19. Dobbys Belohnung
Einen Moment lang herrschte Stille und alle starrten auf Harry, Ron, Ginny und Lockhart, die verdreckt, schleimbeschmiert und (in Harrys Fall) blutbespritzt dastanden. Dann ertönte ein Schrei. »Ginny!« Es war Mrs Weasley, die vor dem Kamin gesessen hatte. Sie sprang auf, Mr Weasley folgte ihr, und beide stürzten sich auf ihre Tochter. Harry jedoch sah an ihnen vorbei. Professor Dumbledore stand am Kamin, mit strahlenden Augen, und neben ihm saß Professor McGonagall, die sich an die Brust gegriffen hatte und zur Beruhigung tief durchatmete. Fawkes flatterte an Harrys Ohr vorbei und ließ sich auf Dumbledores Schulter nieder, und schon holte sich Mrs Weasley auch Harry in die Arme. »Du hast sie gerettet! Du hast sie gerettet! Wie hast du das nur geschafft?« »Das, glaube ich, würden wir alle gern erfahren«, sagte Professor McGonagall mit matter Stimme. Mrs Weasley ließ Harry los, der einen Moment zögerte. Dann ging er hinüber zum Schreibtisch und legte den Sprechenden Hut, das rubinbesetzte Schwert und das Überbleibsel von Riddles Tagebuch darauf ab. Und dann fing er an, ihnen alles zu erzählen. Fast eine Viertelstunde lang sprach er in das gespannte Schweigen hinein: Er erzählte von der körperlosen Stimme und wie Hermine schließlich begriffen hatte, dass er einen Basilisken in den Rohren gehört hatte; wie er und Ron den Spinnen in den Wald gefolgt waren, wo Aragog ihnen sagte, wo das letzte Opfer des Basilisken gestorben war; wie er auf den Gedanken kam, dass die Maulende Myrte dieses Opfer gewesen war und dass der Eingang zur Kammer des Schreckens in ihrer Toilette sein könnte ... »Sehr gut«, half Professor McGonagall ein wenig nach, als er innehielt, »Sie haben also herausgefunden, wo der Eingang ist - und nebenher gut hundert Schulregeln in Stücke gehauen, könnte ich hinzufügen - aber wie um alles in der Welt sind sie da alle wieder lebend rausgekommen, Potter?« Und so erzählte ihnen Harry mit inzwischen heiserer Stimme, dass Fawkes genau im richtigen Moment aufgetaucht sei und der Sprechende Hut ihm das Schwert gegeben habe. Doch dann versagte ihm die Stimme. Er hatte es bisher vermieden, Riddles Tagebuch zu erwähnen - oder Ginny. Sie hatte den Kopf an Mrs Weasleys Schulter gedrückt und Tränen liefen leise ihre Wangen hinunter. Was, wenn man sie von der Schule weisen würde?, dachte Harry panisch. Riddles Tagebuch funktionierte nicht mehr ... wie konnten sie beweisen, dass er es war, der Ginny zu allem gezwungen hatte? Unwillkürlich sah Harry zu Dumbledore hinüber. In seinen halbmondförmigen Brillengläsern spiegelte sich der Schein des Kaminfeuers und er lächelte kaum merklich. »Was mich am meisten interessiert«, sagte Dumbledore sanft, »ist die Frage, wie Lord Voldemort es geschafft hat, Ginny zu verzaubern, wo meine Kundschafter mir doch sagen, dass er sich gegenwärtig in den Wäldern Albaniens versteckt.« Erleichterung - warme, überwältigende, herrliche Erleichterung - durchflutete Harry. »W ... was soll das heißen?«, sagte Mr Weasley verblüfft. »Du-weißt-schon-wer? Hat Ginny ver-verzaubert? Aber Ginny ist nicht ... Ginny war nicht ... oder?« »Es war sein Tagebuch«, sagte Harry rasch, nahm es hoch und zeigte es Dumbledore. »Riddle hat es geschrieben, als er sechzehn war ...« Dumbledore nahm das Tagebuch aus Harrys Hand und senkte neugierig seine lange Hakennase auf die verbrannten und durchweichten Seiten hinab. »Brillant«, sagte er leise. »Natürlich war er der wohl brillanteste Schüler, den Hogwarts je gesehen hat.