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Edgar Allan Poe - Horrorgeschichten, William Wilson - 02

William Wilson - 02

Das zweite Grundstück war von unregelmäßiger Form und hatte manche umfangreiche Plätze. Drei oder vier der größten bildeten den Spielhof. Er war eben und mit feinem harten Kies bedeckt; weder Bäume noch Bänke standen dort. Natürlich lag er in der Nähe des Hauses. Vor dem Hause lag ein schmaler Rasenplatz, mit Buchsbaum und anderem Strauchwerk eingefasst; diesen geheiligten Teil überschritten wir jedoch nur selten, etwa bei Ankunft in der Schule oder bei der endgültigen Abreise oder, wenn ein Verwandter oder Freund uns eingeladen, die Weihnachts- oder Sommerferien bei ihm zu verleben.

Aber das Haus! – Was war es für ein komischer, alter Bau! Für mich ein wahres Zauberschloss! Seine Winkel und Gänge, seine unbegreiflichen Ein- und Anbauten nahmen kein Ende. Es war jederzeit schwierig, anzugeben, in welchem seiner beiden Stockwerke man sich gerade befand. Man konnte sicher sein, von einem Zimmer zum anderen immer ein paar Stufen hinauf oder hinunter zu müssen. Dann gab es zahllose Seitengänge, die sich trennten und wieder vereinigten oder sich wie ein Ring in sich selbst schlossen, so dass der klarste Begriff, den wir vom ganzen Hause hatten, beinahe der Vorstellung gleichkam, die wir uns von der Unendlichkeit machten. Während der fünf Jahre, die ich hier verlebte, konnte ich nie mit Sicherheit feststellen, in welchem entlegenen Teile der kleine Schlafsaal lag, der mir und etlichen, achtzehn oder zwanzig, anderen Schülern zugewiesen war.

Das Schulzimmer schien mir der größte Raum im Hause – ja, in der ganzen Welt! Es war sehr lang, schmal und auffallend niedrig, mit spitzen, gotischen Fenstern und einer Decke aus Eichenholz. In einem entlegenen, Schrecken einflößenden Winkel befand sich ein viereckiger Verschlag von acht oder zehn Fuß Durchmesser, der stets während der Unterrichtsstunden das ›sanctum‹ unseres Schulvorstehers, des Reverend Dr. Bransby bildete. Der Verschlag war durch eine mächtige Türe wohlverwahrt, und wir wären lieber unter Martern gestorben, als dass wir gewagt hätten, in Abwesenheit des Dominus die Türe zu öffnen. In anderen Winkeln standen zwei ähnliche Kästen, vor denen wir zwar weniger Ehrfurcht, aber immerhin Furcht hatten. Einer derselben war das Katheder des Lehrers für klassische Sprachen, der andere das für den Lehrer des Englischen, der gleichzeitig Mathematiklehrer war. Verstreut im Saal, kreuz und quer in wüster Unregelmäßigkeit, standen zahlreiche Bänke und Pulte, schwarz, alt und abgenutzt, mit Stapeln abgegriffener Bücher bedeckt und so mit Initialen, ganzen Namen, komischen Figuren und anderen künstlerischen Schnitzversuchen bedeckt, dass sie ganz ihre ursprüngliche Form, die sie in längst vergangenen Tagen besessen haben mussten, eingebüßt hatten. Am einen Ende des Saales stand ein riesiger Eimer mit Wasser, am anderen eine Uhr von verblüffenden Dimensionen.

Eingeschlossen von den gewaltigen Mauern dieser ehrwürdigen Anstalt, verbrachte ich das dritte Lustrum meines Lebens – doch weder in Langeweile noch Unbehagen. Die überschäumende Gestaltungskraft des kindlichen Geistes verlangt keine Welt der Ereignisse, um Beschäftigungen oder Unterhaltung zu finden, und die anscheinend düstere Einförmigkeit der Schule brachte mir stärkere Erregungen, als meine reifere Jugend aus dem Wohlleben oder meine volle Manneskraft aus dem Verbrechen schöpften. Ich muss allerdings annehmen, dass meine geistige Entwicklung eine ungewöhnliche, ja fast krankhafte gewesen ist. Die meisten Menschen haben in reifen Jahren selten noch eine frische Erinnerung an die großen Ereignisse aus ihrer frühen Kindheit. Alles ist schattenhaft grau – wird schwach und unklar empfunden – ein unbestimmtes Zusammensuchen matter Freuden und eingebildeter Leiden. Mit mir war es anders. Ich muss schon als Kind mit der Empfindungskraft eines Erwachsenen alles das erlebt haben, was noch jetzt mit klaren, tiefen und unverwischbaren Schriftzügen, wie die Inschriften auf den karthagischen Münzen, in meinem Gedächtnis eingegraben steht.

