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Der Mann im Nebel, Gustav Falke, 14 - 3. Buch, Kapitel 3 - 8

14 - 3. Buch, Kapitel 3 - 8

3.

Randers fühlte sich geborgen. Vorläufig, vielleicht, dass es mit der Zeit ihm auch hier nicht mehr einsam genug wäre. Nun, dann war ja Norwegen da, die Schären und Fjords. Und immer so weiter, bis in die letzte grosse Einsamkeit. Auf diesem Rückzug war er ja doch.

Das mit Fides hatte ihm doch den Rest gegeben. Er bereute es nicht, er würde es zum zweitenmal wieder so machen. Und das gerade war es, was ihn so aus dem Geleise wart. Seine eigenste Natur hatte ihm diesen Streich gespielt. Er hatte das Glück in Händen gehabt und hatte es von sich geworfen, weil es ihm in diesem Augenblick kein Glück mehr war.

Seine Natur war auf das Unmögliche gestellt. Er trug sich mit Idealen, die verwirklicht, ihn unglücklich machen müssten. Weil er halb war, grossmäulich im Wollen, kleinmütig im Ausführen.

Ach ja, seine schönen Theorieen!

Dass alles Halbe ausgerottet werden müsste, dass die Halben mit Gewalt expediert werden müssten, wenn sie sich nicht selbst aus der Welt bringen wollten. Das war auch so eine von seinen Theorieen, aber eine, die sich verwirklichen liess. Und da würde er seinen Mann stellen. Ja, es war geradezu das Ziel, worauf er jetzt lossteuerte. Und da er ganz sicher wusste, dass er einmal dort anlangte, warum sollte er sich beeilen? Warum nicht in aller Ruhe und Gleichmütigkeit diesen Todesgang gehen?

Das war ja gerade das Köstliche, gab ja gerade dem Leben diesen seltenen, schaurigen Reiz: dieses Tanzen über dem Grabe, dieses letzte Geniessen, mit dem Bewusstsein, es ist das letzte; mit jedem Tropfen, den du schlürfst, kommst du dem Nichts näher.

Aber ausleben, nicht absterben!

Randers war den Rantumern schon von früher bekannt. Er war oft auf Sylt gewesen. Auf der ganzen Insel, von Hörnum bis List hinauf, kannte man den "langen Doktor". Die Leute freuten sich seiner Anhänglichkeit an ihre Insel und freuten sich, dass er jetzt ganz bei ihnen bleiben wollte. Freilich lachten sie auch über ihn. Er war doch noch immer der alte verrückte Kerl. Und Randers lachte mit. Er wusste, die Leute waren im Grunde einem gesunden "Sparren" nicht gram, wussten ihn zu schätzen. Und dass er anders war als andere, das machte ihm ja selbst den grössten Spass, das war ja sein Stolz. Er war ja überall der Andere gewesen. Überall "deplaciert". Hier war jeder der Andere, der Eigene, Sonderliche. Jeder ein Original. Aus der Natur herausgewachsen, ohne Drill und Schliff. Das waren die Leute, die ihm gefielen. Er fuhr mit ihnen aufs Meer, lernte wieder das Segel handhaben. Er freute sich kindisch, als er den ersten Seehund geschossen hatte. Auch eine Möwe holte er herunter, nur um den Leuten zu zeigen, dass er's konnte. Nachher tat er's nie wieder. Er liebte die Möwen.

Auch von den Seehundjagden kam er oft ohne Beute zurück. Dann waren ihm die guten dummen Tiere leid gewesen, und er hatte nur darüber weggeknallt und sich an ihrem Erstaunen belustigt.

Er sah braun aus, wie der älteste Rantumer, schon nach drei Wochen; war er doch stündlich draussen, im feuchten Salzwind, das Sturmband unterm Kinn. Bald hier, bald da tauchte seine weisse Mütze wie eine aufgescheuchte Möwe aus den Dünen auf. Von Hörnum bis List hatte er alte Bekanntschaft erneuert und "begossen." Und der Salzwind liess keine "Gespenster" aufkommen, wehte sie weg, schneller als den Nebel, der plötzlich aus Watt und See aufstieg und alles in einen geheimnisvollen Schleier hüllte. 4.