« Er wandte sich zu den Weasleys um, die völlig perplex aussahen. »Sehr wenige wissen, dass Lord Voldemort einst Tom Riddle hieß. Ich selbst war sein Lehrer, vor fünfzig Jahren in Hogwarts. Er verschwand, nachdem er die Schule verlassen hatte ... reiste in der Welt herum ... versank tief in die dunklen Künste, hat sich mit den Schlimmsten von uns zusammengetan, unterzog sich so vielen gefährlichen, magischen Verwandlungen, dass er, als er als Lord Voldemort wieder auftauchte, kaum wieder zu erkennen war. Kaum jemand hat Lord Voldemort mit dem klugen, hübschen Jungen in Verbindung gebracht, der einst hier Schulsprecher war.« »Aber Ginny«, sagte Mrs Weasley, »was hat unsere Ginny mit ... mit ihm zu tun?« »Sein T ... Tagebuch!«, schluchzte Ginny, »ich hab darin geschrieben und er hat das ganze Jahr über zurückgeschrieben -« »Ginny!«, sagte Mr Weasley verblüfft. »Hab ich dir denn gar nichts beigebracht? Was hab ich dir immer gesagt? Trau nie etwas, das selbst denken kann, wenn du nicht sehen kannst, wo es sein Hirn hat? Warum hast du das Tagebuch nicht mir oder deiner Mutter gezeigt? So ein verdächtiger Gegenstand, natürlich steckte es voll schwarzer Magie -« »Ich - h ... hab es nicht gewusst«, schluchzte Ginny, »ich hab es in einem der Bücher gefunden, die Mum mir gegeben hat, ich d...dachte, jemand hätte es einfach dringelassen und es vergessen -« »Miss Weasley sollte sofort hochgehen in den Krankenflügel«, unterbrach sie Dumbledore mit gebieterischer Stimme. »Das alles war eine schreckliche Qual für sie. Es gibt keine Bestrafung. Ältere und weisere Zauberer wurden bereits von Lord Voldemort hinters Licht geführt.« Er schritt hinüber zur Tür und öffnete sie. »Bettruhe und vielleicht ein großer, dampfender Becher heißer Kakao, mich jedenfalls muntert das immer auf.« Freundlich zwinkernd sah er zu ihr hinab. »Madam Pomfrey wird noch wach sein. Sie gibt gerade den Alraunensaft aus - ich wage zu behaupten, die Opfer des Basilisken werden jeden Moment aufwachen.« »Also wird Hermine gesund!«, sagte Ron freudestrahlend. »Niemand hat einen bleibenden Schaden erlitten, Ginny«, sagte Dumbledore. Mrs Weasley begleitete Ginny hinaus und Mr Weasley, immer noch tief erschüttert, folgte ihnen. »Wissen Sie, Minerva«, sagte Professor Dumbledore nachdenklich zu Professor McGonagall, »ich glaube, all das verlangt nach einem guten Fest. Darf ich Sie bitten, die Küchen auf Trab zu bringen?« »Gut«, sagte Professor McGonagall forsch und ging zur Tür. »Sie erledigen das mit Potter und Weasley alleine, nicht wahr?« »Gewiss«, sagte Dumbledore. Sie ging hinaus und Harry und Ron sahen Dumbledore unsicher an. Was genau hatte Professor McGonagall gemeint mit erledigen? Keinesfalls - keinesfalls - würden sie jetzt bestraft werden? »Soweit ich mich erinnere, hab ich euch beiden gesagt, ich müsse euch von der Schule weisen, falls ihr noch einmal die Regeln brecht«, sagte Dumbledore. Ron öffnete den Mund vor Entsetzen. »Was allerdings heißt, dass selbst die Besten von uns manchmal die eigenen Worte wieder schlucken müssen«, fuhr Dumbledore lächelnd fort. »Sie beide werden Besondere Auszeichnungen für Verdienste um die Schule bekommen und - überlegen wir mal -ja, ich denke, zweihundert Punkte pro Nase für Gryffindor erhalten.« Ron lief so hellrosa an wie Lockharts Valentinsblumen und schloss den Mund. »Doch einer von uns scheint sich über seinen Anteil an diesem gefährlichen Abenteuer ganz und gar auszuschweigen«, fügte Dumbledore hinzu. #Warum so bescheiden, Gilderoy?