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Der Mann im Nebel, Gustav Falke, 03 - 1. Buch, Kapitel 6 - 7

03 - 1. Buch, Kapitel 6 - 7

6.

Randers lag im Schatten, die Arme unter dem Genick verschränkt, und starrte in die Sonne hinaus. Und da waren gleich wieder die roten Flocken, tanzten vor seinen Augen. Das rote Röckchen von Schullehrers Christine.

Sie hatte gestern hier Himbeeren geholt. Ob sie heute wieder pflücken würde? Und er sah sie vor sich, in ihrem roten, etwas kurzen Kleid, aus dem die Fünfzehnjährige herausgewachsen war, mit ihren zwei schweren, schwarzen Zöpfen, und der adretten, etwas kecken Haltung, frisch, kernig, gesund.

Sie war ihm gleich aufgefallen, und er mochte das hübsche Ding leiden. Das Kind! Und er hatte es sie unverhohlen merken lassen, indem er sie mit etwas onkelhafter Güte behandelte.

Aber neulich, vor drei Tagen, als sie in später Abendstunde neben ihm vor der Haustür stand, ein Gewitter hatte sie länger wach gehalten, da hatte sie so eigen mit ihren grossen schwarzbraunen Augen zu ihm aufgesehn und auf seine Reden immer nur verschämte wortkarge Gegenrede gewusst.

Auch jetzt sah er diese grossen, dunklen Kinderaugen mit diesem wunderlichen halb scheuen halb fragenden Ausdruck so aus dem Leeren auf sich gerichtet. Dann schoss das andere so zusammen, und zuletzt hätte er sie zeichnen können, so deutlich sah er sie vor sich: das rote Röckchen mit dem verschämten Flicken unten am Saum, die etwas grossen Füsse in den Holzpantoffeln, die grauen, groben Strümpfe um die vollen festen Waden.

Als er so an sie dachte, kam sie, kam wie gerufen. Er erstaunte nicht mal darüber. Nur ein flüchtiges Lächeln, ein leises vergnügtes Schmunzeln ging über sein Gesicht, und den Kopf ein wenig erhoben, um besser sehen zu können, nickte er wie zur Bestätigung eines unausgesprochenen Gedankens.

Sie war ohne Hut, ganz wie sie im Hause, in der Wirtschaft ging, aber in Stiefeln, statt in Pantoffeln. Sie trug einen grossen, braunen Henkelkrug, aus dem sie naschte. Sie mochte schon unterwegs Beeren gepflückt haben, sie standen überall reichlich, freilich nirgend so wie hier.

Sie sah ihn nicht und fing gleich an zu pflücken.

Ob er sie anrief? Es machte ihm Spass, sie so heimlich zu beobachten. Alle Augenblicke warf sie eine der vollen Flechten über die Schulter zurück. Immer, wenn sie sich tiefer bückte, fiel wieder eine nach vorne. Zuletzt liess sie sie hängen, wie sie wollten.

Er lag ganz still und freute sich des Augenblicks, wo sie ihn gewahr würde und einen Schrecken bekäme. Aber seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Kleine suchte gründlich Busch für Busch ab und entfernte sich dabei immer mehr von ihm. Zuletzt hielt er's nicht mehr aus und klatschte laut in die Hände. Erschrocken fuhr sie mit dem Kopf herum, sah nach allen Seiten, mit grossen neugierigen Augen, aber durchaus nicht ängstlich. Sie war augenscheinlich das einsame Umherstreifen gewohnt und kannte keine Furcht.

Wenn nun ein andrer hier läge?

Sie war doch schon in dem Alter.

Und dann gingen ihm flüchtig allerlei Gedanken an Mord und Verbrechen durch den Kopf und die Geschichte mit dem jungen Mumm.

Er klatschte noch einmal, richtete sich halb auf und lachte ihr hell ins Gesicht.

"Nein, aber Gott doch, was haben Sie mich erschreckt," rief sie, lachte aber vergnügt über den Spass und kam gleich zu ihm hin. "Sehen Sie mal, so viele." Sie hielt ihm mit kindlicher Freude den schon halbgefüllten Topf hin. Er fuhr mit der Hand hinein, so dass sie mit einem kleinen Aufschrei das Gefäss zurückzog.