Und doch, wie wenig – wenig vom Standpunkt der Menge aus – gab es, was der Erinnerung wert gewesen wäre! Das morgendliche Erwachen, der abendliche Befehl zum Schlafengehen, der Unterricht; die jeweiligen schulfreien Nachmittage mit ihren Streifzügen; der Spielplatz mit seiner Kurzweil, seinem Streit, seinen kleinen Intrigen; – all dieses, was meinem Geist wie durch einen Zauber lange Zeit ganz entrückt gewesen, war dazu angetan, eine Fülle von Empfindungen, eine Welt reichen Geschehens, eine Unendlichkeit vielfältiger Eindrücke und Leidenschaften zu erwecken. ›O le bon temps, que ce siècle de fer!‹

Es ist Tatsache: mein feuriges, begeistertes, überlegenes Wesen zeichnete mich vor meinen Schulkameraden aus und hob mich nach und nach über alle empor, die nicht etwa bedeutend älter waren als ich selbst – über alle, mit einer Ausnahme! Diese Ausnahme war ein Schüler, der, obwohl er kein Verwandter von mir war, doch den gleichen Vor- und Zunahmen trug wie ich – ein an sich unbedeutender Umstand. Denn ungeachtet meiner edlen Abkunft trug ich einen Namen, der in unvordenklichen Zeiten durch das Recht der Verjährung jedermann freigegeben worden sein mochte. Ich habe mich also hier in meiner Erzählung William Wilson genannt – ein Name, der von dem wirklichen Namen nicht allzusehr abweicht. Von allen Kameraden nun, die bei unsern Spielen meine »Bande« bildeten, wagte es mein Namensvetter allein, sowohl im Unterricht als auch in Sport und Spiel mit mir zu wetteifern, meinen Behauptungen keinen Glauben zu schenken, sich meinem Willen nicht unterzuordnen – kurz, sich in allem gegen meine ehrgeizige Oberherrschaft aufzulehnen. Wenn es aber auf Erden einen überlegenen und unbeschränkten Despotismus gibt, so ist es der, den der Herrschergeist eines Knaben auf seine weniger willensstarken Gefährten ausübt.


William Wilson - 02 William Wilson - 02 William Wilson - 02 William Wilson - 02 Уильям Уилсон - 02

Das zweite Grundstück war von unregelmäßiger Form und hatte manche umfangreiche Plätze. Drei oder vier der größten bildeten den Spielhof. Três ou quatro dos maiores formavam o playground. Er war eben und mit feinem harten Kies bedeckt; weder Bäume noch Bänke standen dort. Era plano e coberto com cascalho fino e duro; não havia árvores nem bancos. Natürlich lag er in der Nähe des Hauses. Claro que era perto de casa. Vor dem Hause lag ein schmaler Rasenplatz, mit Buchsbaum und anderem Strauchwerk eingefasst; diesen geheiligten Teil überschritten wir jedoch nur selten, etwa bei Ankunft in der Schule oder bei der endgültigen Abreise oder, wenn ein Verwandter oder Freund uns eingeladen, die Weihnachts- oder Sommerferien bei ihm zu verleben. Na frente da casa havia um gramado estreito, cercado de buxo e outros arbustos; no entanto, raramente cruzávamos essa parte sagrada, como na chegada à escola ou na saída final, ou quando um parente ou amigo nos convidava para passar o Natal ou as férias de verão com eles.

Aber das Haus! Mas a casa! – Was war es für ein komischer, alter Bau! – Que estranho prédio antigo era aquele! Für mich ein wahres Zauberschloss! Para mim um verdadeiro castelo mágico! Seine Winkel und Gänge, seine unbegreiflichen Ein- und Anbauten nahmen kein Ende. Seus cantos e recantos, seus acréscimos e acréscimos incompreensíveis eram infinitos. Es war jederzeit schwierig, anzugeben, in welchem seiner beiden Stockwerke man sich gerade befand. Era sempre difícil dizer em qual dos dois andares você estava. Man konnte sicher sein, von einem Zimmer zum anderen immer ein paar Stufen hinauf oder hinunter zu müssen. Dann gab es zahllose Seitengänge, die sich trennten und wieder vereinigten oder sich wie ein Ring in sich selbst schlossen, so dass der klarste Begriff, den wir vom ganzen Hause hatten, beinahe der Vorstellung gleichkam, die wir uns von der Unendlichkeit machten. Depois, havia inúmeras passagens laterais que se separavam e se juntavam, ou se fechavam sobre si mesmas como um anel, de modo que o conceito mais claro que tínhamos de toda a casa era quase como a ideia que tínhamos do infinito. Während der fünf Jahre, die ich hier verlebte, konnte ich nie mit Sicherheit feststellen, in welchem entlegenen Teile der kleine Schlafsaal lag, der mir und etlichen, achtzehn oder zwanzig, anderen Schülern zugewiesen war. Durante os cinco anos que vivi aqui, nunca consegui determinar com certeza em que parte remota ficava o pequeno dormitório designado para mim e vários outros alunos, dezoito ou vinte.