« Harry fiel es siedend heiß wieder ein. Lockhart hatte er völlig vergessen. Er wandte sich um und sah ihn in einer Ecke stehen, immer noch verschwommen lächelnd. Als Dumbledore ihn ansprach, wandte Lockhart den Kopf, um zu sehen, mit wem er redete. »Professor Dumbledore«, warf Ron ein, »es gab da unten in der Kammer des Schreckens einen Unfall. Professor Lockhart -« »Bin ich ein Professor?«, fragte Lockhart milde überrascht. »Meine Güte. Ich glaube, ich war ein hoffnungsloser Fall, oder?« »Er hat einen Vergessenszauber versucht und der Zauberstab ist nach hinten losgegangen«, erklärte Ron leise zu Dumbledore gewandt. »Der Arme«, sagte Dumbledore und schüttelte den Kopf, wobei sein langer silberner Schnauzbart erzitterte. »Aufgespießt auf ihrem eigenen Schwert, Gilderoy!« »Schwert?«, sagte Lockhart verständnislos. »Hab kein Schwert. Dieser Junge da hat eins«, sagte er auf Harry deutend, »er wird es Ihnen leihen.« »Würdest du bitte auch Professor Lockhart in den Krankenflügel bringen?«, sagte Dumbledore zu Ron. »Ich möchte noch ein paar Worte mit Harry reden ...« Gemächlich ging Lockhart hinaus. Mit einem neugierigen Blick zurück auf Dumbledore und Harry schloss Ron die Tür. Dumbledore trat zu einem Stuhl am Feuer. »Setz dich, Harry«, sagte er und Harry, der sich unerklärlich nervös fühlte, folgte der Aufforderung. »Zunächst einmal möchte ich dir danken, Harry«, sagte Dumbledore, und seine Augen blinkten wieder. »Du musst mir dort unten in der Kammer wirkliche Treue bewiesen haben. Sonst wäre Fawkes nämlich nicht erschienen.« Er streichelte den Phönix, der ihm auf die Knie geflattert war. Harry grinste verlegen, als Dumbledore ihn musterte. »Und du hast also Tom Riddle getroffen«, sagte Dumbledore nachdenklich. »Ich kann mir vorstellen, dass er an dir höchst interessiert war ...« Plötzlich kam Harry etwas, was ihm auf dem Herzen lag, aus dem Mund gekullert. »Professor Dumbledore ... Riddle sagte, ich sei wie er, seltsame Ähnlichkeit, sagte er ...« »Ach, hat er?«, sagte Dumbledore und blickte Harry unter seinen dicken silbernen Augenbrauen nachdenklich an. »Und was denkst du, Harry?« »Ich denke nicht, dass ich wie er bin!«, sagte Harry unwillkürlich laut. »Ich meine, ich bin ... ich bin ein Gryffindor, ich bin ...« Doch er verstummte, denn ein unauslöschlicher Zweifel tauchte abermals in seinen Gedanken auf. »Professor«, hob er nach einer Weile wieder an, »der Sprechende Hut hat mir gesagt, dass ich - dass es mir in Slytherin gut ergangen wäre. Alle dachten eine Zeit lang, ich wäre Slytherins Erbe ... weil ich Parsel sprechen kann ...« »Du kannst Parsel, Harry«, sagte Dumbledore ruhig, »weil Lord Voldemort, der tatsächlich der letzte Nachfahre von Salazar Slytherin ist, Parsel sprechen kann. Und wenn ich mich nicht irre, hat er in jener Nacht, als er dir die Narbe verpasst hat, einige seiner eigenen Kräfte auf dich übertragen ... nicht dass er es beabsichtigt hätte, da bin ich mir sicher ...« »Voldemort hat etwas von sich selbst auf mich übertragen?«, sagte Harry wie vom Donner gerührt. »Es sieht ganz danach aus.« »Also sollte ich tatsächlich in Slytherin sein«, sagte Harry und sah Dumbledore verzweifelt in die Augen. »Der Sprechende Hut hat die Macht Slytherins in mir gespürt und er -« »Hat dich nach Gryffindor gesteckt«, sagte Dumbledore gelassen. »Hör mir zu, Harry. Du hast nun einmal viele der Begabungen, die Salazar Slytherin bei seinen handverlesenen Schülern schätzte. Seine eigene, sehr seltene Gabe, die Schlangensprache, sowie Entschlossenheit, Findigkeit und eine gewisse Neigung, Regeln zu missachten«, fügte er hinzu, und wieder zitterte sein Schnurrbart. »Doch der Sprechende Hut hat dich nach Gryffindor gesteckt. Du weißt, warum. Denk nach.