"Die gehn ja alle kaputt," schalt sie. Dann liess sie sich ungeniert vor ihm aufs Knie nieder und hielt ihm den Topf bequem, leicht schüttelnd, dass ihm die losen Beeren in die geöffneten Hände rollten.

"Noch'n paar," drängte sie, aber er wollte nicht mehr. "Nun setz dich erst mal'n bisschen hierher," sagte er. Sie war gerade aufgestanden und sah ihn etwas verschämt an. Aber sie lachte dabei, und ihre Augen verrieten, dass sie wohl Lust hätte. Er rückte ein wenig beiseite, und diese stumme Aufforderung genügte. Sie setzte sich zu ihm in schrittweiter Entfernung, fing auch frischweg an zu plaudern, kindlich ungeniert: wie heiss es heute wäre, und ob er schon lange hier läge, und ob er über den Fuchsberg gekommen wäre oder am Lohteich längs.

Als sie den Fuchsberg nannte, wollte er fragen, wo der sei, er hatte ihn neulich vergeblich gesucht. Aber die Erwähnung des Lohteichs brachte ihn wieder davon ab und auf den alten Mumm.

"Sag mal," fragte er, "was ist das eigentlich mit dem Mumm für eine Mordgeschichte?" "Nicht wahr, wie schrecklich?" sagte sie.

"Der hat seine Braut ermordet, was?" "Ja, die eine." "Die eine?" fragte er.

Er musste lachen.

"Hat er denn mehr gehabt?" Sie wurde ganz rot, halb aus Verlegenheit, weil sie aus seinem Lachen entnahm, dass sie wohl eine Dummheit gesagt hatte, halb aus Scham, der Sache wegen.

"Ist das hier passiert, in diesem Holz?" fragte er.

"Etwas weiter längs." Sie zeigte mit der Hand nach links:

"Im Schreiberholz; wissen Sie?" Er wusste.

"Ob sie ihm nun wohl was tun?" meinte sie.

"Wenn er es getan hat." "Möchten Sie das wohl sehen?" "Möchtest du das?" Sie besann sich einen Augenblick, während ihre Augen sich vergrösserten.

"Gitt e gitt," rief sie affektiert und wandte sich wie vor etwas Entsetzlichem ab. Aber ihre Augen straften sie Lügen. Er merkte es wohl. Aber das "Gitt e gitt" kam so komisch heraus, dass er lachen musste. Sie lachte ganz lustig mit, aus Lust am Lachen. Das war ihm gerade recht. Was sprach er auch mit ihr von Mord und Hinrichtung. War das eine Unterhaltung für sie?

Er wälzte sich mit einer Schwenkung näher und lag jetzt auf dem Bauche, die Ellenbogen aufgestützt und, die Hände gefaltet.

Sie hatte einen Himbeerfleck auf der Schürze, und er machte sie darauf aufmerksam.

Sie verzog den Mund etwas.

"Das macht nichts." "Und genascht hast du auch," fuhr er fort. "Da sieht man's." Er zeigte mit dem Finger nach einem Fruchtfleck auf ihrer linken Backe. Sie bog sich zurück und schlug nach seiner Hand.

"Wo?" fragte sie und machte einen vergeblichen Schielversuch nach dem Fleck. Er tupfte nochmal mit dem Finger nach ihrem Gesicht, und da sie es nicht dulden wollte, fing er ihre Hände ein, hielt sie mit einer Hand umklammert, richtete sich halb auf und berührte etwas unsanft mit dem Zeigefinger die Stelle auf ihrer runden, weichen Wange.

Sie kreischte auf und rang mit ihm.

"Du Racker." Er hatte wirklich Mühe sie zu halten. Er lag auf den Knieen vor ihr. Auf einmal riss er sie fest an sich und küsste sie.

Sie schrie auf und schnellte zurück, als er sie los liess. Sie war mehr erschrocken als gekränkt, und sah mit einem etwas dümmlichen Lachen auf ihre Schürze.

