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Der Schatz von Franchard - Robert Louis Stevenson, Erstes Kapitel - Bei dem sterbenden Gaukler

Erstes Kapitel - Bei dem sterbenden Gaukler

Kurz vor sechs hatte man nach dem Bourroner Arzt geschickt. Um acht fanden sieh die Dorfbewohner zur Vorstellung ein, und man sagte ihnen, wie es stünde. Daß ein Gaukler ganz wie ein richtiger Mensch zu erkranken wagte, erschien ihnen als Dreistigkeit, und sie gingen murrend wieder fort. Um zehn begann Madame Tentaillon ernstlich besorgt zu werden und schickte die Straße hinunter zu Doktor Desprez. Der Bote traf den Doktor zu Hause in der einen Ecke des kleinen Speisezimmers über seinen Manuskripten, während seine Frau in der anderen Ecke neben dem Feuer ihr Nickerchen machte.

»Sapristi!« sagte der Doktor, »Ihr hättet mich früher rufen sollen. Der Fall scheint eilig.« Und er folgte dem Boten, ohne sich umzuziehen, in Pantoffeln und Hauskäppchen.

Der Gasthof lag keine dreißig Meter entfernt, aber der Bote machte dort nicht halt. Er ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus in den Hof und schritt voran eine kurze Treppe hinauf, die neben dem Stall auf den Heuboden führte, wo der kranke Gaukler lag. Und wenn Doktor Desprez tausend Jahre alt werden sollte, wird er seinen Eintritt in den Raum nicht vergessen. Die Szene, die sich ihm bot, war nicht nur äußerst malerisch, sondern der Moment sollte ein Markstein in seinem Leben werden. Wir pflegen unser Leben – warum, weiß ich nicht – von unserem ersten kläglichen Auftreten in der menschlichen Gesellschaft, also von unserer ersten Niederlage an, zu datieren, denn mit üblerem Anstande betritt wohl kein Schauspieler die Bühne. Um jedoch nicht zu weit zurückzugreifen und uns überflüssiger Neugierde schuldig zu machen, wollen wir lieber feststellen, daß es in unser aller Leben später noch zahlreiche rührende und einschneidende Ereignisse gibt, die mit ganz dem gleichen Recht wie der Tag der Geburt eine Periode eröffnen. Da war zum Beispiel Doktor Desprez, ein Mann in den Vierzigern, der, wie man es wohl nennt, im Leben gescheitert und überdies noch verheiratet war, und der sich hier vor einem neuen Lebensabschnitt befand im Augenblick, da er die Tür öffnete, die zu dem Heuschober über Tentaillons Stall führte.

Es war ein großer Raum, den nur eine einzige Kerze vom Fußboden her erhellte. Der Gaukler lag aus einer Matratze auf dem Rücken; er war von massigem Körperbau mit einer Nase à la Don Quichotte, die vom Trinken gerötet war. Madame Tentaillon beugte sich über ihn mit einer feuchten, heißen Senfpackung für seine Füße; dicht daneben auf einem Stuhl baumelte ein Bürschchen von elf, zwölf Jahren mit den Beinen. Diese drei waren, die Schatten ausgenommen, die einzigen Bewohner des Schuppens. Allein die Schatten bildeten an sich schon eine ganze Gesellschaft; der große Raum verzerrte sie ins Riesenhafte, und von unten her traf das Licht der Kerze nach oben und schaffte groteske und verunstaltende Verkürzungen. Das Profil des Gauklers war an der Wand zur Karikatur vergrößert, und es war seltsam anzusehen, wie seine Nase im Luftzug der Flamme sich verlängerte und zusammenschrumpfte. Was Madame Tentaillon anbetrifft, so glich ihr Schatten einem einzigen Riesenhöcker, den von Zeit zu Zeit an Stelle eines Kopfes eine Halbkugel krönte. Die Stuhlbeine waren zu spindeldürren Stelzen verlängert, und der Junge hockte über ihnen wie eine Wolke dicht unter der einen Dachecke.