Das Schulzimmer schien mir der größte Raum im Hause – ja, in der ganzen Welt! A sala de aula me parecia o maior cômodo da casa - sim, do mundo inteiro! Es war sehr lang, schmal und auffallend niedrig, mit spitzen, gotischen Fenstern und einer Decke aus Eichenholz. Era muito comprido, estreito e notavelmente baixo, com janelas góticas pontiagudas e teto de carvalho. In einem entlegenen, Schrecken einflößenden Winkel befand sich ein viereckiger Verschlag von acht oder zehn Fuß Durchmesser, der stets während der Unterrichtsstunden das ›sanctum‹ unseres Schulvorstehers, des Reverend Dr. Bransby bildete. Em um recanto remoto e assustador havia um cubículo quadrado, de oito ou três pés de diâmetro, que era sempre durante o horário de aula o 'santuário' de nosso diretor, o Reverendo Dr. Bransby se formou. Der Verschlag war durch eine mächtige Türe wohlverwahrt, und wir wären lieber unter Martern gestorben, als dass wir gewagt hätten, in Abwesenheit des Dominus die Türe zu öffnen. O armário era bem guardado por uma poderosa porta, e preferíamos morrer em tortura a ousar abrir a porta na ausência do Dominus. In anderen Winkeln standen zwei ähnliche Kästen, vor denen wir zwar weniger Ehrfurcht, aber immerhin Furcht hatten. Em outros cantos havia duas caixas semelhantes, das quais estávamos menos admirados, mas ainda assim com medo. Einer derselben war das Katheder des Lehrers für klassische Sprachen, der andere das für den Lehrer des Englischen, der gleichzeitig Mathematiklehrer war. Uma delas era a do professor de línguas clássicas, a outra a do professor de inglês, que também era professor de matemática. Verstreut im Saal, kreuz und quer in wüster Unregelmäßigkeit, standen zahlreiche Bänke und Pulte, schwarz, alt und abgenutzt, mit Stapeln abgegriffener Bücher bedeckt und so mit Initialen, ganzen Namen, komischen Figuren und anderen künstlerischen Schnitzversuchen bedeckt, dass sie ganz ihre ursprüngliche Form, die sie in längst vergangenen Tagen besessen haben mussten, eingebüßt hatten. Espalhados pelo corredor, entrecruzando-se em uma irregularidade selvagem, havia numerosos bancos e escrivaninhas, pretos, velhos e gastos, cobertos com pilhas de livros gastos e cobertos com iniciais, nomes completos, figuras cômicas e outras tentativas artísticas de esculpir que eles mantiveram sua forma original que eles devem ter possuído em dias passados e perdidos. Am einen Ende des Saales stand ein riesiger Eimer mit Wasser, am anderen eine Uhr von verblüffenden Dimensionen. Em uma extremidade do corredor havia um enorme balde de água, na outra um relógio de dimensões surpreendentes.

Eingeschlossen von den gewaltigen Mauern dieser ehrwürdigen Anstalt, verbrachte ich das dritte Lustrum meines Lebens – doch weder in Langeweile noch Unbehagen. Cercado pelas poderosas paredes desta venerável instituição, passei o terceiro lustro de minha vida - mas nem no tédio nem na inquietação. Die überschäumende Gestaltungskraft des kindlichen Geistes verlangt keine Welt der Ereignisse, um Beschäftigungen oder Unterhaltung zu finden, und die anscheinend düstere Einförmigkeit der Schule brachte mir stärkere Erregungen, als meine reifere Jugend aus dem Wohlleben oder meine volle Manneskraft aus dem Verbrechen schöpften. A exuberante criatividade da mente infantil não requer nenhum mundo de eventos para encontrar emprego ou diversão, e a monotonia aparentemente sombria da escola me excitou mais do que minha juventude madura derivada de uma boa vida, ou minha plena masculinidade do crime. Ich muss allerdings annehmen, dass meine geistige Entwicklung eine ungewöhnliche, ja fast krankhafte gewesen ist. No entanto, devo assumir que meu desenvolvimento mental foi incomum, quase patológico. Die meisten Menschen haben in reifen Jahren selten noch eine frische Erinnerung an die großen Ereignisse aus ihrer frühen Kindheit. A maioria das pessoas em seus anos maduros raramente tem memórias frescas dos grandes eventos de sua primeira infância. Alles ist schattenhaft grau – wird schwach und unklar empfunden – ein unbestimmtes Zusammensuchen matter Freuden und eingebildeter Leiden. Tudo é cinza sombrio - é sentido fraco e obscuro - uma vaga reunião de alegrias monótonas e tristezas imaginárias. Mit mir war es anders. Foi diferente comigo. Ich muss schon als Kind mit der Empfindungskraft eines Erwachsenen alles das erlebt haben, was noch jetzt mit klaren, tiefen und unverwischbaren Schriftzügen, wie die Inschriften auf den karthagischen Münzen, in meinem Gedächtnis eingegraben steht. Ainda criança devo ter experimentado com a sensibilidade de um adulto tudo o que ainda está gravado em minha memória com uma escrita clara, profunda e indelével, como as inscrições nas moedas cartaginesas.

