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Der Schatz von Franchard - Robert Louis Stevenson, Fünftes Kapitel - Der Schatz wird gefunden - 04

Fünftes Kapitel - Der Schatz wird gefunden - 04

Jean-Marie setzte seine Hoffnung auf Madame Desprez, und während sie zwischen den rauschenden Pappeln die Bourroner Chaussee entlang fuhren, betete er insgeheim und trieb sein Pferd zu ungewohnter Eile an. Sicherlich würde Madame gleich nach ihrer Ankunft ihre Charakterfestigkeit beweisen und diesem wachen Alpdruck ein Ende machen.

Ihre Einfahrt in Gretz wurde von wütendem Hundegebell angekündigt und begleitet; sämtliche Dorfköter schienen den im Gig liegenden Schatz zu riechen. Auf der Straße befand sich jedoch niemand, drei müßige Landschaftsmaler vor Tentaillons Tür ausgenommen. Jean-Marie öffnete das grüngestrichene Tor und führte Wagen und Pferd hinein; fast im gleichen Moment betrat Madame Desprez mit einer brennenden Laterne die Küchenschwelle, denn der Mond stand noch nicht hoch genug, um über die Gartenmauer zu sehen.

»Schließe das Tor, Jean-Marie!« rief der Doktor, indem er etwas unsicher vom Wagen kletterte. »Anastasie, wo ist Aline?«

»Sie ist nach Montereau auf Besuch bei ihren Eltern«, sagte Madame.

»Alles wendet sich zum Guten!« rief der Doktor bewegt. »Komm rasch hierher zu mir; ich möchte nicht zu laut sprechen«, fuhr er fort. »Liebling, wir sind reich!«

»Reich! ?« wiederholte seine Frau.

»Ich habe den Schatz von Franchard gesunden. Schau her, hier sind die ersten Früchte davon; eine Ananas, ein Kleid für meine stets schöne Anastasie – es wird ihr stehen – vertrau eines Gatten, eines Liebhabers Geschmack! Umarme mich, mein Liebling! Die Periode der Dürftigkeit ist vorüber; der Schmetterling entfaltet seine bunten Flügel. Morgen wird Casimir hier sein; in einer Woche sind wir vielleicht schon in Paris – und sind endlich glücklich! Du sollst Brillanten bekommen. Jean-Marie, hol ihn mit größter Sorgfalt aus dem Kutschbock hervor und bring die Sachen Stück für Stück ins Speisezimmer. Wir werden Silbergeschirr auf der Tafel haben! Liebling, beeile dich, diese Schildkröte zu bereiten, sie wird appetitanreizend wirken – ein angenehmes Plus für unsere übliche Magerkost. Ich selbst werde mich in den Keller begeben. Wir werden ein Flaschchen von jenem Beaujolais trinken, den du so liebst, und den Abend mit Hermitage beschließen; es sind noch drei Flaschen da. Ein würdiger Wein für eine würdige Gelegenheit.«

»Aber, lieber Mann, du verdrehst mir ja den Kopf – ich verstehe nicht.«

»Die Schildkröte, meine Angebetete, die Schildkröte!« rief der Doktor, und er schob sie mitsamt der Laterne der Küche zu.

Jean-Marie war sprachlos. Er hatte sich eine ganz andere Szene vorgestellt, einen dringlichen Protest – und seine Hoffnung begann sogleich zu schwinden.

Der Doktor war überall zu gleicher Zeit, wenn auch etwas unsicher auf den Beinen und sich ab und zu mit der Schulter an die Wand drückend. Es war schon lange her, daß er Absinth gekostet hatte, und jetzt dachte er selbst, daß der Absinth ein Mißgriff gewesen war. Nicht daß er an diesem herrlichen Tage den Exzeß bereute; aber er machte sich im Geiste eine Notiz, davor auf der Hut zu sein. Er durfte nicht zum zweitenmal einer so schädlichen Gewohnheit zum Opfer fallen. Im Handumdrehen hatte er seinen Wein aus dem Keller geschafft; er stellte die noch immer mit der historischen Erdkruste behafteten Opfergefäße teils auf dem weißen Tischtuch, teils auf dem Büfett auf; alle paar Augenblicke war er von neuem in der Küche, setzte Anastasie mit Wermuth zu, feuerte sie mit Ausblicken in die Zukunft an und schätzte ihren neuen Reichtum in ständig steigenden Zahlen ab. Noch ehe sie sich zu Tische setzten, waren dieser Dame Tugenden in dem Feuer seiner Begeisterung geschmolzen und ihre Ängstlichkeit geschwunden. Auch sie begann mit Verachtung von dem Leben in Gretz zu sprechen, und als sie Platz genommen hatte und die Suppe ausgab, funkelten ihre Augen in dem Glanze zukünftiger Diamanten.