Der Junge vor allem nahm den Doktor gefangen. Er hatte einen großen gewölbten Schädel, Stirn und Hände eines Musikers und ein Paar Augen, die einen nie wieder losließen. Es kam nicht daher, daß sie groß waren, von sanftestem, rötlichem Braun und sehr fest blickten. Daneben war noch etwas an ihnen, das den Doktor bis ins Innerste berührte und ihn fast mit Unruhe erfüllte. Er wußte, daß er diesem Blick schon vorher begegnet war, konnte sich aber des Wie und Wo nicht erinnern. Es war, als hätte dieser Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, die Augen eines alten Freundes oder vielleicht auch eines Feindes. Und der Junge ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; er schien in höchstem Maße gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, vielmehr durch eine überlegene Ruhe von ihm getrennt. Da saß er mit über dem Schoße gefalteten Händen und baumelte sanft mit den Beinen gegen die Querleisten des Stuhles. Und trotzdem folgten seine Augen dem Doktor auf Schritt und Tritt mit gedankenvoller Beharrlichkeit. Desprez wußte nicht, ob er den Jungen faszinierte oder der Junge ihn. Er machte sich mit dem Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenig und fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.

Endlich ging dem Doktor blitzartig ein Licht auf. Jetzt wußte er, wo er dem Blick begegnet war. Das Kerlchen hatte, wenn auch kerzengrade gewachsen, die Augen eines Buckligen. Es war nicht im geringsten deformiert, trotzdem war es, als blickten einem unter jenen Brauen die Augen eines Krüppels an. Der Doktor holte tief Atem, so erleichtert war er, daß er nun eine Theorie gefunden hatte (er liebte die Theorien), mit deren Hilfe er sein Interesse erklären und auflösen konnte.

Trotzdem besorgte er den Kranken mit ungewöhnlicher Eile und wandte sich, noch mit dem einen Bein auf dem Boden kniend, halb um, um mit Muße den Jungen betrachten zu können. Dieser war nicht im geringsten aus der Fassung gebracht, sondern sah seinerseits den Doktor in ungetrübter Ruhe an.

»Ist das dein Vater?« fragte Desprez.

»Oh nein,« versetzte der Junge, »mein Herr.«

»Hast du ihn gern?« fragte der Doktor weiter.

»Nein, Herr«, sagte der Junge.

Madame Tentaillon und Desprez wechselten ausdrucksvolle Blicke.

»Das ist schlimm, junger Mann«, fuhr letzterer mit einem Anflug von Strenge fort. »Jeder sollte die Sterbenden lieb haben, oder doch wenigstens seine Gefühle verbergen; und dein Herr liegt im Sterben. Wenn ich eine Weile zugesehen habe, wie ein Vogel meine Kirschen stiehlt, fühle ich dennoch eine leise Enttäuschung, wenn er über meinen Gartenzaun fliegt, und ich ihn auf den Wald zusteuern und verschwinden sehe. Wie viel mehr also bei einem Geschöpf wie dieses da, so stark, so klug, so reich begabt! Wenn ich mir vor Augen halte, daß in wenigen Stunden seine Rede zum Schweigen gebracht, sein Atem gestorben, ja sogar der Schatten dort an der Wand verschwunden sein wird, so fühlen selbst ich, der ich ihn nie zuvor gesehen habe, und jene Dame dort, die ihn nur als Gast kennt, uns durch eine Art Liebe bewegt.«

Der Junge schwieg eine Weile, scheinbar in Gedanken versunken.

»Sie kannten ihn nicht«, antwortete er schließlich. »Er war ein schlechter Mensch.«

»Er ist ein kleiner Heide«, sagte die Wirtin. »In dem Punkt sind sie einer wie der andere, diese Gaukler, Akrobaten, Artisten und dergleichen. Sie haben kein Inneres.«

Der Doktor jedoch musterte den jungen Heiden immer noch mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Brauen.