So war es Winter geworden und war wieder Frühling geworden. Das einsame Fremdenzimmer hatte nie wieder Blumen gesehen. Hatten die Stürme, die über die Insel gebraust, die "Eulennester in seinem Schädel", wie Randers sagte, weggeblasen? Hatte der tägliche Verkehr mit den gesunden Insulanern, denen er sich in der langen Winteröde immer mehr angeschlossen hatte, wohltuend auf ihn gewirkt? Oder war es Moiken, die flachsblonde Kellnerin beim Rantumer Wirt und Strandvogt Brork Hansen, die ihn vernünftig gemacht hatte?

Abend für Abend hatte er während des langen Winters in der Rantumer Wirtsstube gesessen und sich gut und schlecht von Moiken behandeln lassen, wie ihr gerade der Sinn stand. Er machte ihr den Hof, machte ihr kleine Geschenke, gab reichlich Trinkgeld, und sie liess sich, wenn sie allein waren, dafür mal von ihm küssen. Weiter ging's nicht. Er hatte seinen Spass daran, und ihr brachte es etwas ein.

Um die Weihnachtszeit war er wieder melancholisch geworden, wie immer, wenn andere Leute den Christbaum anzünden. Und er hatte sich ein Bäumchen verschafft, hatte es mit ein paar Lichtern geschmückt und ins Fremdenzimmer gestellt. Das sollte ihm nun Abend für Abend bis in die Neujahrsnacht leuchten.

Moiken war gekommen und hatte seinen Baum bewundert. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt, ihm zwischen die Kerzen hindurch in die Augen geblitzt. Aber er hatte sie plötzlich weggejagt, sie versäume gewiss was in der Wirtschaft.

"Durchaus nicht." "Ja, doch! Geh." Und er schob sie fast zur Tür hinaus.

Nein, das wäre doch. Unterm Tannenbaum!

Er strich das Bett glatt, wo sie gesessen hatte, löschte die Lichter und ging in sein Zimmer hinunter.

Nachts träumte er von Moiken.

5.

Randers hatte sich seit Monaten nicht nach Briefen umgesehen. Die Weihnachtsstimmung weckte ihm das Bedürfnis danach. Er war etwas enttäuscht, beim Leuchtturmwärter nur zwei Briefe vorzufinden, beide von Gerdsen. Aber wer sollte ihm auch schreiben. Er hatte sich ja von allen zurückgezogen, er wollte es ja so.

6.

Gerdsen an Randers.

Sie sind also doch auf und davon, lieber Freund. Hätten Sie doch noch drei Tage gewartet. Ich kam früher zurück, als ich dachte. Schade! Nun folg ich einstweilen Ihren Anweisungen, adressiere diesen Brief nach List und warte neugierig, was Sie mir aus Ihrer Einsamkeit melden werden. Wenn Sie Ihr Blockhaus unter Dach haben, versäumen Sie nicht, mir rechtzeitig Bescheid zu geben, damit ich an der Richtfeier mit einem stillen Trunk teilnehmen kann. Die Seltenheit des Falles dürfte Sekt rechtfertigen.

Ihr Gerdsen.

Gerdsen an Randers.

Acht Wochen haben Sie mich ohne Nachricht gelassen. Ich bin unruhig. Wo stecken Sie? An oder in der See? Unter den Trümmern Ihres Blockhauses? Als zappelnder Fisch in den Netzen einer blonden Keitumerin? Ich hoffe, Sie leben noch und arbeiten auf irgend eine Weise an unserm Roman. Es wäre mir doch sehr lieb, wenn ich an dem Faden ihrer Erlebnisse mich weitertasten könnte und nicht mit dem Schluss ganz auf meine Phantasie angewiesen wäre. Als "Fachmann" müsste mir nun freilich schon klar sein, wie das Gebäude zu krönen ist. Aus dem, was ich habe, müsste ich schon als guter Psychologe, wenn auch unbewusster, wie es der Dichter meistens ist, die Konsequenzen ziehen können. Ja, ich müsste jetzt Ihnen Ihre künftigen Wege zeigen können. Aber ich will's Ihnen allein überlassen und aus der Rolle des getreuen, nachtappenden Chronisten nicht heraustreten. Die Wirklichkeit straft ja so oft alle Berechnung und Psychologie Lügen. Also leben Sie fleissig à la Randers und führen Ihr Tagebuch für mich weiter.

