnlichkeit mit einer Wetterfahne zu besitzen. Er verweilte dann bei der Wärme seiner Gefühle für Anastasie, debattierte, mit brennenden Wangen und einem lockeren, unsicheren Lächeln über alle möglichen Dinge und versuchte, auf eine schwache und indiskrete Weise witzig zu sein. Allein der adoptierte Stalljunge gestattete sich nie einen Zweifel, der nach Undankbarkeit hätte schmecken können. Ein Mann kann sehr wohl wie ein zweiter Vater sein und dennoch gern etwas über den Durst trinken; doch das sind Wahrheiten, die von den besten Naturen stets zuletzt akzeptiert werden.

Der Doktor herrschte unumschränkt über sein Herz, wenn er auch seinen Einfluß auf Jean-Maries Geist vielleicht überschätzte. Zwar machte sich dieser zweifellos einige der Ansichten seines Herrn zu eigen, aber niemand hat je erfahren, daß er eine seiner eigenen aufgegeben hätte. Überzeugungen lebten in ihm, wie Gott sie ihm eingegeben hatte; sie waren jungfräulich, ungeschliffen, rohes Metall. Er konnte zwar neue hinzufügen, nicht aber welche hinwegnehmen; auch war es ihm gleichgültig, ob sie sich untereinander vertrugen, und seine geistigen Freuden bestanden keineswegs darin, an ihnen Kritik zu üben oder sie mit Worten zu rechtfertigen. Worte waren für ihn nichts als eine Kunst, wie zum Beispiel das Tanzen. Wenn er allein war, waren seine Freuden fast vegetabilisch. Er pflegte in die Wälder bei Achères zu entschlüpfen und am Eingang einer Höhle unter grauen Birken zu sitzen. Seine Seele starrte ihm geradewegs aus den Augen; er rührte sich weder, noch faßte er einen Gedanken; Sonnenlicht, schlanke, schwankende Schatten im Wind, die Umrisse der Tannen gegen den Himmel abgezeichnet, erfüllten und bannten seine Sinne. His soul stared straight out of his eyes; he neither moved nor thought; Sunlight, slender, swaying shadows in the wind, fir trees outlined against the sky, filled and mesmerized his senses. Er war eine vollkommene Einheit, ein völlig losgelöster Geist. Eine einzige Stimmung nahm ihn ganz gefangen, zu der alle durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge beitrugen, wie die Farben des Spektrums alle in Weiß zusammenfließen und verschwinden.

Also versank, während der Doktor sich an Worten berauschte, der angenommene Stalljunge in Sinnen und Schweigen.