»Wie heißt du?« fragte er.

»Jean-Marie«, sagte der Junge.

Desprez schoß auf ihn zu in einem ihm eigenen Anfall plötzlicher Aufregung und betastete allseitig vom ethnologischen Standpunkt aus seinen Kopf.

»Keltisch, keltisch!« rief er.

»Keltisch!« wiederholte Madame Tentaillon, die das Wort wohl mit hydrozephalisch verwechselte. »Armer Junge! Ist es gefährlich?«

»Es kommt drauf an«, erwiderte grimmig der Doktor. Dann wandte er sich abermals an den Jungen: »Womit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Jean-Marie?« erkundigte er sich.

»Ich schlage Purzelbäume«, lautete die Antwort.

»So, so! Purzelbäume?« wiederholte der Doktor.

»Wahrscheinlich sehr gesund. Ich wage zu vermuten, Madame Tentaillon, daß Purzelbäumeschlagen eine gesunde Lebensweise ist. Und hast du jemals etwas anderes getan als Purzelbäumeschlagen?«

»Bevor ich das lernte, habe ich gestohlen«, antwortete Jean-Marie ernsthaft.

»Bei meinem Wort!« rief der Doktor. »Du bist für dein Alter ein nettes Bürschchen. Madame, wenn mein Kollege aus Bourron eintrifft, werden Sie ihm meine wenig günstige Ansicht unterbreiten. Ich überlasse ihm den Fall; sollten natürlich irgendwelche besorgniserregenden Symptome oder gar Zeichen der Besserung sich einstellen, so zögern Sie nicht, mich zu rufen. Ich habe, Gottlob, aufgehört, Arzt zu sein; aber ich bin einmal einer gewesen. Gute Nacht, Madame. Schlafe wohl, Jean-Marie.«

Erstes Kapitel - Bei dem sterbenden Gaukler Chapter One - At the Dying Juggler Capítulo uno - Por el malabarista moribundo Chapitre 1 - Chez le saltimbanque mourant 第一章 - 死にゆくジャグラーによって Hoofdstuk Een - Met de stervende jongleur Rozdział pierwszy - Przez umierającego żonglera Capítulo Um - Pelo Malabarista Moribundo Глава первая - С умирающим жонглером Kapitel ett - Av den döende jonglören Birinci Bölüm - Ölmekte Olan Hokkabaz Tarafından Розділ перший - Вмираючий жонглер 第一章 与垂死的杂耍者