Während der ganzen Mahlzeit schmiedeten sie und der Doktor Märchenplane. Sie nickten und prosteten einander zu und verbeugten sich über den Tisch herüber. Ihre Gesichter zerflossen in Lächeln; ihre Augen schossen Freudestrahlen, als sie sich des Doktors politische Auszeichnungen und die Salontriumphe der Dame ausmalten.

»Du wirst doch kein Roter werden!« rief Anastasie.

»Ich bin linkes Zentrum bis aufs Blut!« entgegnete der Doktor.

»Madame Gastein wird uns einführen – du wirst sehen, man wird uns vergessen haben«, sagte seine Frau.

»Niemals.« widersprach der Doktor. »Schönheit und Talent lassen ihre Spuren zurück.«

»Ich habe tatsächlich vergessen, wie man sich anzieht,« seufzte sie.

»Liebling, du machst mich erröten,« rief er. »Du hast eine traurige Partie gemacht.«

»Aber dein Erfolg,« rief sie, »zu sehen, wie man dich schätzt und ehrt, in sämtlichen Zeitungen deinen Namen zu lesen, das wird mehr als eine Freude, das wird der Himmel sein!«

»Und einmal die Woche,« sagte der Doktor mit koketter Betonung der einzelnen Silben, »einmal die Woche – ein einziges niedliches Spielchen Baccarat?«

»Nur einmal die Woche?« fragte sie, ihm mit dem Finger drohend.

»Ich schwöre es, bei meiner Ehre als Politiker.«

»Ich verwöhne dich,« sagte sie und reichte ihm die Hand.

Er bedeckte sie mit Küssen.

Jean-Marie schlüpfte in die Nacht hinaus. Der Mond stand hoch über Gretz. Er ging in den Garten hinunter und setzte sich auf den Landungssteg. Der Fluß strömte in Wirbeln geschmeidigen Silbers vorbei und mit einer leisen, eintönigen Melodie. Matte Nebelschleier bewegten sich zwischen den Pappeln am anderen Ufer. Das Schilfrohr nickte lautlos. Wohl hundertmal zuvor hatte der Knabe an ähnlichen Nächten hier gesessen und in ungetrübtem Nachdenken dem eilenden Fluß zugeschaut. Und heute sollte es vielleicht das letztemal sein. Er sollte dies ihm so vertraute Dorf, dies grüne, rauschende Land, den hellen, stillen Strom verlassen. Er sollte in die große Stadt hinein. Seine liebe Herrin würde sich aufgeputzt in den Salons bewegen; sein guter, geschwätziger, warmherziger Herr ein zänkischer Deputierter werden; und beide würden für immer Jean-Marie und ihrem besseren Ich verloren gehen. Er wußte, daß er im Trubel einer Stadt zu immer geringerer Bedeutung, unablässig vom Kind zum Dienstboten herabsinken mußte. Und undeutlich begann er die bösen Prophezeiungen des Doktors zu glauben. Er konnte in beiden bereits eine Veränderung wahrnehmen. Dies eine Mal versagte sein edelmütiges Nichtglaubenkönnen; selbst ein Kind mußte erkennen, daß der Hermitage vollendet hatte, was mit dem Absinth den Anfang genommen. War dies der erste Tag, wie würde dann erst der letzte sein? »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« murmelte er, eingedenk der Parabel des Doktors. Er ließ seine Blicke über das entzückende Bild schweifen und sog die von Heuduft schwangere, zauberhafte Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« wiederholte er. Und er erhob sich und kehrte ins Haus zurück.