Ihre Schulmädchenhaftigkeit machte ihn vor sich selbst lächerlich. Wie kam er dazu, dieses Kind zu küssen. Er fühlte das Bedürfnis, sich vor sich selbst zu entschuldigen.

"Siehst du, das ist die Strafe," sagte er aufstehend. "Wofür?" fragte sie patzig.

"Für das Naschen." "Ach Sie!" Sie machte eine eigensinnige Schulterbewegung und rieb mit dem Schürzenzipfel, den sie unbedenklich mit der Zunge befeuchtete, den Fruchtflecken auf ihrer Backe.

"Na, adieu Kind," sagte er und reichte ihr die Hand. "Nun pflück auch fleissig." "Wollen Sie schon gehen?" Er sah in ihren Blicken, dass sie gerne gesehen hätte, wenn er noch bei ihr bliebe. Aber er nickte ihr freundlich zu und ging.

Verdutzt sah sie ihm nach. Enttäuschung malte sich auf dem hübschen Kindergesicht, Unmut und Übellaunigkeit. Und die Spitze des rechten Daumens zwischen die festen weissen Zähne geklemmt, stand sie noch eine ganze Weile fast regungslos und sah mit grossen Augen in die Richtung, wo er verschwand.

7.

Mutter Petersen stand vor der Haustür und trieb Randers mit Händeklatschen zur Eile an. Er hatte sich verspätet, sie warteten schon auf ihn, die Suppe stand auf dem Tisch.

Während des Tischgebetes, das jeder leise vor sich hinsprach, sah er in seinen Teller. Er hatte schon lange kein Tischgebet mehr gesprochen. Es war ihm schon im Elternhause, wo es die Reihe herumging, zu einer leeren Form geworden.

"Liebster Jesu! sei unser Gast Und segne, was du bescheret hast Amen!" Gesegnete Mahlzeit! Auch so eine Redensart.

Später war es ihm geradezu gegen den Geschmack. Es war ihm würdelos, unanständig, der unpassendste Augenblick, Gottes Wort oder nur seinen Namen in den Mund zu nehmen, wenn in diesem Mund schon das Wasser zusammenlief nach dem Braten, und der dampfende Kohl die Nase kitzelte.

Aber anfangs hatte es ihn doch angeheimelt, das erste Mal und einige Tage lang, als sie hier alle die Köpfe senkten und andachtsvoll auf die gefalteten Hände in den Schoss sahen, bevor sie mit dem Löffel in die Suppe fuhren. Das war so patriarchalisch, schlicht und einfältig. Er tauchte in diese einfältige Frömmigkeit mit unter, es kam ein Gefühl des Geborgenseins und des Vertrauens über ihn, wie im Elternhaus, und er empfand einen grossen Respekt vor diesen einfachen Leuten. Aber zuletzt war es ihm doch wieder komisch vorgekommen, dieses beinahe marionettenhafte stumme Beten.

Er hatte verstohlen beobachtet. Der Schullehrer machte es einfach, still, fast demütig. Es lag eine gewisse Würde in seinem Tun. Aber Mutter Petersen machte es mit einer gewissen Ostentation, ruckweise, mit strammen, kurzen Bewegungen, gleichsam taktmässig, im Paradeschritt vor ihrem Herrn und Heiland. War sie fertig, griff sie sofort munter zum Löffel, während ihr Eheherr auch darin eine gemessene Würde bewahrte, langsam, zögernd nach dem Löffel langte, als schäme er sich, Profanes und Heiliges so unvermittelt an einander zu koppeln.

Christine machte es nach Kinderart, gründlich, als sagte sie alle Gebete her, die sie wusste. Aber ihre Augen gingen dabei verstohlen von einem zum andern, und nie hörte sie vor den Eltern zu beten auf.

Heute sass sie verlegen vor ihrem Teller.

Randers wusste warum.

"Es war sehr jungshaft von dir," dachte er. "Wie konntest du dieses Gänschen da küssen." Er schämte sich.