Kurz vor sechs hatte man nach dem Bourroner Arzt geschickt. Just before six, they had sent for the doctor from Bourron. Peu avant six heures, on avait envoyé chercher le médecin de Bourron. Около шести послали за доктором Бурроном. Altıdan kısa bir süre önce Bourron doktorunu çağırmışlardı. Um acht fanden sieh die Dorfbewohner zur Vorstellung ein, und man sagte ihnen, wie es stünde. By eight, the villagers gathered for the show, and they were informed of the situation. A huit heures, les villageois arrivèrent pour le spectacle et on leur dit ce qu'il en était. В восемь часов жители деревни прибыли на представление, и им рассказали, как обстоят дела. Saat sekizde köylüler gösteri için geldiler ve durumun nasıl olduğu anlatıldı. Daß ein Gaukler ganz wie ein richtiger Mensch zu erkranken wagte, erschien ihnen als Dreistigkeit, und sie gingen murrend wieder fort. وبدا لهم أنه من الجرأة أن يجرؤ مشعوذ على أن يصاب بالمرض مثل إنسان حقيقي، فغادروا متذمرين. The audacity of a juggler daring to fall ill just like a real human seemed cheeky to them, and they grumbled and left. Qu'un saltimbanque ose tomber malade comme un vrai homme leur parut de l'audace, et ils s'en allèrent en grommelant. Bir hokkabazın gerçek bir insan gibi hastalanmaya cüret etmesi onlara cüretkârlık gibi göründü ve homurdanarak uzaklaştılar. 他们觉得一个杂耍演员竟然敢像真人一样生病,这太无礼了,他们抱怨着离开了。 Um zehn begann Madame Tentaillon ernstlich besorgt zu werden und schickte die Straße hinunter zu Doktor Desprez. في العاشرة، بدأت مدام تينتايون تشعر بالقلق الشديد وأرسلت إلى الشارع للدكتور ديبريز. By ten, Madame Tentaillon was becoming seriously worried and sent down the street to Doctor Desprez. Vers dix heures, Madame Tentaillon commença à s'inquiéter sérieusement et envoya chercher le docteur Desprez en bas de la rue. 十岁时,坦泰永夫人开始变得非常担心,并派人去见德斯普雷兹医生。 Der Bote traf den Doktor zu Hause in der einen Ecke des kleinen Speisezimmers über seinen Manuskripten, während seine Frau in der anderen Ecke neben dem Feuer ihr Nickerchen machte. he turned to the boy again. "How do you earn a living, Jean-Marie?" he inquired. Le messager rencontra le docteur chez lui, dans un coin de la petite salle à manger, au-dessus de ses manuscrits, tandis que sa femme faisait la sieste dans l'autre coin, près du feu. 信使在小餐厅的一个角落里发现医生在家里,他正在看手稿,而他的妻子则在另一个角落的炉火旁打瞌睡。

»Sapristi!« sagte der Doktor, »Ihr hättet mich früher rufen sollen. "Sapristi!" said the doctor, "You should have called me earlier. The situation seems urgent." And he followed the messenger without changing his attire, wearing slippers and a house cap. "Sapristi !" dit le docteur, "vous auriez dû m'appeler plus tôt. Der Fall scheint eilig.« Und er folgte dem Boten, ohne sich umzuziehen, in Pantoffeln und Hauskäppchen. The inn was not even thirty meters away, but the messenger did not stop there. L'affaire semble urgente". Et il suivit le messager sans se changer, en pantoufles et en chaperon d'intérieur.

Der Gasthof lag keine dreißig Meter entfernt, aber der Bote machte dort nicht halt. The inn was less than thirty yards away, but the messenger didn't stop there. L'auberge se trouvait à moins de trente mètres, mais le messager ne s'y est pas arrêté. Er ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus in den Hof und schritt voran eine kurze Treppe hinauf, die neben dem Stall auf den Heuboden führte, wo der kranke Gaukler lag. He entered through one door and out the other into the yard, then ascended a short staircase next to the stable that led to the hayloft where the sick juggler lay. Und wenn Doktor Desprez tausend Jahre alt werden sollte, wird er seinen Eintritt in den Raum nicht vergessen. And even if Doctor Desprez were to live a thousand years, he would not forget his entrance to the room. Die Szene, die sich ihm bot, war nicht nur äußerst malerisch, sondern der Moment sollte ein Markstein in seinem Leben werden. The scene before him was not only extremely picturesque, but the moment would become a milestone in his life. Wir pflegen unser Leben – warum, weiß ich nicht – von unserem ersten kläglichen Auftreten in der menschlichen Gesellschaft, also von unserer ersten Niederlage an, zu datieren, denn mit üblerem Anstande betritt wohl kein Schauspieler die Bühne. We tend to date our lives - why, I do not know - from our first pitiful appearance in human society, that is, from our first defeat, as no actor enters the stage in a worse state. 我们倾向于把我们的生活——我不知道为什么——从我们在人类社会中第一次悲惨的出现开始,也就是说,从我们第一次失败开始,因为舞台上可能没有比这更体面的演员了。 Um jedoch nicht zu weit zurückzugreifen und uns überflüssiger Neugierde schuldig zu machen, wollen wir lieber feststellen, daß es in unser aller Leben später noch zahlreiche rührende und einschneidende Ereignisse gibt, die mit ganz dem gleichen Recht wie der Tag der Geburt eine Periode eröffnen. However, in order not to digress too far back and incur unnecessary curiosity, let us rather establish that there are still numerous moving and significant events in all our lives that, with just as much right as the day of birth, open a new period. Da war zum Beispiel Doktor Desprez, ein Mann in den Vierzigern, der, wie man es wohl nennt, im Leben gescheitert und überdies noch verheiratet war, und der sich hier vor einem neuen Lebensabschnitt befand im Augenblick, da er die Tür öffnete, die zu dem Heuschober über Tentaillons Stall führte. For example, there was Doctor Desprez, a man in his forties, who, as they say, had failed in life and was also married, and who found himself on the brink of a new phase of life at the moment he opened the door leading to the hayloft above Tentaillon's stable. 例如,Desprez 医生,一个四十多岁的男人,正如你所说的那样,是一个失败的男人,并在那个时候结了婚,当他打开关闭的门时,他正处于人生的新篇章之前Tentailon 的马厩上方的干草堆。 例如,德普雷醫生,一位四十多歲的男人,正如你所說的那樣,是人生的失敗者,但仍然結婚了,當他打開門的那一刻,他發現自己面臨著人生的新階段。