Neugierig bin ich, welche Friesenmaid die weiblichen Figuren des Romans vermehren wird. Mich würd's schon freuen, wenn Ihre Liebe nun zur Abwechselung einmal aus den aristokratischen Kalbsledernen in die friesischen Holzpantoffeln führe. Adieu! Melden Sie mir wenigstens den Empfang dieses Briefes, wenn Sie sonst auch keinen Stoff zu einem Brief haben. Habe ich in vier Wochen keine Antwort, rechne ich Sie zu den Verschollenen und beende den Roman ohne Sie und verheirate Sie zur Strafe zuletzt mit einer ältlichen Gouvernante, die Sie jeden Sonntag in die Kirche führt. Also!

Ihr Gerdsen.

7.

Randers an Gerdsen.

Dank für Ihre beiden Briefe. Mein Blockhaus ist fertig, ich auch: mit der Welt. Hier ist's gut. Keine Weiber. Nur Moiken, die Kellnerin oder "Stütze" im Rantumer Krug, die ich "poussiere". Aber das ist des Zeitvertreibs wegen und um dem Mädel einen Spass zu machen. Genügt Ihnen das für den letzten Teil des Romans, meinetwegen! Lassen Sie Ihren "Helden" irgendwo verbauern, sich um eine Dorfdirne die Knochen zerschlagen, oder—es ist mir wirklich so gleichgültig geworden. Täten Sie mir nicht leid um Ihrer undankbaren Arbeit willen, ich würde Sie bitten, das ganze Manuskript in den Ofen zu stecken. Aber so weit wie es jetzt gediehen ist, hab ich kein Recht mehr daran. Sie haben freie Hand. Und damit viel Glück! Möcht's Ihnen Ruhm und Geld eintragen. Vor einem Vierteljahr bekommen Sie keinen Brief wieder. Trotzdem immer

Ihr getreuer

Randers.

8.

(Tagebuchblätter.)

Dass Beethoven das Meer nicht kennen gelernt hat. Sein Atem ist wie der des Ozeans. Dieser grosszügige Wellengang seiner Melodie. Der hätte uns eine Ozeansymphonie schenken müssen.

Dass alle unsere Grössten dem Meer so fremd waren! Goethe, Schiller, Beethoven.

Byron, der kannte das Meer!

Und Böcklin kennt es!

* * * * *

Wie organisch die Phantasiegebilde Böcklins sind, sehe ich an Thoma, diesem lieben, stillen, deutschen Meister. Dem gelingen seine Bockfüsser nicht immer, Menschen mit Ziegenbeinen. Aber ein Böcklinscher Faun, der ist echt.

* * * * *

Ich sehe die Natur böcklinisch, d.h. in vielen guten Augenblicken. Das macht, Böcklin ist so wahr wie die Natur selbst, er hat sie erfasst, hat sie in ihren Muttertiefen belauscht. Die Natur ist böcklinisch. Nie erinnert sie mich an Klinger, so gross der ist, so sehr ich ihn verehre. Aber Böcklin liebe ich. Und es ist nicht nur das Meer, die Nähe des Meeres. Neulich auf der Dorfstrasse, die dunklen Lindenwipfeln gegen den Abendhimmel—Farbe, Stimmung, Musik: alles Böcklin. Oder die kleinen schwarzen Steine, die aus den Watten herausgucken, wenn die Flut leise heranspült, eine Möwe ruhte sich auf dem grössten Stein: Klinger zeichnet so was auch, ganz köstlich. Aber die Natur erinnert mich nie an ihn. Das macht, er ist viel zu sehr Klinger.

Böcklin: Monolog! Klinger: Dialog!

Bei dem einen redet nur die Natur, dem Zauberstab des grossen Künstlers gehorsam. Beim andern wird eine Unterhaltung draus, ein Zwiegespräch. Der Künstler hat geistreiche Antworten, Einwände, auch mal einen Witz. Er ist nicht—rein. Wohlverstanden!

* * * * *

Welcher Blödsinn: Moderne Kunst! Echte Kunst steht über allen Zeiten, ist immer und nie modern.

* * * * *

Nordsee.

Ein frischer Nordnordwest mit wilden Rufen, Er packt das Meer und zerrt es an den Mähnen. Da schirrt es sich; da stampft's von tausend Hufen, Viel tausend Rosse blecken mit den Zähnen; und lauter klatscht von seinen Wolkenstufen Der Gott hernieder seine Peitschensträhnen; Drauf seh, als Sporn und Stacheln Eile schufen, Den Griesbart greinend ich hintüberlehnen. * * * * *

Non est.