Nach Tisch lag er wieder auf der Bank unter den Buchen. Da lag er lange, erst im Halbschlaf, die Stimmen der Schulkinder hörend und das Geklapper ihrer Holzpantoffeln. Der Lehrer klatschte in die Hände, das Signal, womit er den Anfang der Schulstunde verkündete und die Säumigen von der Landstrasse und dem Spielplatz hinter dem Schulhause in die Klasse rief. Randers versuchte etwas zu lesen, fiel aber wieder in den dumpfen Zustand zwischen Wachen und Träumen zurück, bis er sich gewaltsam aufraffte und die Müdigkeit abschüttelte.

Er steckte sich eine Cigarre an und begann in sein Notizbuch zu kritzeln, Verse, die er den ganzen Morgen mit sich herumgetragen:

Umzwitschert rings von muntern Vogelscharen, Steht mir vor Augen einer Laube Blühen, Und vor dem Tische unter goldnen Haaren Seh flutentief ein Auge ich erglühen. Was trieb es mich, mit Glück und Stern zu sparen Und mich zu weihen törichtem Bemühen? Nun schüre ich in Aschen, die vor Jahren Geglüht, und seh sie in die Winde sprühen.

Er hatte wieder die Sicilianenwut. Eine ganze Reihe von diesen Dingern hatte er in der letzten Woche hingekritzelt, mit Blei, in kaum lesbarer Schrift. Es stand alles bunt durcheinander! Einfälle über Kunst und Literatur, Schuldenberechnungen, Wäschenotizen, und allerlei gleichgültige Aufzeichnungen für den Tag. Manchmal war ein kräftiges Urteil quer darüber geschrieben, wie: Unsinn! Blödsinn! Gewäsch!

Randers hatte eigentlich Notizen für Gerd Gerdsen machen wollen an diesem Nachmittag. Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit. Aber er wollte es nun lieber bis morgen lassen. Es träumte sich so nett hier.

Vom SchülhauseSchulhauselangen abgerissene Töne eines Kirchenliedes, helle Kinderstimmen, und ab und an der harte, heisere Bass des Lehrers.


03 - 1. Buch, Kapitel 6 - 7 03 - 1st book, chapter 6 - 7

6.

Randers lag im Schatten, die Arme unter dem Genick verschränkt, und starrte in die Sonne hinaus. Und da waren gleich wieder die roten Flocken, tanzten vor seinen Augen. Das rote Röckchen von Schullehrers Christine.

Sie hatte gestern hier Himbeeren geholt. Ob sie heute wieder pflücken würde? Und er sah sie vor sich, in ihrem roten, etwas kurzen Kleid, aus dem die Fünfzehnjährige herausgewachsen war, mit ihren zwei schweren, schwarzen Zöpfen, und der adretten, etwas kecken Haltung, frisch, kernig, gesund.

Sie war ihm gleich aufgefallen, und er mochte das hübsche Ding leiden. Das Kind! Und er hatte es sie unverhohlen merken lassen, indem er sie mit etwas onkelhafter Güte behandelte.

Aber neulich, vor drei Tagen, als sie in später Abendstunde neben ihm vor der Haustür stand, ein Gewitter hatte sie länger wach gehalten, da hatte sie so eigen mit ihren grossen schwarzbraunen Augen zu ihm aufgesehn und auf seine Reden immer nur verschämte wortkarge Gegenrede gewusst.

Auch jetzt sah er diese grossen, dunklen Kinderaugen mit diesem wunderlichen halb scheuen halb fragenden Ausdruck so aus dem Leeren auf sich gerichtet. Dann schoss das andere so zusammen, und zuletzt hätte er sie zeichnen können, so deutlich sah er sie vor sich: das rote Röckchen mit dem verschämten Flicken unten am Saum, die etwas grossen Füsse in den Holzpantoffeln, die grauen, groben Strümpfe um die vollen festen Waden.

Als er so an sie dachte, kam sie, kam wie gerufen. Er erstaunte nicht mal darüber. Nur ein flüchtiges Lächeln, ein leises vergnügtes Schmunzeln ging über sein Gesicht, und den Kopf ein wenig erhoben, um besser sehen zu können, nickte er wie zur Bestätigung eines unausgesprochenen Gedankens.