Fünftes Kapitel - Der Schatz wird gefunden - 04

Jean-Marie setzte seine Hoffnung auf Madame Desprez, und während sie zwischen den rauschenden Pappeln die Bourroner Chaussee entlang fuhren, betete er insgeheim und trieb sein Pferd zu ungewohnter Eile an. Sicherlich würde Madame gleich nach ihrer Ankunft ihre Charakterfestigkeit beweisen und diesem wachen Alpdruck ein Ende machen.

Ihre Einfahrt in Gretz wurde von wütendem Hundegebell angekündigt und begleitet; sämtliche Dorfköter schienen den im Gig liegenden Schatz zu riechen. Auf der Straße befand sich jedoch niemand, drei müßige Landschaftsmaler vor Tentaillons Tür ausgenommen. Jean-Marie öffnete das grüngestrichene Tor und führte Wagen und Pferd hinein; fast im gleichen Moment betrat Madame Desprez mit einer brennenden Laterne die Küchenschwelle, denn der Mond stand noch nicht hoch genug, um über die Gartenmauer zu sehen.

»Schließe das Tor, Jean-Marie!« rief der Doktor, indem er etwas unsicher vom Wagen kletterte. »Anastasie, wo ist Aline?«

»Sie ist nach Montereau auf Besuch bei ihren Eltern«, sagte Madame.

»Alles wendet sich zum Guten!« rief der Doktor bewegt. »Komm rasch hierher zu mir; ich möchte nicht zu laut sprechen«, fuhr er fort. »Liebling, wir sind reich!«

»Reich! ?« wiederholte seine Frau.

»Ich habe den Schatz von Franchard gesunden. Schau her, hier sind die ersten Früchte davon; eine Ananas, ein Kleid für meine stets schöne Anastasie – es wird ihr stehen – vertrau eines Gatten, eines Liebhabers Geschmack! Umarme mich, mein Liebling! Die Periode der Dürftigkeit ist vorüber; der Schmetterling entfaltet seine bunten Flügel. Morgen wird Casimir hier sein; in einer Woche sind wir vielleicht schon in Paris – und sind endlich glücklich! Du sollst Brillanten bekommen. Jean-Marie, hol ihn mit größter Sorgfalt aus dem Kutschbock hervor und bring die Sachen Stück für Stück ins Speisezimmer. Wir werden Silbergeschirr auf der Tafel haben! Liebling, beeile dich, diese Schildkröte zu bereiten, sie wird appetitanreizend wirken – ein angenehmes Plus für unsere übliche Magerkost. Ich selbst werde mich in den Keller begeben. Wir werden ein Flaschchen von jenem Beaujolais trinken, den du so liebst, und den Abend mit Hermitage beschließen; es sind noch drei Flaschen da. Ein würdiger Wein für eine würdige Gelegenheit.«

»Aber, lieber Mann, du verdrehst mir ja den Kopf – ich verstehe nicht.«

»Die Schildkröte, meine Angebetete, die Schildkröte!« rief der Doktor, und er schob sie mitsamt der Laterne der Küche zu.

Jean-Marie war sprachlos. Er hatte sich eine ganz andere Szene vorgestellt, einen dringlichen Protest – und seine Hoffnung begann sogleich zu schwinden.

Der Doktor war überall zu gleicher Zeit, wenn auch etwas unsicher auf den Beinen und sich ab und zu mit der Schulter an die Wand drückend. Es war schon lange her, daß er Absinth gekostet hatte, und jetzt dachte er selbst, daß der Absinth ein Mißgriff gewesen war. Nicht daß er an diesem herrlichen Tage den Exzeß bereute; aber er machte sich im Geiste eine Notiz, davor auf der Hut zu sein. Er durfte nicht zum zweitenmal einer so schädlichen Gewohnheit zum Opfer fallen. Im Handumdrehen hatte er seinen Wein aus dem Keller geschafft; er stellte die noch immer mit der historischen Erdkruste behafteten Opfergefäße teils auf dem weißen Tischtuch, teils auf dem Büfett auf; alle paar Augenblicke war er von neuem in der Küche, setzte Anastasie mit Wermuth zu, feuerte sie mit Ausblicken in die Zukunft an und schätzte ihren neuen Reichtum in ständig steigenden Zahlen ab. Noch ehe sie sich zu Tische setzten, waren dieser Dame Tugenden in dem Feuer seiner Begeisterung geschmolzen und ihre Ängstlichkeit geschwunden. Auch sie begann mit Verachtung von dem Leben in Gretz zu sprechen, und als sie Platz genommen hatte und die Suppe ausgab, funkelten ihre Augen in dem Glanze zukünftiger Diamanten.