« »Er hat mich nur nach Gryffindor gesteckt«, sagte Harry mit gedrückter Stimme, »weil ich nicht nach Slytherin wollte ...« »Genau«, sagte Dumbledore und strahlte abermals. »Und das heißt, du bist ganz anders als Tom Riddle, Harry. Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich sind.« Harry saß reglos und verblüfft auf seinem Stuhl. »Wenn du einen Beweis willst, dass du nach Gryffindor gehörst, Harry, dann schau dir mal das hier näher an.« Dumbledore beugte sich zu Professor McGonagalls Schreibtisch hinüber, nahm das silberne Schwert hoch und reichte es Harry. Benommen drehte Harry die Waffe um. Die Rubine strahlten im Licht des Feuers. Und dann sah er den Namen, der unterhalb des Griffs eingraviert war. Godric Gryffindor. »Nur ein wahrer Gryffindor hätte das aus dem Hut ziehen können, Harry«, sagte Dumbledore schlicht. Eine Minute lang schwiegen beide. Dann öffnete Dumbledore eine Schublade von Professor McGonagalls Schreibtisch und holte eine Feder und ein Fläschchen Tinte heraus. »Was du brauchst, Harry, ist etwas zu essen und Schlaf. Ich schlage vor, du gehst runter zum Fest, während ich nach Askaban schreibe - wir brauchen unseren Wildhüter wieder. Und ich muss auch eine Anzeige für den Tagespropheten entwerfen«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wir brauchen einen neuen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste ... meine Güte, wir verschleißen sie alle recht schnell.« Harry stand auf und ging zur Tür. Gerade wollte er die Klinke berühren, als die Tür so heftig aufgestoßen wurde, dass sie gegen die Wand knallte. Lucius Malfoy stand vor ihnen, Zornesröte im Gesicht. Und unter seinem Arm kauerte, dick in Binden gewickelt, Dobby. »Guten Abend, Lucius«, sagte Dumbledore vergnügt. Mr Malfoy stieß Harry beinahe um, als er in den Raum rauschte. Dobby humpelte ihm nach und duckte sich unter seinen Rocksaum, mit dem Ausdruck jämmerlicher Angst auf dem Gesicht. »So!«, sagte Lucius Malfoy, die kalten Augen starr auf Dumbledore gerichtet. »Sie sind zurück. Die Schulräte haben Sie beurlaubt, doch Sie hielten es für angebracht, nach Hogwarts zurückzukehren.« »Sehen Sie, Lucius«, sagte Dumbledore feierlich lächelnd, »die anderen elf Schulräte haben mir heute Botschaften geschickt. Kam mir vor, als wäre ich in einen Hagelsturm aus Eulen geraten, um ehrlich zu sein. Sie hatten gehört, dass Arthur Weasleys Tochter getötet worden war, und wollten, dass ich sofort zurückkomme. Sie schienen nun doch zu glauben, ich sei der beste Mann für diese Aufgabe. Außerdem haben sie mir sehr merkwürdige Geschichten erzählt ... etliche von ihnen glaubten offenbar, Sie hätten gedroht, ihre Familien zu verfluchen, falls sie mich nicht beurlauben wollten.« Mr Malfoy wurde noch blasser als sonst, doch seine Augen waren immer noch wuterfüllte Schlitze. »Und - haben Sie den Angriffen schon ein Ende bereitet?«, höhnte er. »Haben Sie den Schurken gefasst?« »Haben wir«, sagte Dumbledore mit einem Lächeln. »Ach ja?«, sagte Mr Malfoy schneidend. »Wer ist es?« »Derselbe wie letztes Mal, Lucius«, sagte Dumbledore und sah mit festem Blick zu ihm hoch. »Doch diesmal hat Lord Voldemort durch jemand anderen gehandelt. Mittels dieses Tagebuchs.