Sie war ohne Hut, ganz wie sie im Hause, in der Wirtschaft ging, aber in Stiefeln, statt in Pantoffeln. Sie trug einen grossen, braunen Henkelkrug, aus dem sie naschte. Sie mochte schon unterwegs Beeren gepflückt haben, sie standen überall reichlich, freilich nirgend so wie hier.

Sie sah ihn nicht und fing gleich an zu pflücken.

Ob er sie anrief? Es machte ihm Spass, sie so heimlich zu beobachten. Alle Augenblicke warf sie eine der vollen Flechten über die Schulter zurück. Immer, wenn sie sich tiefer bückte, fiel wieder eine nach vorne. Zuletzt liess sie sie hängen, wie sie wollten.

Er lag ganz still und freute sich des Augenblicks, wo sie ihn gewahr würde und einen Schrecken bekäme. Aber seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Kleine suchte gründlich Busch für Busch ab und entfernte sich dabei immer mehr von ihm. Zuletzt hielt er's nicht mehr aus und klatschte laut in die Hände. Erschrocken fuhr sie mit dem Kopf herum, sah nach allen Seiten, mit grossen neugierigen Augen, aber durchaus nicht ängstlich. Sie war augenscheinlich das einsame Umherstreifen gewohnt und kannte keine Furcht.

Wenn nun ein andrer hier läge?

Sie war doch schon in dem Alter.

Und dann gingen ihm flüchtig allerlei Gedanken an Mord und Verbrechen durch den Kopf und die Geschichte mit dem jungen Mumm.

Er klatschte noch einmal, richtete sich halb auf und lachte ihr hell ins Gesicht.

"Nein, aber Gott doch, was haben Sie mich erschreckt," rief sie, lachte aber vergnügt über den Spass und kam gleich zu ihm hin. "Sehen Sie mal, so viele." Sie hielt ihm mit kindlicher Freude den schon halbgefüllten Topf hin. Er fuhr mit der Hand hinein, so dass sie mit einem kleinen Aufschrei das Gefäss zurückzog.

"Die gehn ja alle kaputt," schalt sie. Dann liess sie sich ungeniert vor ihm aufs Knie nieder und hielt ihm den Topf bequem, leicht schüttelnd, dass ihm die losen Beeren in die geöffneten Hände rollten.

"Noch'n paar," drängte sie, aber er wollte nicht mehr. "Nun setz dich erst mal'n bisschen hierher," sagte er. Sie war gerade aufgestanden und sah ihn etwas verschämt an. Aber sie lachte dabei, und ihre Augen verrieten, dass sie wohl Lust hätte. Er rückte ein wenig beiseite, und diese stumme Aufforderung genügte. Sie setzte sich zu ihm in schrittweiter Entfernung, fing auch frischweg an zu plaudern, kindlich ungeniert: wie heiss es heute wäre, und ob er schon lange hier läge, und ob er über den Fuchsberg gekommen wäre oder am Lohteich längs.

Als sie den Fuchsberg nannte, wollte er fragen, wo der sei, er hatte ihn neulich vergeblich gesucht. Aber die Erwähnung des Lohteichs brachte ihn wieder davon ab und auf den alten Mumm.

"Sag mal," fragte er, "was ist das eigentlich mit dem Mumm für eine Mordgeschichte?" "Nicht wahr, wie schrecklich?" sagte sie.

"Der hat seine Braut ermordet, was?" "Ja, die eine." "Die eine?" fragte er.

Er musste lachen.

"Hat er denn mehr gehabt?" Sie wurde ganz rot, halb aus Verlegenheit, weil sie aus seinem Lachen entnahm, dass sie wohl eine Dummheit gesagt hatte, halb aus Scham, der Sache wegen.

"Ist das hier passiert, in diesem Holz?" fragte er.

"Etwas weiter längs." Sie zeigte mit der Hand nach links:

"Im Schreiberholz; wissen Sie?" Er wusste.