Während der ganzen Mahlzeit schmiedeten sie und der Doktor Märchenplane. Sie nickten und prosteten einander zu und verbeugten sich über den Tisch herüber. Ihre Gesichter zerflossen in Lächeln; ihre Augen schossen Freudestrahlen, als sie sich des Doktors politische Auszeichnungen und die Salontriumphe der Dame ausmalten.

»Du wirst doch kein Roter werden!« rief Anastasie.

»Ich bin linkes Zentrum bis aufs Blut!« entgegnete der Doktor.

»Madame Gastein wird uns einführen – du wirst sehen, man wird uns vergessen haben«, sagte seine Frau.

»Niemals.« widersprach der Doktor. »Schönheit und Talent lassen ihre Spuren zurück.«

»Ich habe tatsächlich vergessen, wie man sich anzieht,« seufzte sie.

»Liebling, du machst mich erröten,« rief er. »Du hast eine traurige Partie gemacht.«

»Aber dein Erfolg,« rief sie, »zu sehen, wie man dich schätzt und ehrt, in sämtlichen Zeitungen deinen Namen zu lesen, das wird mehr als eine Freude, das wird der Himmel sein!«

»Und einmal die Woche,« sagte der Doktor mit koketter Betonung der einzelnen Silben, »einmal die Woche – ein einziges niedliches Spielchen Baccarat?«

»Nur einmal die Woche?« fragte sie, ihm mit dem Finger drohend.

»Ich schwöre es, bei meiner Ehre als Politiker.«

»Ich verwöhne dich,« sagte sie und reichte ihm die Hand.

Er bedeckte sie mit Küssen.

Jean-Marie schlüpfte in die Nacht hinaus. Der Mond stand hoch über Gretz. Er ging in den Garten hinunter und setzte sich auf den Landungssteg. Der Fluß strömte in Wirbeln geschmeidigen Silbers vorbei und mit einer leisen, eintönigen Melodie. Matte Nebelschleier bewegten sich zwischen den Pappeln am anderen Ufer. Das Schilfrohr nickte lautlos. Wohl hundertmal zuvor hatte der Knabe an ähnlichen Nächten hier gesessen und in ungetrübtem Nachdenken dem eilenden Fluß zugeschaut. Und heute sollte es vielleicht das letztemal sein. Er sollte dies ihm so vertraute Dorf, dies grüne, rauschende Land, den hellen, stillen Strom verlassen. Er sollte in die große Stadt hinein. Seine liebe Herrin würde sich aufgeputzt in den Salons bewegen; sein guter, geschwätziger, warmherziger Herr ein zänkischer Deputierter werden; und beide würden für immer Jean-Marie und ihrem besseren Ich verloren gehen. Er wußte, daß er im Trubel einer Stadt zu immer geringerer Bedeutung, unablässig vom Kind zum Dienstboten herabsinken mußte. Und undeutlich begann er die bösen Prophezeiungen des Doktors zu glauben. Er konnte in beiden bereits eine Veränderung wahrnehmen. Dies eine Mal versagte sein edelmütiges Nichtglaubenkönnen; selbst ein Kind mußte erkennen, daß der Hermitage vollendet hatte, was mit dem Absinth den Anfang genommen. War dies der erste Tag, wie würde dann erst der letzte sein? »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« murmelte er, eingedenk der Parabel des Doktors. Er ließ seine Blicke über das entzückende Bild schweifen und sog die von Heuduft schwangere, zauberhafte Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Wenn nötig, bring den Zug zum Entgleisen,« wiederholte er. Und er erhob sich und kehrte ins Haus zurück.