In dieser grenzenlosen Einsamkeit Blüht neu in mir ein reineres Gefühl, Und aus dem Zwang der innern Qual befreit, Lausch ich der Wellen plätscherndem Gespühl; Und vor mir fliegt ein weisses Mädchenkleid, Es drängt der Locken wirrendes Gewühl, Und wie das Sternenlicht im Schaum versprüht, Seh ich ein Augenpaar, das mir erglüht.

* * * * *

Ob Gerdsen sich noch mit dem Roman quält? Mir ist diese ganze Idee mit dem Roman schon albern geworden. Er soll sich nicht weiter bemühen, oder es deichseln, wie er will. Wenn er seinen Helden (sic!) mit der Komtesse Bruckner kopuliert, werden es ihm die Leserinnen danken und der Verleger auch.

* * * * *

Moiken.

Aber nein!

Moiken hat so was dummes, so was—sachliches. Ein Stück Mensch. Isst, trinkt, schläft und ist da. Sag ich komm! kommt sie, geh! so geht sie. Daran könnte sich eigentlich der Mann genügen lassen. Aber da hapert's. Der "Nichts als Mann", ja! Aber wenn man sich Blockhäuser baut, Blumen in ein leeres Zimmer stellt und Verse macht—ist man da eigentlich noch Mann?

* * * * *

Ein Kork, der den tiefen Drang in sich spürt, sich zu ersäufen! Ich kann mich selbst manchmal nur ironisch nehmen. Diese verdammte Neigung über sich selbst zu grübeln. Nicht Neigung, sondern Zwang, Verhängnis!

* * * * *

Des Leuchtturmwärters Frau mit ihrem Heimweh. Sie verbittert ihm die Einsamkeit, die ihm Lebensbedürfnis ist. Er war früher Musiker bei der Matrosenkapelle. Ein Sonderling, verrückt! Natürlich! Ich aber verstehe ihn. Die Frau versteh ich freilich auch. Er wird ihr eines Tags nachgeben und seinen Posten quittieren, wieder unter die Leute gehen. Es ist immer die Frau, die den Mann sich nicht ausleben lässt, so oder so. Sie tut mir übrigens leid.

* * * * *

Die Musik, vor allem die nordische, kann einen so weit bringen, Leuchtturmwächter zu werden. Musik, diese Allerweltssprache, die jeder versteht; sie sollte also verbinden, ausgleichen. Mich aber isoliert sie. Ein Beethovensches Adagio isoliert mich, führt mich ganz auf mich selbst zurück. Ich möchte nach jeder Musik, die mich völlig ergriffen hat, in die Einsamkeit.

* * * * *

Das Schauspiel der intelligenten, geistvollen Schriftsteller, die gerne Dichter sein wollen. Aber das ist ihnen versagt. So ein reines einfaches Gemüt, das an intellektuellem Besitz nicht den zehnten Teil in die Wagschale zu werfen hat, findet Töne, die einen den ganzen Geistreichtum der andren vergessen lassen, als etwas von dieser Welt. Jene Töne aber stammen aus einer Welt, für deren Seligkeiten alle Päpste und Könige dieser Welt ihre Kronen und Throne geben würden.

* * * * *

Dichter und Propheten, ihnen ist der Himmel offen.

* * * * *

Schaffenslust und Schaffensqualen. Ja, aber so aus dem Vollen schaffen können, diese göttliche Freude, diese fröhliche Göttlichkeit, wiegt das nicht alle Qualen auf? Aber dagegen die Qualen der Halben, die nur ein versprengter Tropfen des heiligen Öls traf. Wollen, wollen und nicht können. Glühen, aber es wollen keine Flammen werden.

* * * * *

Das denk ich mir die grösste Vaterfreude: einen Sohn haben, in dem das, was in einem glühte, Flamme ward. In dem hellen leuchtenden Tag seine Nächte und Träume wiedererkennen, seine gebärenden, schmerzlichen Nächte.

* * * * *

Wenn ich von Fides träume, ist es immer dieselbe Situation. Wir gehen zusammen durch ein reifes Kornfeld. Der Himmel glüht in einem sanften Abendrot. Wir sprechen nicht, gehen nur stumm nebeneinander, bis sie allmählich wie ein Schatten vor mir entschwebt, nach der Seite hin wegrückt. Wie die Entfernung wächst, ihre Gestalt undeutlicher wird, wächst eine seltsame Angst in mir; ich will ihr zurufen, aber die Stimme versagt. Schon drei- oder viermal hatte ich diesen Traum. Nur einmal vermischte sie sich mit Moikens Bild, und ich trank ihre Küsse von Moikens Lippen.