Es war ein großer Raum, den nur eine einzige Kerze vom Fußboden her erhellte. It was a large room, illuminated only by a single candle from the floor. 这是一个很大的房间,只有一根蜡烛在地板上照亮。 Der Gaukler lag aus einer Matratze auf dem Rücken; er war von massigem Körperbau mit einer Nase à la Don Quichotte, die vom Trinken gerötet war. The juggler lay on a mattress on his back; he had a robust build with a nose like Don Quixote's, reddened from drinking. Madame Tentaillon beugte sich über ihn mit einer feuchten, heißen Senfpackung für seine Füße; dicht daneben auf einem Stuhl baumelte ein Bürschchen von elf, zwölf Jahren mit den Beinen. Madame Tentaillon leaned over him with a moist, hot mustard pack for his feet; sitting nearby on a chair was a lad of eleven or twelve, swinging his legs. 坦泰永夫人弯下腰,用湿热的芥末膏敷他的脚。旁边的一张椅子上,一个十一或十二岁的男孩正晃着腿。 Diese drei waren, die Schatten ausgenommen, die einzigen Bewohner des Schuppens. These three, shadows aside, were the only inhabitants of the shed. 除了影子,这三个人是棚子里唯一的居民。 Allein die Schatten bildeten an sich schon eine ganze Gesellschaft; der große Raum verzerrte sie ins Riesenhafte, und von unten her traf das Licht der Kerze nach oben und schaffte groteske und verunstaltende Verkürzungen. But the shadows themselves formed a whole society; the large room distorted them into giants, and the candlelight from below created grotesque and deformed shortenings from above. Das Profil des Gauklers war an der Wand zur Karikatur vergrößert, und es war seltsam anzusehen, wie seine Nase im Luftzug der Flamme sich verlängerte und zusammenschrumpfte. The juggler's profile was enlarged in caricature on the wall, and it was odd to see his nose lengthening and contracting in the draft of the flame. Was Madame Tentaillon anbetrifft, so glich ihr Schatten einem einzigen Riesenhöcker, den von Zeit zu Zeit an Stelle eines Kopfes eine Halbkugel krönte. As for Madame Tentaillon, her shadow resembled a single giant hump, crowned from time to time by a hemisphere instead of a head. Die Stuhlbeine waren zu spindeldürren Stelzen verlängert, und der Junge hockte über ihnen wie eine Wolke dicht unter der einen Dachecke.