« Er hielt das kleine schwarze Buch mit dem großen schwarzen Loch in der Mitte hoch und beobachtete Mr Malfoy genau. Harry jedoch beobachtete Dobby. Der Elf tat etwas sehr Seltsames. Die großen Augen fest auf Harry gerichtet, deutete er auf das Tagebuch, dann auf Mr Malfoy, und dann schlug er sich mit der Faust hart gegen den Kopf, »Ich verstehe ...«, sagte Mr Malfoy langsam zu Dumbledore. »Ein ausgefuchster Plan«, sagte Dumbledore mit gleichmütiger Stimme und sah Malfoy immer noch fest in die Augen. »Denn wenn Harry hier -« Mr Malfoy warf Harry einen schnellen und scharfen Blick zu, »und sein Freund Ron dieses Buch nicht entdeckt hätten, dann - hätte man Ginny Weasley alle Schuld gegeben. Keiner hätte je beweisen können, dass sie nicht aus eigenen Stücken gehandelt hat ...« Mr Malfoy sagte nichts. Sein Gesicht sah plötzlich aus wie eine Maske. »Und stellen Sie sich vor«, fuhr Dumbledore fort, »was dann geschehen wäre ... die Weasleys sind eine unserer bekanntesten reinblütigen Familien. Stellen Sie sich die Folgen für Arthur Weasley und sein Gesetz zum Schutz der Muggel vor, wenn sich erwiesen hätte, dass seine eigene Tochter Muggelstämmige angreift und tötet ... ein Glück, dass das Tagebuch entdeckt und Riddles Gedächtnis darin ausgelöscht wurde. Wer weiß, welche Folgen das noch gehabt hätte ...« Mr Malfoy zwang sich zu sprechen. »Großes Glück«, sagte er steif. Und immer noch deutete Dobby hinter seinem Rücken erst auf das Tagebuch, dann auf Lucius Malfoy und schlug sich dann auf den Kopf, Und plötzlich begriff Harry. Er nickte Dobby zu und Dobby wich in eine Ecke zurück und zog sich zur Strafe an den Ohren. »Wissen Sie, wie Ginny zu diesem Tagebuch gekommen ist, Mr Malfoy?«, sagte Harry. Lucius Malfoy wirbelte herum. »Woher soll ich wissen, wie dieses dumme Mädchen da drangekommen ist?«, antwortete er. »Weil Sie es ihr gaben«, sagte Harry. »Bei Flourish &Blotts. Sie haben ihr altes Verwandlungsbuch vom Boden aufgehoben und das Tagebuch hineingelegt, nicht wahr?« Er sah, wie sich Mr Malfoys weiße Hände zusammenballten und wieder spreizten. »Beweis es«, zischte er. »Oh, keiner wird das können«, sagte Dumbledore und lächelte Harry zu. »Nicht jetzt, da Riddle aus dem Buch verschwunden ist. Andererseits würde ich Ihnen raten, Lucius, nichts mehr von den alten Schulsachen Lord Voldemorts zu verteilen. Sollte noch irgendetwas davon in unschuldige Hände fallen, denke ich, dass Arthur Weasley die Spur zu Ihnen verfolgen wird ...« Lucius Malfoy stand einen Moment lang reglos da und Harry sah seine rechte Hand zucken, als ob es ihn nach seinem Zauberstab gelüstete. Stattdessen wandte er sich seinem Hauselfen zu. »Wir gehen, Dobby!« Er öffnete die Tür und als der Elf herbeigehumpelt kam, stieß er ihn mit einem Fußtritt nach draußen. Sie konnten Dobby den ganzen Korridor entlang vor Schmerz schreien hören. Harry stand eine Weile reglos da und dachte angestrengt nach. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - »Professor Dumbledore«, sagte er hastig, »könnte ich bitte dieses Buch Mr Malfoy zurückgeben?« »Warum nicht, gewiss, Harry«, sagte Dumbledore. »Aber beeil dich. Du weißt, das Fest.« Harry packte das Tagebuch und jagte aus dem Büro. Von fern hörte er Dobbys leiser werdenden Schmerzensschrei. Hastig und voller Zweifel, ob sein Vorhaben gelingen würde, zog Harry einen Schuh aus, dann die schleimige, dreckige Socke und stopfte das Tagebuch hinein. Dann rannte er den dunklen Gang entlang. Auf dem Treppenabsatz holte er sie ein. »Mr Malfoy«, keuchte er und kam vor ihm schlitternd zum Halten. »Ich hab etwas für Sie -« Und er drückte Lucius Malfoy die stinkende Socke in die Hand. »Was zum -?