14 - 3. Buch, Kapitel 3 - 8 14 - Book 3, Chapters 3 - 8

3.

Randers fühlte sich geborgen. Vorläufig, vielleicht, dass es mit der Zeit ihm auch hier nicht mehr einsam genug wäre. Nun, dann war ja Norwegen da, die Schären und Fjords. Und immer so weiter, bis in die letzte grosse Einsamkeit. Auf diesem Rückzug war er ja doch.

Das mit Fides hatte ihm doch den Rest gegeben. Er bereute es nicht, er würde es zum zweitenmal wieder so machen. Und das gerade war es, was ihn so aus dem Geleise wart. Seine eigenste Natur hatte ihm diesen Streich gespielt. Er hatte das Glück in Händen gehabt und hatte es von sich geworfen, weil es ihm in diesem Augenblick kein Glück mehr war.

Seine Natur war auf das Unmögliche gestellt. Er trug sich mit Idealen, die verwirklicht, ihn unglücklich machen müssten. Weil er halb war, grossmäulich im Wollen, kleinmütig im Ausführen.

Ach ja, seine schönen Theorieen!

Dass alles Halbe ausgerottet werden müsste, dass die Halben mit Gewalt expediert werden müssten, wenn sie sich nicht selbst aus der Welt bringen wollten. Das war auch so eine von seinen Theorieen, aber eine, die sich verwirklichen liess. Und da würde er seinen Mann stellen. Ja, es war geradezu das Ziel, worauf er jetzt lossteuerte. Und da er ganz sicher wusste, dass er einmal dort anlangte, warum sollte er sich beeilen? Warum nicht in aller Ruhe und Gleichmütigkeit diesen Todesgang gehen?

Das war ja gerade das Köstliche, gab ja gerade dem Leben diesen seltenen, schaurigen Reiz: dieses Tanzen über dem Grabe, dieses letzte Geniessen, mit dem Bewusstsein, es ist das letzte; mit jedem Tropfen, den du schlürfst, kommst du dem Nichts näher.

Aber ausleben, nicht absterben!

Randers war den Rantumern schon von früher bekannt. Er war oft auf Sylt gewesen. Auf der ganzen Insel, von Hörnum bis List hinauf, kannte man den "langen Doktor". Die Leute freuten sich seiner Anhänglichkeit an ihre Insel und freuten sich, dass er jetzt ganz bei ihnen bleiben wollte. Freilich lachten sie auch über ihn. Er war doch noch immer der alte verrückte Kerl. Und Randers lachte mit. Er wusste, die Leute waren im Grunde einem gesunden "Sparren" nicht gram, wussten ihn zu schätzen. Und dass er anders war als andere, das machte ihm ja selbst den grössten Spass, das war ja sein Stolz. Er war ja überall der Andere gewesen. Überall "deplaciert". Hier war jeder der Andere, der Eigene, Sonderliche. Jeder ein Original. Aus der Natur herausgewachsen, ohne Drill und Schliff. Das waren die Leute, die ihm gefielen. Er fuhr mit ihnen aufs Meer, lernte wieder das Segel handhaben. Er freute sich kindisch, als er den ersten Seehund geschossen hatte. Auch eine Möwe holte er herunter, nur um den Leuten zu zeigen, dass er's konnte. Nachher tat er's nie wieder. Er liebte die Möwen.

Auch von den Seehundjagden kam er oft ohne Beute zurück. Dann waren ihm die guten dummen Tiere leid gewesen, und er hatte nur darüber weggeknallt und sich an ihrem Erstaunen belustigt.

Er sah braun aus, wie der älteste Rantumer, schon nach drei Wochen; war er doch stündlich draussen, im feuchten Salzwind, das Sturmband unterm Kinn. Bald hier, bald da tauchte seine weisse Mütze wie eine aufgescheuchte Möwe aus den Dünen auf. Von Hörnum bis List hatte er alte Bekanntschaft erneuert und "begossen." Und der Salzwind liess keine "Gespenster" aufkommen, wehte sie weg, schneller als den Nebel, der plötzlich aus Watt und See aufstieg und alles in einen geheimnisvollen Schleier hüllte. 4.

