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Wolfgang Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch

Wolfgang Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch

Wolfgang Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch (November 1947)

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste. *

Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, dass jemand gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. „Jetzt haben sie mich!“ dachte er. Aber als er ein bisschen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. Die standen ziemlich krumm vor ihm, dass er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen.

„Du schläfst hier wohl, was?“ fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: „Nein, ich schlafe nicht. Ich muss hier aufpassen.“ Der Mann nickte: „So, dafür hast du wohl den großen Stock da?“

„Ja“, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.

„Worauf passt du denn auf?“

„Das kann ich nicht sagen.“ Er hielt die Hände fest um den Stock.

„Wohl auf Geld, was?“ Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinen Hosenbeinen hin und her.

„Nein, auf Geld überhaupt nicht“, sagte Jürgen verächtlich. „Auf ganz etwas anderes.“

„Na, was denn?“

„Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.“

„Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe.“ Der Mann stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.

„Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist“, sagte Jürgen geringschätzig. „Kaninchenfutter.“

„Donnerwetter*, ja!“ sagte der Mann verwundert, „Du bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?“

„Neun.“

„Oha, denk mal an, neun also. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?“

„Klar“, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: „Das ist ja ganz leicht.“ Und er sah durch die Beine des Mannes hindurch. „Dreimal neun, nicht?“ fragte er noch einmal, „siebenundzwanzig. Das wusste ich gleich.“

„Stimmt“, sagte der Mann, „und genauso viele Kaninchen habe ich.“ Jürgen machte einen runden Mund: „Siebenundzwanzig?“

„Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?“

„Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen“, sagte Jürgen unsicher.

„Immerzu?“ fragte der Mann, „nachts auch?“

„Nachts auch. Immerzu. Immer.“ Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. „Seit Sonnabend schon“, flüsterte er.

„Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? Du musst doch essen.“

Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot und eine Blechschachtel.

„Du rauchst?“ fragte der Mann, „hast du denn eine Pfeife?“

Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: „Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.“

„Schade“, der Mann bückte sich zu seinem Korb, „die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können. Vor allem die Jungen. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg.“

„Nein“, sagte Jürgen traurig, „nein, nein.“

Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. „Na ja, wenn du hier bleiben musst – schade.“ Und er drehte sich um.

„Wenn du mich nicht verrätst“, sagte Jürgen da schnell, „es ist wegen der Ratten.“ Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: „Wegen der Ratten?“

„Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.“

„Wer sagt das?“

„Unser Lehrer.“

„Und du passt nun auf die Ratten auf?“ fragte der Mann.

„Auf die doch nicht!“ Und dann sagte er ganz leise: „Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da.“ Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. „Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.“

Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?“

„Nein“, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, „das hat er nicht gesagt“.

„Na“, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, schon.“

Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten.

Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): „Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?“

Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. „Ich weiß nicht“, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, „wenn sie wirklich nachts schlafen.“

Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. „Natürlich“, sagte er von da, „euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.“

Da stand Jürgen auf und fragte: „Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?“

„Ich will mal versuchen“, rief der Mann schon im Weggehen, „aber du musst hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen“.

„Ja“, rief Jürgen, „ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.“ Und er rief: „Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter“, rief er.

Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend, und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien, so krumm waren sie. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.

Wolfgang Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch Wolfgang Borchert: The rats sleep at night Wolfgang Borchert: Las ratas duermen por la noche ولفگانگ بورچرت: موش ها شب ها می خوابند Wolfgang Borchert : La nuit, les rats dorment quand même Wolfgang Borchert: Szczury śpią w nocy Wolfgang Borchert: Os ratos dormem de facto à noite Вольфганг Борхерт: Крысы спят по ночам Wolfgang Borchert: Råttorna sover faktiskt på natten Wolfgang Borchert: Fareler geceleri uyur

Wolfgang Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch (November 1947)

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. The hollow window in the lonely wall yawned red and blue full of early evening sun. پنجره توخالی در دیوار تنها خمیازه می کشید آبی-قرمز پر از آفتاب اوایل عصر. Порожнє вікно в самотній стіні зяяло синьо-червоним від раннього вечірнього сонця. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Clouds of dust shimmered between the steep chimney remains. Die Schuttwüste döste. The desert of rubble dozed. *

Er hatte die Augen zu. His eyes were closed. Mit einmal wurde es noch dunkler. Suddenly it became even darker. Er merkte, dass jemand gekommen war und nun vor ihm stand, dunkel, leise. He realized that someone had come and was now standing in front of him, darkly, quietly. „Jetzt haben sie mich!“ dachte er. "Now they've got me!" he thought. Aber als er ein bisschen blinzelte, sah er nur zwei etwas ärmlich behoste Beine. But when he blinked a little, all he saw were two somewhat poorly legs. Die standen ziemlich krumm vor ihm, dass er zwischen ihnen hindurchsehen konnte. They stood quite crooked in front of him so that he could see between them. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann. Der hatte ein Messer und einen Korb in der Hand. He had a knife and a basket in his hand. Und etwas Erde an den Fingerspitzen. And some soil on the fingertips.

„Du schläfst hier wohl, was?“ fragte der Mann und sah von oben auf das Haargestrüpp herunter. "You're sleeping here, aren't you?" the man asked, looking down at the undergrowth from above. Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: „Nein, ich schlafe nicht. Ich muss hier aufpassen.“ Der Mann nickte: „So, dafür hast du wohl den großen Stock da?“ I have to be careful here." The man nodded: "So, that's what you've got the big stick for?"

„Ja“, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.

„Worauf passt du denn auf?“ "What are you looking out for?"

„Das kann ich nicht sagen.“ Er hielt die Hände fest um den Stock. "I can't say." He gripped his cane tightly.