« Mr Malfoy riss die Socke vom Tagebuch, warf sie fort und sah zornig von dem zerstörten Buch zu Harry auf, »Du wirst eines Tages das gleiche üble Schicksal erleiden wie deine Eltern, Harry Potter«, sagte er leise. »Auch sie waren aufdringliche Dummköpfe.« Er schickte sich an zu gehen. »Komm, Dobby. ich sagte, komm.« Doch Dobby rührte sich nicht. Er hielt Harrys eklige Socke empor und musterte sie, als wäre sie ein unschätzbares Geschenk. »Meister hat Dobby eine Socke geschenkt«, sagte der Elf verwundert, »Meister hat sie Dobby gegeben.« »Was soll das heißen?«, fauchte Mr Malfoy. »Was hast du gesagt?« »Dobby hat eine gute Socke«, sagte Dobby ungläubig. »Der Meister hat sie geworfen und Dobby hat sie aufgefangen und Dobby - Dobby ist frei.« Lucius Malfoy stand wie angefroren da und starrte den Elfen an. Dann holte er zum Schlag gegen Harry aus. »Du hast mir meinen D jener gestohlen, verdammter Bengel!« Doch Dobby rief. »Sie dürfen Harry Potter nicht wehtun!« Es gab einen lauten Knall und Mr Malfoy hob es von den Füßen. Drei Stufen auf einmal nehmend stürzte er die Treppe hinunter und landete als zerknautschtes Bündel auf dem Absatz. Er stand auf, das Gesicht rot vor Zorn, und zückte den Zauberstab, doch Dobby hob einen seiner langen, drohenden Finger. »Sie werden jetzt gehen«, sagte er, empört auf Mr Malfoy hinunterdeutend. »Sie werden Harry Potter nicht anrühren. Sie werden jetzt gehen.« Lucius Malfoy hatte keine andere Wahl. Mit einem letzten, hasserfüllten Blick auf die beiden warf er sich den Umhang über und eilte davon. »Harry Potter hat Dobby befreit!«, sagte der Elf schrill und starrte Harry an; das Mondlicht vom Fenster spiegelte sich in seinen Kugelaugen. »Harry Potter hat Dobby befreit!« »War das Mindeste, was ich tun konnte, Dobby«, sagte Harry grinsend. »Versprich mir nur, nie mehr mein Leben retten zu wollen.« Das hässliche braune Gesicht des Elfen teilte sich plötzlich zu einem breiten, zähneblitzenden Lächeln. »Ich hab nur eine Frage, Dobby«, sagte Harry, während Dobby mit zitternden Händen Harrys Socke anzog. »Du hast mir gesagt, all dies hätte nichts zu tun mit jenem, dessen Name nicht genannt werden darf, erinnerst du dich?« »Es war ein Hinweis, Sir«, sagte Dobby und seine Augen weiteten sich, als ob das offensichtlich wäre. »Dobby hat Ihnen einen Hinweis gegeben. Bevor der Dunkle Lord seinen Namen änderte, konnte er einfach beim Namen genannt werden, verstehen Sie?« »Verstehe«, sagte Harry matt. »Nun, ich geh jetzt besser. Es gibt ein Fest und meine Freundin Hermine sollte inzwischen aufgewacht sein ...« Dobby warf die Arme um Harrys Bauch und drückte ihn. »Harry Potter ist noch großartiger, als Dobby wusste!«, schluchzte er. »Alles Gute, Harry Potter!« Und mit einem letzten lauten Krachen verschwand Dobby. Harry war schon auf einigen Festen in Hogwarts gewesen, doch dieses war ein klein wenig anders. Alle waren in ihren Schlafanzügen erschienen und die Feier dauerte die ganze Nacht. Harry wusste nicht, was das Beste war: Hermine, die schreiend auf ihn zugerannt kam, »Du hast es gelöst! Du hast es gelöst!