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Geschichte-1, Die erste Wohlstandsgesellschaft (1)

Die erste Wohlstandsgesellschaft (1)

Sollte es nicht trotzdem möglich sein, einige allgemeine Aussagen darüber zu treffen, wie das Leben vor der Erfindung der Landwirtschaft ausgesehen haben könnte? Jedenfalls scheint festzustehen, dass die allermeisten Menschen in kleinen Gruppen von einigen Dutzend bis wenigen Hundert Personen lebten, und dass diesen Gruppen ausschließlich Menschen angehörten. Letzteres mag offensichtlich klingen, doch das ist es keineswegs. Die meisten Angehörigen von Agrar- und Industriegesellschaften sind nämlich Haustiere. Sie haben zwar nicht dieselben Rechte, doch sie gehören zweifelsfrei zu diesen Gesellschaften. Die Bevölkerung von Neuseeland besteht beispielsweise aus 4,5 Millionen Sapiens und 50 Millionen Schafen. Von dieser Regel gibt es allerdings eine Ausnahme: Hunde. Der Hund war das erste Tier, das der Homo sapiens bei sich aufnahm, und zwar lange vor der landwirtschaftlichen Revolution. Experten sind sich nicht ganz einig, wann genau das passiert sein könnte, doch die ersten sicheren Hinweise auf die Existenz von Haushunden sind etwa 15000 Jahre alt. Es ist gut denkbar, dass sich die Hunde dem menschlichen Rudel schon einige Jahrtausende oder Jahrzehntausende früher anschlossen. Hunde wurden zur Jagd und im Kampf eingesetzt, sie warnten vor wilden Tieren und menschlichen Eindringlingen. Zwischen Hund und Mensch entstand ein Band des Verständnisses und der Zuneigung, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Manchmal wurden Hunde ähnlich rituell bestattet wie Menschen. Im Laufe von vielen Generationen entwickelten sich Hunde und Menschen gemeinsam und lernten, miteinander zu kommunizieren. Diejenigen Hunde, die sich am besten auf die Bedürfnisse und Gefühle ihrer menschlichen Begleiter einstellten, erhielten mehr Zuwendung und Futter und vermehrten sich besser. Gleichzeitig lernten Hunde, die Menschen so zu manipulieren, wie es ihren Bedürfnissen entsprach. Nach einem 15000 Jahre dauernden emotionalen Rüstungswettlauf hat der Mensch eine tiefere emotionale Beziehung zum Hund als zu irgendeinem anderen Tier entwickelt. Die Angehörigen einer Gruppe kannten einander bestens und waren ein Leben lang von Verwandten und Freunden umgeben. Einsamkeit und Privatsphäre waren weitgehend unbekannt. Benachbarte Gruppen konkurrierten vermutlich um Ressourcen und bekämpften einander, aber daneben hatten sie wahrscheinlich auch freundschaftliche Kontakte. Sie tauschten Angehörige aus, jagten gemeinsam, handelten mit seltenen Ressourcen, gingen Bündnisse ein und feierten religiöse Feste. Diese Zusammenarbeit war eines der wichtigsten Merkmale des Homo sapiens, und ihr verdankte er einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Menschenarten. Manchmal waren die Bande zwischen benachbarten Gruppierungen so eng, dass sie einen Stamm bildeten, dieselbe Sprache sprachen und gemeinsame Mythen, Normen und Werte hatten. Wir sollten die Bedeutung dieser Außenbeziehungen allerdings nicht überschätzen. Selbst wenn benachbarte Gruppierungen in schwierigen Zeiten ein loses Bündnis eingingen und gelegentlich gemeinsam jagten und feierten, verbrachten sie die meiste Zeit in völliger Abgeschiedenheit und Eigenständigkeit. Der Handel beschränkte sich auf Luxusgüter wie Muscheln, Bernstein oder Farbpigmente. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Menschen mit Nahrungsmitteln wie Obst oder Fleisch gehandelt haben könnten, oder dass einzelne Gruppen auf die Lieferungen von anderen angewiesen waren. Auch soziale und politische Beziehungen waren eher rar. Der Stamm war keine dauerhafte politische Einrichtung, und selbst wenn er sich zu bestimmten Jahreszeiten an bestimmten Orten einfand, gab es keine festen Siedlungen oder dauerhaften Einrichtungen. Der Durchschnittswildbeuter traf oft Monate lang keinen Fremden und sah im Laufe seines Lebens nur wenige Hundert Gesichter. Die Menschen verteilten sich auf riesige Gebiete. Vor der landwirtschaftlichen Revolution hatte der gesamte Planet weniger menschliche Bewohner als die heutige Schweiz. Die meisten Menschen waren Nomaden und zogen auf der Nahrungssuche von einem Ort zum anderen. Ihre Wanderungen wurden durch den Wechsel der Jahreszeiten, die Migration von Tieren und den Wachstumszyklus der Pflanzen bestimmt. Auf ihren Wanderungen blieb eine Gruppe meist innerhalb eines festen Gebiets, das einige Dutzend bis einige Hundert Quadratkilometer groß sein konnte. Gelegentlich verließen die Gruppen jedoch ihr Territorium und erforschten unbekanntes Gebiet, zum Beispiel nach einer Naturkatastrophe, einem blutigen Konflikt oder einer demographischen Veränderung oder auf Initiative eines charismatischen Anführers. Diesen Wanderungen ist es zu verdanken, dass sich die Menschen allmählich über den gesamten Planeten ausbreiteten. Wenn sich eine Gruppe von Jägern und Sammlern alle vierzig Jahre aufspaltete und sich die Splittergruppe hundert Kilometer weiter östlich ein neues Territorium suchte, dann reichte das schon aus, um innerhalb von 10000 Jahren die Entfernung zwischen Ostafrika und China zurückzulegen. Wenn es irgendwo besonders viel Nahrung gab, dann ließen sich Gruppen ausnahmsweise dort nieder und blieben länger als eine Jahreszeit an einem Ort. Techniken zum Trocknen, Räuchern und (in der Arktis) Einfrieren von Nahrung ermöglichten es ihnen, sich für einen längeren Zeitraum niederzulassen. An Seen und Flüssen mit reichen Fischbeständen siedelten die Menschen auch dauerhaft. Lange vor der landwirtschaftlichen Revolution gründeten sie dort die ersten festen Dörfer der Geschichte. An den Küsten im indonesischen Archipel errichteten Fischer schon vor 45000 Jahren ihre Siedlungen. Diese könnten auch das Basislager gewesen sein, von dem aus der Homo sapiens zu seinen ersten Entdeckungsfahrten in See stach und schließlich Australien eroberte. In den meisten Lebensräumen war die Wirtschaft flexibel und opportunistisch. Die Menschen sammelten Termiten, pflückten Beeren, gruben nach Wurzeln, stellten Hasenfallen auf und jagten Büffel und Mammuts. Die Sammeltätigkeit war in der Regel wichtiger als die Jagd und deckte den größten Teil des Rohstoff- und Kalorienbedarfs. Beim Sammeln und Jagen verwendeten die Menschen Werkzeuge, zum Beispiel Speere, Fallen und Grabstöcke. Außerdem benutzten sie Kleidung: Die Eroberung der Arktis wurde nur durch die Erfindung von Thermobekleidung aus Leder und Fell möglich. Aber die Menschen sammelten nicht nur Nahrung und Rohstoffe, sondern auch Wissen.