Der Junge vor allem nahm den Doktor gefangen. The boy in particular captured the doctor. Er hatte einen großen gewölbten Schädel, Stirn und Hände eines Musikers und ein Paar Augen, die einen nie wieder losließen. Es kam nicht daher, daß sie groß waren, von sanftestem, rötlichem Braun und sehr fest blickten. Daneben war noch etwas an ihnen, das den Doktor bis ins Innerste berührte und ihn fast mit Unruhe erfüllte. Er wußte, daß er diesem Blick schon vorher begegnet war, konnte sich aber des Wie und Wo nicht erinnern. Es war, als hätte dieser Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, die Augen eines alten Freundes oder vielleicht auch eines Feindes. Und der Junge ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; er schien in höchstem Maße gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, vielmehr durch eine überlegene Ruhe von ihm getrennt. And the boy would not let him rest; he seemed supremely indifferent to everything that was going on around him, rather separated from him by a superior calm. Da saß er mit über dem Schoße gefalteten Händen und baumelte sanft mit den Beinen gegen die Querleisten des Stuhles. Und trotzdem folgten seine Augen dem Doktor auf Schritt und Tritt mit gedankenvoller Beharrlichkeit. Et pourtant, ses yeux suivaient le docteur à chaque pas, avec une insistance pleine de pensées. Desprez wußte nicht, ob er den Jungen faszinierte oder der Junge ihn. Desprez didn't know whether he fascinated the boy or the boy fascinated him. Er machte sich mit dem Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenig und fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.

Endlich ging dem Doktor blitzartig ein Licht auf. Finally, the doctor saw the light in a flash. Jetzt wußte er, wo er dem Blick begegnet war. Das Kerlchen hatte, wenn auch kerzengrade gewachsen, die Augen eines Buckligen. The little fellow had the eyes of a hunchback, even though he had grown as tall as a candle. Es war nicht im geringsten deformiert, trotzdem war es, als blickten einem unter jenen Brauen die Augen eines Krüppels an. Der Doktor holte tief Atem, so erleichtert war er, daß er nun eine Theorie gefunden hatte (er liebte die Theorien), mit deren Hilfe er sein Interesse erklären und auflösen konnte.

Trotzdem besorgte er den Kranken mit ungewöhnlicher Eile und wandte sich, noch mit dem einen Bein auf dem Boden kniend, halb um, um mit Muße den Jungen betrachten zu können. Nevertheless, he attended to the patient with unusual haste and, still kneeling with one leg on the ground, turned halfway to leisurely observe the boy. Dieser war nicht im geringsten aus der Fassung gebracht, sondern sah seinerseits den Doktor in ungetrübter Ruhe an. The boy, however, remained completely composed and gazed back at the doctor with undisturbed calm.

»Ist das dein Vater?« fragte Desprez. "Is that your father?" Desprez asked.

»Oh nein,« versetzte der Junge, »mein Herr.« "Oh no," replied the boy, "my master."

»Hast du ihn gern?« fragte der Doktor weiter. "Do you like him?" the doctor continued.

»Nein, Herr«, sagte der Junge. "No, sir," the boy said.

Madame Tentaillon und Desprez wechselten ausdrucksvolle Blicke. Madame Tentaillon and Desprez exchanged meaningful looks.