So war es Winter geworden und war wieder Frühling geworden. Das einsame Fremdenzimmer hatte nie wieder Blumen gesehen. Hatten die Stürme, die über die Insel gebraust, die "Eulennester in seinem Schädel", wie Randers sagte, weggeblasen? Hatte der tägliche Verkehr mit den gesunden Insulanern, denen er sich in der langen Winteröde immer mehr angeschlossen hatte, wohltuend auf ihn gewirkt? Oder war es Moiken, die flachsblonde Kellnerin beim Rantumer Wirt und Strandvogt Brork Hansen, die ihn vernünftig gemacht hatte?

Abend für Abend hatte er während des langen Winters in der Rantumer Wirtsstube gesessen und sich gut und schlecht von Moiken behandeln lassen, wie ihr gerade der Sinn stand. Er machte ihr den Hof, machte ihr kleine Geschenke, gab reichlich Trinkgeld, und sie liess sich, wenn sie allein waren, dafür mal von ihm küssen. Weiter ging's nicht. Er hatte seinen Spass daran, und ihr brachte es etwas ein.

Um die Weihnachtszeit war er wieder melancholisch geworden, wie immer, wenn andere Leute den Christbaum anzünden. Und er hatte sich ein Bäumchen verschafft, hatte es mit ein paar Lichtern geschmückt und ins Fremdenzimmer gestellt. Das sollte ihm nun Abend für Abend bis in die Neujahrsnacht leuchten.

Moiken war gekommen und hatte seinen Baum bewundert. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt, ihm zwischen die Kerzen hindurch in die Augen geblitzt. Aber er hatte sie plötzlich weggejagt, sie versäume gewiss was in der Wirtschaft.

"Durchaus nicht." "Ja, doch! Geh." Und er schob sie fast zur Tür hinaus.

Nein, das wäre doch. Unterm Tannenbaum!

Er strich das Bett glatt, wo sie gesessen hatte, löschte die Lichter und ging in sein Zimmer hinunter.

Nachts träumte er von Moiken.

5.

Randers hatte sich seit Monaten nicht nach Briefen umgesehen. Die Weihnachtsstimmung weckte ihm das Bedürfnis danach. Er war etwas enttäuscht, beim Leuchtturmwärter nur zwei Briefe vorzufinden, beide von Gerdsen. Aber wer sollte ihm auch schreiben. Er hatte sich ja von allen zurückgezogen, er wollte es ja so.

6.

Gerdsen an Randers.

Sie sind also doch auf und davon, lieber Freund. Hätten Sie doch noch drei Tage gewartet. Ich kam früher zurück, als ich dachte. Schade! Nun folg ich einstweilen Ihren Anweisungen, adressiere diesen Brief nach List und warte neugierig, was Sie mir aus Ihrer Einsamkeit melden werden. Wenn Sie Ihr Blockhaus unter Dach haben, versäumen Sie nicht, mir rechtzeitig Bescheid zu geben, damit ich an der Richtfeier mit einem stillen Trunk teilnehmen kann. Die Seltenheit des Falles dürfte Sekt rechtfertigen.

Ihr Gerdsen.

Gerdsen an Randers.

Acht Wochen haben Sie mich ohne Nachricht gelassen. Ich bin unruhig. Wo stecken Sie? An oder in der See? Unter den Trümmern Ihres Blockhauses? Als zappelnder Fisch in den Netzen einer blonden Keitumerin? Ich hoffe, Sie leben noch und arbeiten auf irgend eine Weise an unserm Roman. Es wäre mir doch sehr lieb, wenn ich an dem Faden ihrer Erlebnisse mich weitertasten könnte und nicht mit dem Schluss ganz auf meine Phantasie angewiesen wäre. Als "Fachmann" müsste mir nun freilich schon klar sein, wie das Gebäude zu krönen ist. Aus dem, was ich habe, müsste ich schon als guter Psychologe, wenn auch unbewusster, wie es der Dichter meistens ist, die Konsequenzen ziehen können. Ja, ich müsste jetzt Ihnen Ihre künftigen Wege zeigen können. Aber ich will's Ihnen allein überlassen und aus der Rolle des getreuen, nachtappenden Chronisten nicht heraustreten. Die Wirklichkeit straft ja so oft alle Berechnung und Psychologie Lügen. Also leben Sie fleissig à la Randers und führen Ihr Tagebuch für mich weiter.

Neugierig bin ich, welche Friesenmaid die weiblichen Figuren des Romans vermehren wird. Mich würd's schon freuen, wenn Ihre Liebe nun zur Abwechselung einmal aus den aristokratischen Kalbsledernen in die friesischen Holzpantoffeln führe. Adieu! Melden Sie mir wenigstens den Empfang dieses Briefes, wenn Sie sonst auch keinen Stoff zu einem Brief haben. Habe ich in vier Wochen keine Antwort, rechne ich Sie zu den Verschollenen und beende den Roman ohne Sie und verheirate Sie zur Strafe zuletzt mit einer ältlichen Gouvernante, die Sie jeden Sonntag in die Kirche führt. Also!