"Ob sie ihm nun wohl was tun?" meinte sie.

"Wenn er es getan hat." "Möchten Sie das wohl sehen?" "Möchtest du das?" Sie besann sich einen Augenblick, während ihre Augen sich vergrösserten.

"Gitt e gitt," rief sie affektiert und wandte sich wie vor etwas Entsetzlichem ab. Aber ihre Augen straften sie Lügen. Er merkte es wohl. Aber das "Gitt e gitt" kam so komisch heraus, dass er lachen musste. Sie lachte ganz lustig mit, aus Lust am Lachen. Das war ihm gerade recht. Was sprach er auch mit ihr von Mord und Hinrichtung. War das eine Unterhaltung für sie?

Er wälzte sich mit einer Schwenkung näher und lag jetzt auf dem Bauche, die Ellenbogen aufgestützt und, die Hände gefaltet.

Sie hatte einen Himbeerfleck auf der Schürze, und er machte sie darauf aufmerksam.

Sie verzog den Mund etwas.

"Das macht nichts." "Und genascht hast du auch," fuhr er fort. "Da sieht man's." Er zeigte mit dem Finger nach einem Fruchtfleck auf ihrer linken Backe. Sie bog sich zurück und schlug nach seiner Hand.

"Wo?" fragte sie und machte einen vergeblichen Schielversuch nach dem Fleck. Er tupfte nochmal mit dem Finger nach ihrem Gesicht, und da sie es nicht dulden wollte, fing er ihre Hände ein, hielt sie mit einer Hand umklammert, richtete sich halb auf und berührte etwas unsanft mit dem Zeigefinger die Stelle auf ihrer runden, weichen Wange.

Sie kreischte auf und rang mit ihm.

"Du Racker." Er hatte wirklich Mühe sie zu halten. Er lag auf den Knieen vor ihr. Auf einmal riss er sie fest an sich und küsste sie.

Sie schrie auf und schnellte zurück, als er sie los liess. Sie war mehr erschrocken als gekränkt, und sah mit einem etwas dümmlichen Lachen auf ihre Schürze.

Ihre Schulmädchenhaftigkeit machte ihn vor sich selbst lächerlich. Wie kam er dazu, dieses Kind zu küssen. Er fühlte das Bedürfnis, sich vor sich selbst zu entschuldigen.

"Siehst du, das ist die Strafe," sagte er aufstehend. "Wofür?" fragte sie patzig.

"Für das Naschen." "Ach Sie!" Sie machte eine eigensinnige Schulterbewegung und rieb mit dem Schürzenzipfel, den sie unbedenklich mit der Zunge befeuchtete, den Fruchtflecken auf ihrer Backe.

"Na, adieu Kind," sagte er und reichte ihr die Hand. "Nun pflück auch fleissig." "Wollen Sie schon gehen?" Er sah in ihren Blicken, dass sie gerne gesehen hätte, wenn er noch bei ihr bliebe. Aber er nickte ihr freundlich zu und ging.

Verdutzt sah sie ihm nach. Enttäuschung malte sich auf dem hübschen Kindergesicht, Unmut und Übellaunigkeit. Und die Spitze des rechten Daumens zwischen die festen weissen Zähne geklemmt, stand sie noch eine ganze Weile fast regungslos und sah mit grossen Augen in die Richtung, wo er verschwand.

7.

Mutter Petersen stand vor der Haustür und trieb Randers mit Händeklatschen zur Eile an. Er hatte sich verspätet, sie warteten schon auf ihn, die Suppe stand auf dem Tisch.

Während des Tischgebetes, das jeder leise vor sich hinsprach, sah er in seinen Teller. Er hatte schon lange kein Tischgebet mehr gesprochen. Es war ihm schon im Elternhause, wo es die Reihe herumging, zu einer leeren Form geworden.

"Liebster Jesu! sei unser Gast   Und segne, was du bescheret hast              Amen!" Gesegnete Mahlzeit! Auch so eine Redensart.