«, oder Justin, der vom Tisch der Hufflepuffs herübereilte, um ihm die Hand zu drücken und sich endlos dafür zu entschuldigen, dass er ihn verdächtigt hatte, oder Hagrid, der um halb vier in der Nacht auftauchte und Harry und Ron so heftig auf die Schultern klopfte, dass sie mit der Nase in die Puddingteller fielen, oder seine und Rons vierhundert Punkte für Gryffindor, die ihnen das zweite Jahr in Folge den Hauspokal einbrachten, oder Professor McGonagall, die ihnen allen verkündete, die Prüfungen seien - als kleines Geschenk der Schule - gestrichen worden (»0 nein!«, stammelte Hermine), oder Dumbledore, der bekannt gab, dass Professor Lockhart nächstes Jahr leider nicht wieder kommen könne, denn er müsse auf Reisen gehen, um sein Gedächtnis wieder zu finden. Nicht wenige der Lehrer stimmten in die Jubelrufe ein, mit denen diese Nachricht aufgenommen wurde. »Schade«, sagte Ron und nahm sich einen Marmeladekrapfen. »Unter meiner Hand ging's ihm doch schon wieder besser.« Der Rest des Sommerhalbjahres verging in einem Nebel gleißenden Sonnenscheins. In Hogwarts ging alles wieder seinen üblichen Gang, mit nur ein paar kleinen Unterschieden - Verteidigung gegen die dunklen Künste wurde nicht mehr gegeben (»darin haben wir ohnehin viel Übung inzwischen«, tröstete Harry die enttäuschte Hermine) und Lucius Malfoy war als Schulrat gefeuert worden. Draco stolzierte nicht mehr in der Schule umher, als ob er der Schlossherr wäre. Im Gegenteil, er sah geradezu verhärmt und schmollend aus. Hingegen war Ginny Weasley wieder vollkommen glücklich. Allzu bald war es Zeit für die Heimreise mit dem Hogwarts-Express. Harry, Ron, Hermine, Fred, George und Ginny bekamen ein Abteil für sich. Sie nutzten die letzten paar Stunden vor den Ferien, in denen sie noch zaubern durften, weidlich aus. Sie spielten »Snape explodiert«, ließen Freds und Georges allerletzte Filibuster-Kracher hochgehen und übten Entwaffnung mit Zauberkraft. Harry konnte es allmählich richtig gut. Sie waren fast schon im Bahnhof King's Cross, als Harry noch etwas einfiel. »Ginny, wobei hast du Percy eigentlich erwischt, was solltest du niemandem erzählen?« »Ach, das«, sagte Ginny kichernd. »Naja, Percy hat eine Freundin.« Fred ließ einen Stapel Bücher auf Georges Kopf fallen. »Was?« »Es ist diese Vertrauensschülerin der Ravenclaws, Penelope Clearwater«, sagte Ginny. »Ihr hat er den ganzen letzten Sommer über geschrieben. Sie haben sich heimlich überall in der Schule getroffen. Einmal bin ich in ein leeres Klassenzimmer geraten und hab gesehen, wie sie sich küssten. Er war so erschüttert, als sie - ihr wisst schon - angegriffen wurde. Aber ihr zieht ihn doch damit jetzt nicht auf, oder?«, fügte sie besorgt hinzu. »Fiele mir nicht im Traum ein«, sagte Fred, der aussah, als wäre sein Geburtstag vorverlegt worden. »Ganz bestimmt nicht«, sagte George wiehernd. Der Hogwarts-Express bremste und kam schließlich zum Stehen. Harry zog seinen Federkiel und ein Stück Pergament hervor und wandte sich Ron und Hermine zu. »Das hier nennt man eine Telefonnummer«, erklärte er Ron und schrieb sie zweimal hin, riss das Blatt durch und gab ihnen die Hälften. »Ich hab deinem Dad letzten Sommer gesagt, wie man ein Telefon benutzt, er weiß es jetzt. Ruft mich bei den Dursleys an ja? ich halt es nicht noch mal zwei Monate alleine mit Dudley aus ...« »Dein Onkel und deine Tante werden doch sicher stolz sein«, sagte Hermine, als sie aus dem Zug stiegen und sich der Menge anschlossen, die durch die verzauberte Absperrung drängte. »Wenn sie hören, was du dieses Jahr getan hast?« »Stolz?«, sagte Harry. »Bist du verrückt? Wo ich doch so oft hätte sterben können und es nicht geschafft habe? Die werden sauer sein ...« Und gemeinsam gingen sie durch, das Tor zurück in die Muggelwelt.