Ihr Gerdsen.

7.

Randers an Gerdsen.

Dank für Ihre beiden Briefe. Mein Blockhaus ist fertig, ich auch: mit der Welt. Hier ist's gut. Keine Weiber. Nur Moiken, die Kellnerin oder "Stütze" im Rantumer Krug, die ich "poussiere". Aber das ist des Zeitvertreibs wegen und um dem Mädel einen Spass zu machen. Genügt Ihnen das für den letzten Teil des Romans, meinetwegen! Lassen Sie Ihren "Helden" irgendwo verbauern, sich um eine Dorfdirne die Knochen zerschlagen, oder—es ist mir wirklich so gleichgültig geworden. Täten Sie mir nicht leid um Ihrer undankbaren Arbeit willen, ich würde Sie bitten, das ganze Manuskript in den Ofen zu stecken. Aber so weit wie es jetzt gediehen ist, hab ich kein Recht mehr daran. Sie haben freie Hand. Und damit viel Glück! Möcht's Ihnen Ruhm und Geld eintragen. Vor einem Vierteljahr bekommen Sie keinen Brief wieder. Trotzdem immer

Ihr getreuer

Randers.

8.

(Tagebuchblätter.)

Dass Beethoven das Meer nicht kennen gelernt hat. Sein Atem ist wie der des Ozeans. Dieser grosszügige Wellengang seiner Melodie. Der hätte uns eine Ozeansymphonie schenken müssen.

Dass alle unsere Grössten dem Meer so fremd waren! Goethe, Schiller, Beethoven.

Byron, der kannte das Meer!

Und Böcklin kennt es!

* * * * *

Wie organisch die Phantasiegebilde Böcklins sind, sehe ich an Thoma, diesem lieben, stillen, deutschen Meister. Dem gelingen seine Bockfüsser nicht immer, Menschen mit Ziegenbeinen. Aber ein Böcklinscher Faun, der ist echt.

* * * * *

Ich sehe die Natur böcklinisch, d.h. in vielen guten Augenblicken. Das macht, Böcklin ist so wahr wie die Natur selbst, er hat sie erfasst, hat sie in ihren Muttertiefen belauscht. Die Natur ist böcklinisch. Nie erinnert sie mich an Klinger, so gross der ist, so sehr ich ihn verehre. Aber Böcklin liebe ich. Und es ist nicht nur das Meer, die Nähe des Meeres. Neulich auf der Dorfstrasse, die dunklen Lindenwipfeln gegen den Abendhimmel—Farbe, Stimmung, Musik: alles Böcklin. Oder die kleinen schwarzen Steine, die aus den Watten herausgucken, wenn die Flut leise heranspült, eine Möwe ruhte sich auf dem grössten Stein: Klinger zeichnet so was auch, ganz köstlich. Aber die Natur erinnert mich nie an ihn. Das macht, er ist viel zu sehr Klinger.

Böcklin: Monolog! Klinger: Dialog!

Bei dem einen redet nur die Natur, dem Zauberstab des grossen Künstlers gehorsam. Beim andern wird eine Unterhaltung draus, ein Zwiegespräch. Der Künstler hat geistreiche Antworten, Einwände, auch mal einen Witz. Er ist nicht—rein. Wohlverstanden!

* * * * *

Welcher Blödsinn: Moderne Kunst! Echte Kunst steht über allen Zeiten, ist immer und nie modern.

* * * * *

Nordsee.

Ein frischer Nordnordwest mit wilden Rufen,   Er packt das Meer und zerrt es an den Mähnen. Da schirrt es sich; da stampft's von tausend Hufen,   Viel tausend Rosse blecken mit den Zähnen;   und lauter klatscht von seinen Wolkenstufen   Der Gott hernieder seine Peitschensträhnen;   Drauf seh, als Sporn und Stacheln Eile schufen,   Den Griesbart greinend ich hintüberlehnen. * * * * *

Non est.