„Wohl auf Geld, was?“ Der Mann setzte den Korb ab und wischte das Messer an seinen Hosenbeinen hin und her.

„Nein, auf Geld überhaupt nicht“, sagte Jürgen verächtlich. „Auf ganz etwas anderes.“

„Na, was denn?“

„Ich kann es nicht sagen. Was anderes eben.“

„Na, denn nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe.“ Der Mann stieß mit dem Fuß an den Korb und klappte das Messer zu.

„Pah, kann mir denken, was in dem Korb ist“, sagte Jürgen geringschätzig. „Kaninchenfutter.“

„Donnerwetter*, ja!“ sagte der Mann verwundert, „Du bist ja ein fixer Kerl. Wie alt bist du denn?“

„Neun.“

„Oha, denk mal an, neun also. "Oh well, think about it, nine then. Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?“

„Klar“, sagte Jürgen, und um Zeit zu gewinnen, sagte er noch: „Das ist ja ganz leicht.“ Und er sah durch die Beine des Mannes hindurch. „Dreimal neun, nicht?“ fragte er noch einmal, „siebenundzwanzig. "Three times nine, right?" he asked again, "twenty-seven. Das wusste ich gleich.“ I knew that straight away."

„Stimmt“, sagte der Mann, „und genauso viele Kaninchen habe ich.“ Jürgen machte einen runden Mund: „Siebenundzwanzig?“ "That's right," said the man, "and I have just as many rabbits." Jürgen's mouth rounded: "Twenty-seven?"

„Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du?“

„Ich kann doch nicht. Ich muss doch aufpassen“, sagte Jürgen unsicher.

„Immerzu?“ fragte der Mann, „nachts auch?“

„Nachts auch. Immerzu. Immer.“ Jürgen sah an den krummen Beinen hoch. „Seit Sonnabend schon“, flüsterte er.

„Aber gehst du denn gar nicht nach Hause? "But aren't you going home at all? Du musst doch essen.“

Jürgen hob einen Stein hoch. Da lag ein halbes Brot und eine Blechschachtel.

„Du rauchst?“ fragte der Mann, „hast du denn eine Pfeife?“

Jürgen fasste seinen Stock fest an und sagte zaghaft: „Ich drehe. Pfeife mag ich nicht.“ I don't like pipes."

„Schade“, der Mann bückte sich zu seinem Korb, „die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können. "Too bad," the man bent down to his basket, "you could have had a look at the rabbits. Vor allem die Jungen. Especially the young ones. Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Maybe you would have chosen one. Aber du kannst hier ja nicht weg.“ But you can't leave here."

„Nein“, sagte Jürgen traurig, „nein, nein.“

Der Mann nahm den Korb hoch und richtete sich auf. „Na ja, wenn du hier bleiben musst – schade.“ Und er drehte sich um. "Well, if you have to stay here - too bad." And he turned around.

„Wenn du mich nicht verrätst“, sagte Jürgen da schnell, „es ist wegen der Ratten.“ Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: „Wegen der Ratten?“ "If you don't give me away," Jürgen said quickly, "it's because of the rats." The crooked legs took a step back: "Because of the rats?"

„Ja, die essen doch von Toten. "Yes, they eat from the dead. Von Menschen. Da leben sie doch von.“ That's what they live on."

„Wer sagt das?“

„Unser Lehrer.“

„Und du passt nun auf die Ratten auf?“ fragte der Mann. "And you're looking after the rats now?" the man asked.

„Auf die doch nicht!“ Und dann sagte er ganz leise: „Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da.“ Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. „Unser Haus kriegte eine Bombe. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Suddenly the light was gone in the cellar. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss hier ja noch sein. Er ist doch viel kleiner als ich.“

Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?“ But then he suddenly said: "Yes, didn't your teacher tell you that rats sleep at night?"

„Nein“, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, „das hat er nicht gesagt“.

„Na“, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. "Well," said the man, "that's a teacher if he doesn't even know that. Nachts schlafen die Ratten doch. The rats do sleep at night. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. You can go home at night. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird, schon.“

Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Jürgen made small hollows in the rubble with his stick. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten. They're all small beds, he thought, all small beds.

Da sagte der Mann (und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei): „Weißt du was? Then the man said (and his crooked legs were very restless): "You know what? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Now I'll quickly feed my rabbits and when it gets dark, I'll come and get you. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines oder, was meinst du?“ A little or, what do you think?"

Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Jürgen made small hollows in the rubble. Lauter kleine Kaninchen. Lots of little rabbits. Weiße, graue, weißgraue. „Ich weiß nicht“, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, „wenn sie wirklich nachts schlafen.“

Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. „Natürlich“, sagte er von da, „euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.“ "Of course," he said from there, "your teacher should pack up if he doesn't even know that."

Da stand Jürgen auf und fragte: „Wenn ich eins kriegen kann? Jürgen stood up and asked: "If I can have one? Ein weißes vielleicht?“ A white one perhaps?"

„Ich will mal versuchen“, rief der Mann schon im Weggehen, „aber du musst hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du? I'll go home with you then, you know? Ich muss deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müsst ihr ja wissen“.

„Ja“, rief Jürgen, „ich warte. Ich muss ja noch aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.“ Und er rief: „Wir haben auch noch Bretter zu Hause. Kistenbretter“, rief er.

Aber das hörte der Mann schon nicht mehr. But the man no longer heard that. Er lief mit seinen krummen Beinen auf die Sonne zu. Die war schon rot vom Abend, und Jürgen konnte sehen, wie sie durch die Beine hindurchschien, so krumm waren sie. It was already red from the evening, and Jürgen could see it shining through her legs, they were so crooked. Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. And the basket swung back and forth excitedly. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt. Green rabbit food that was a little gray from the rubble.