Später war es ihm geradezu gegen den Geschmack. Es war ihm würdelos, unanständig, der unpassendste Augenblick, Gottes Wort oder nur seinen Namen in den Mund zu nehmen, wenn in diesem Mund schon das Wasser zusammenlief nach dem Braten, und der dampfende Kohl die Nase kitzelte.

Aber anfangs hatte es ihn doch angeheimelt, das erste Mal und einige Tage lang, als sie hier alle die Köpfe senkten und andachtsvoll auf die gefalteten Hände in den Schoss sahen, bevor sie mit dem Löffel in die Suppe fuhren. Das war so patriarchalisch, schlicht und einfältig. Er tauchte in diese einfältige Frömmigkeit mit unter, es kam ein Gefühl des Geborgenseins und des Vertrauens über ihn, wie im Elternhaus, und er empfand einen grossen Respekt vor diesen einfachen Leuten. Aber zuletzt war es ihm doch wieder komisch vorgekommen, dieses beinahe marionettenhafte stumme Beten.

Er hatte verstohlen beobachtet. Der Schullehrer machte es einfach, still, fast demütig. Es lag eine gewisse Würde in seinem Tun. Aber Mutter Petersen machte es mit einer gewissen Ostentation, ruckweise, mit strammen, kurzen Bewegungen, gleichsam taktmässig, im Paradeschritt vor ihrem Herrn und Heiland. War sie fertig, griff sie sofort munter zum Löffel, während ihr Eheherr auch darin eine gemessene Würde bewahrte, langsam, zögernd nach dem Löffel langte, als schäme er sich, Profanes und Heiliges so unvermittelt an einander zu koppeln.

Christine machte es nach Kinderart, gründlich, als sagte sie alle Gebete her, die sie wusste. Aber ihre Augen gingen dabei verstohlen von einem zum andern, und nie hörte sie vor den Eltern zu beten auf.

Heute sass sie verlegen vor ihrem Teller.

Randers wusste warum.

"Es war sehr jungshaft von dir," dachte er. "Wie konntest du dieses Gänschen da küssen." Er schämte sich.

Nach Tisch lag er wieder auf der Bank unter den Buchen. Da lag er lange, erst im Halbschlaf, die Stimmen der Schulkinder hörend und das Geklapper ihrer Holzpantoffeln. Der Lehrer klatschte in die Hände, das Signal, womit er den Anfang der Schulstunde verkündete und die Säumigen von der Landstrasse und dem Spielplatz hinter dem Schulhause in die Klasse rief. Randers versuchte etwas zu lesen, fiel aber wieder in den dumpfen Zustand zwischen Wachen und Träumen zurück, bis er sich gewaltsam aufraffte und die Müdigkeit abschüttelte.

Er steckte sich eine Cigarre an und begann in sein Notizbuch zu kritzeln, Verse, die er den ganzen Morgen mit sich herumgetragen:

Umzwitschert rings von muntern Vogelscharen,   Steht mir vor Augen einer Laube Blühen,   Und vor dem Tische unter goldnen Haaren   Seh flutentief ein Auge ich erglühen. Was trieb es mich, mit Glück und Stern zu sparen   Und mich zu weihen törichtem Bemühen? Nun schüre ich in Aschen, die vor Jahren   Geglüht, und seh sie in die Winde sprühen.

Er hatte wieder die Sicilianenwut. Eine ganze Reihe von diesen Dingern hatte er in der letzten Woche hingekritzelt, mit Blei, in kaum lesbarer Schrift. Es stand alles bunt durcheinander! Einfälle über Kunst und Literatur, Schuldenberechnungen, Wäschenotizen, und allerlei gleichgültige Aufzeichnungen für den Tag. Manchmal war ein kräftiges Urteil quer darüber geschrieben, wie: Unsinn! Blödsinn! Gewäsch!

Randers hatte eigentlich Notizen für Gerd Gerdsen machen wollen an diesem Nachmittag. Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit. Aber er wollte es nun lieber bis morgen lassen. Es träumte sich so nett hier.

Vom SchülhauseSchulhauselangen abgerissene Töne eines Kirchenliedes, helle Kinderstimmen, und ab und an der harte, heisere Bass des Lehrers.