In dieser grenzenlosen Einsamkeit   Blüht neu in mir ein reineres Gefühl,   Und aus dem Zwang der innern Qual befreit,   Lausch ich der Wellen plätscherndem Gespühl;   Und vor mir fliegt ein weisses Mädchenkleid,   Es drängt der Locken wirrendes Gewühl,   Und wie das Sternenlicht im Schaum versprüht,   Seh ich ein Augenpaar, das mir erglüht.

* * * * *

Ob Gerdsen sich noch mit dem Roman quält? Mir ist diese ganze Idee mit dem Roman schon albern geworden. Er soll sich nicht weiter bemühen, oder es deichseln, wie er will. Wenn er seinen Helden (sic!) mit der Komtesse Bruckner kopuliert, werden es ihm die Leserinnen danken und der Verleger auch.

* * * * *

Moiken.

Aber nein!

Moiken hat so was dummes, so was—sachliches. Ein Stück Mensch. Isst, trinkt, schläft und ist da. Sag ich komm! kommt sie, geh! so geht sie. Daran könnte sich eigentlich der Mann genügen lassen. Aber da hapert's. Der "Nichts als Mann", ja! Aber wenn man sich Blockhäuser baut, Blumen in ein leeres Zimmer stellt und Verse macht—ist man da eigentlich noch Mann?

* * * * *

Ein Kork, der den tiefen Drang in sich spürt, sich zu ersäufen! Ich kann mich selbst manchmal nur ironisch nehmen. Diese verdammte Neigung über sich selbst zu grübeln. Nicht Neigung, sondern Zwang, Verhängnis!

* * * * *

Des Leuchtturmwärters Frau mit ihrem Heimweh. Sie verbittert ihm die Einsamkeit, die ihm Lebensbedürfnis ist. Er war früher Musiker bei der Matrosenkapelle. Ein Sonderling, verrückt! Natürlich! Ich aber verstehe ihn. Die Frau versteh ich freilich auch. Er wird ihr eines Tags nachgeben und seinen Posten quittieren, wieder unter die Leute gehen. Es ist immer die Frau, die den Mann sich nicht ausleben lässt, so oder so. Sie tut mir übrigens leid.

* * * * *

Die Musik, vor allem die nordische, kann einen so weit bringen, Leuchtturmwächter zu werden. Musik, diese Allerweltssprache, die jeder versteht; sie sollte also verbinden, ausgleichen. Mich aber isoliert sie. Ein Beethovensches Adagio isoliert mich, führt mich ganz auf mich selbst zurück. Ich möchte nach jeder Musik, die mich völlig ergriffen hat, in die Einsamkeit.

* * * * *

Das Schauspiel der intelligenten, geistvollen Schriftsteller, die gerne Dichter sein wollen. Aber das ist ihnen versagt. So ein reines einfaches Gemüt, das an intellektuellem Besitz nicht den zehnten Teil in die Wagschale zu werfen hat, findet Töne, die einen den ganzen Geistreichtum der andren vergessen lassen, als etwas von dieser Welt. Jene Töne aber stammen aus einer Welt, für deren Seligkeiten alle Päpste und Könige dieser Welt ihre Kronen und Throne geben würden.

* * * * *

Dichter und Propheten, ihnen ist der Himmel offen.

* * * * *

Schaffenslust und Schaffensqualen. Ja, aber so aus dem Vollen schaffen können, diese göttliche Freude, diese fröhliche Göttlichkeit, wiegt das nicht alle Qualen auf? Aber dagegen die Qualen der Halben, die nur ein versprengter Tropfen des heiligen Öls traf. Wollen, wollen und nicht können. Glühen, aber es wollen keine Flammen werden.

* * * * *

Das denk ich mir die grösste Vaterfreude: einen Sohn haben, in dem das, was in einem glühte, Flamme ward. In dem hellen leuchtenden Tag seine Nächte und Träume wiedererkennen, seine gebärenden, schmerzlichen Nächte.

* * * * *

Wenn ich von Fides träume, ist es immer dieselbe Situation. Wir gehen zusammen durch ein reifes Kornfeld. Der Himmel glüht in einem sanften Abendrot. Wir sprechen nicht, gehen nur stumm nebeneinander, bis sie allmählich wie ein Schatten vor mir entschwebt, nach der Seite hin wegrückt. Wie die Entfernung wächst, ihre Gestalt undeutlicher wird, wächst eine seltsame Angst in mir; ich will ihr zurufen, aber die Stimme versagt. Schon drei- oder viermal hatte ich diesen Traum. Nur einmal vermischte sie sich mit Moikens Bild, und ich trank ihre Küsse von Moikens Lippen.