»Das ist schlimm, junger Mann«, fuhr letzterer mit einem Anflug von Strenge fort. "That is unfortunate, young man," the latter continued with a hint of severity. »Jeder sollte die Sterbenden lieb haben, oder doch wenigstens seine Gefühle verbergen; und dein Herr liegt im Sterben. "Everyone should love the dying, or at least hide their feelings; and your master is dying. Wenn ich eine Weile zugesehen habe, wie ein Vogel meine Kirschen stiehlt, fühle ich dennoch eine leise Enttäuschung, wenn er über meinen Gartenzaun fliegt, und ich ihn auf den Wald zusteuern und verschwinden sehe. Even if I have watched a bird steal my cherries for a while, I still feel a slight disappointment when it flies over my garden fence, heading towards the forest and disappears. Wie viel mehr also bei einem Geschöpf wie dieses da, so stark, so klug, so reich begabt! How much more then with a creature like this one, so strong, so clever, so richly gifted! Wenn ich mir vor Augen halte, daß in wenigen Stunden seine Rede zum Schweigen gebracht, sein Atem gestorben, ja sogar der Schatten dort an der Wand verschwunden sein wird, so fühlen selbst ich, der ich ihn nie zuvor gesehen habe, und jene Dame dort, die ihn nur als Gast kennt, uns durch eine Art Liebe bewegt.« When I consider that in a few hours his voice will be silenced, his breath extinguished, even the shadow on the wall will have disappeared, I, who have never seen him before, and that lady there, who only knows him as a guest, feel moved by a kind of love."

Der Junge schwieg eine Weile, scheinbar in Gedanken versunken. The boy remained silent for a while, seemingly lost in thought.

»Sie kannten ihn nicht«, antwortete er schließlich. "You did not know him," he finally replied. »Er war ein schlechter Mensch.« "He was a bad person."

»Er ist ein kleiner Heide«, sagte die Wirtin. "He is a little heathen," said the landlady. »In dem Punkt sind sie einer wie der andere, diese Gaukler, Akrobaten, Artisten und dergleichen. "In that respect, they are all the same, those jugglers, acrobats, artists, and the like. Sie haben kein Inneres.« They have no inner core."

Der Doktor jedoch musterte den jungen Heiden immer noch mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Brauen. However, the doctor continued to scrutinize the young heathen with furrowed brow and raised eyebrows.

»Wie heißt du?« fragte er. "What is your name?" he asked.

»Jean-Marie«, sagte der Junge.

Desprez schoß auf ihn zu in einem ihm eigenen Anfall plötzlicher Aufregung und betastete allseitig vom ethnologischen Standpunkt aus seinen Kopf.

»Keltisch, keltisch!« rief er.

»Keltisch!« wiederholte Madame Tentaillon, die das Wort wohl mit hydrozephalisch verwechselte. »Armer Junge! Ist es gefährlich?«

»Es kommt drauf an«, erwiderte grimmig der Doktor. "It depends," the doctor replied grimly. 「這要看情況。」醫生嚴肅地回答。 Dann wandte er sich abermals an den Jungen: »Womit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Jean-Marie?« erkundigte er sich. Then he turned to the boy again: "What do you do for a living, Jean-Marie?" he asked.

»Ich schlage Purzelbäume«, lautete die Antwort.

»So, so! Purzelbäume?« wiederholte der Doktor.

»Wahrscheinlich sehr gesund. Ich wage zu vermuten, Madame Tentaillon, daß Purzelbäumeschlagen eine gesunde Lebensweise ist. Und hast du jemals etwas anderes getan als Purzelbäumeschlagen?«

»Bevor ich das lernte, habe ich gestohlen«, antwortete Jean-Marie ernsthaft.

»Bei meinem Wort!« rief der Doktor. »Du bist für dein Alter ein nettes Bürschchen. Madame, wenn mein Kollege aus Bourron eintrifft, werden Sie ihm meine wenig günstige Ansicht unterbreiten. Madame, when my colleague from Bourron arrives, you will give him my unfavorable opinion. Ich überlasse ihm den Fall; sollten natürlich irgendwelche besorgniserregenden Symptome oder gar Zeichen der Besserung sich einstellen, so zögern Sie nicht, mich zu rufen. I will leave the case to him; of course, should any worrying symptoms or even signs of improvement appear, please do not hesitate to call me. Ich habe, Gottlob, aufgehört, Arzt zu sein; aber ich bin einmal einer gewesen. I have, thank God, stopped being a doctor; but I was one once. Gute Nacht, Madame. Good night, madame. Schlafe wohl, Jean-Marie.« Sleep well, Jean-Marie.