Und doch, wie wenig – wenig vom Standpunkt der Menge aus – gab es, was der Erinnerung wert gewesen wäre! E, no entanto, quão pouco - pouco do ponto de vista da multidão - havia para ser lembrado! Das morgendliche Erwachen, der abendliche Befehl zum Schlafengehen, der Unterricht; die jeweiligen schulfreien Nachmittage mit ihren Streifzügen; der Spielplatz mit seiner Kurzweil, seinem Streit, seinen kleinen Intrigen; – all dieses, was meinem Geist wie durch einen Zauber lange Zeit ganz entrückt gewesen, war dazu angetan, eine Fülle von Empfindungen, eine Welt reichen Geschehens, eine Unendlichkeit vielfältiger Eindrücke und Leidenschaften zu erwecken. O despertar matinal, o comando noturno para ir para a cama, a aula; as tardes sem escola com suas incursões; o playground com suas diversões, suas brigas, suas pequenas intrigas; - tudo isso, há muito afastado de meu espírito como que por mágica, destinava-se a despertar uma riqueza de sensações, um mundo rico em acontecimentos, uma infinidade de impressões e paixões diversas. ›O le bon temps, que ce siècle de fer!‹ 'O le bon temps, que ce siècle de fer!' ›O le bon temps, que ce siècle de fer!‹

Es ist Tatsache: mein feuriges, begeistertes, überlegenes Wesen zeichnete mich vor meinen Schulkameraden aus und hob mich nach und nach über alle empor, die nicht etwa bedeutend älter waren als ich selbst – über alle, mit einer Ausnahme! É um fato: minha natureza ardente, entusiasta e superior me separou de meus colegas de escola e gradualmente me elevou acima de todos os que não eram significativamente mais velhos do que eu - todos menos um! Diese Ausnahme war ein Schüler, der, obwohl er kein Verwandter von mir war, doch den gleichen Vor- und Zunahmen trug wie ich – ein an sich unbedeutender Umstand. A exceção foi um aluno que, embora não fosse meu parente, usava os mesmos prefixos e aumentos que eu - uma circunstância insignificante em si. Denn ungeachtet meiner edlen Abkunft trug ich einen Namen, der in unvordenklichen Zeiten durch das Recht der Verjährung jedermann freigegeben worden sein mochte. Pois, apesar de minha nobre linhagem, eu carregava um nome que em tempos imemoriais poderia ter sido disponibilizado a todos pela lei do estatuto de limitações. Ich habe mich also hier in meiner Erzählung William Wilson genannt – ein Name, der von dem wirklichen Namen nicht allzusehr abweicht. Então eu me chamei de William Wilson aqui na minha história - um nome que não difere muito do nome real. Von allen Kameraden nun, die bei unsern Spielen meine »Bande« bildeten, wagte es mein Namensvetter allein, sowohl im Unterricht als auch in Sport und Spiel mit mir zu wetteifern, meinen Behauptungen keinen Glauben zu schenken, sich meinem Willen nicht unterzuordnen – kurz, sich in allem gegen meine ehrgeizige Oberherrschaft aufzulehnen. Agora, de todos os camaradas que formaram minha "gangue" em nossos jogos, apenas meu homônimo ousou competir comigo tanto nas aulas quanto nos esportes e jogos, não acreditar em minhas afirmações, não se submeter à minha vontade - em suma, rebelar-se em tudo contra minha suserania ambiciosa. Wenn es aber auf Erden einen überlegenen und unbeschränkten Despotismus gibt, so ist es der, den der Herrschergeist eines Knaben auf seine weniger willensstarken Gefährten ausübt. Mas se existe um despotismo superior e ilimitado na terra, é aquele que o espírito governante de um menino exerce sobre seus companheiros menos obstinados.