Ohne eine detaillierte Kenntnis der Umgebung hätten sie nicht überlebt. Um ihre tägliche Nahrungssuche möglichst effizient zu gestalten, benötigten sie Informationen über das Wachstum aller Pflanzen und die Verhaltensmuster sämtlicher Tiere. Sie mussten den Wechsel der Jahreszeiten verstehen und Hinweise auf einen drohenden Sturm oder eine bevorstehende Trockenzeit erkennen. Jeder Angehörige der Gruppe musste ein Steinmesser herstellen, ein zerrissenes Kleidungsstück flicken, eine Hasenfalle aufstellen, einer Lawine entgehen und mit Schlangenbissen und hungrigen Löwen fertigwerden können. Es gab keinen Laden, in dem das Lebensnotwendige einkaufen und keinen Notruf, den sie im Ernstfall anrufen konnten. Um ihre Fähigkeiten zu erlernen, benötigten sie Jahre der Lehre und Übung. Jeder Jäger konnte innerhalb weniger Minuten aus einem Feuerstein eine Speerspitze fertigen. Wenn moderne Wissenschaftler es ihnen nachmachen wollen, scheitern sie in der Regel kläglich: Sie wissen nicht, wie welcher Basalt oder Feuerstein bricht und sie haben vor allem nicht die Feinmotorik, die nötig ist, um derart präzise zu arbeiten. Die Jäger und Sammler hatten also sehr viel gründlichere, umfassendere und vielfältigere Kenntnisse über ihre Umwelt als die meisten ihrer modernen Nachfahren. In unserer Industriegesellschaft braucht man zum Überleben nicht allzu viele Fähigkeiten. Was müssen wir denn schon mitbringen, um als Informatiker, Versicherungsvertreter, Geschichtslehrer oder Fließbandarbeiter überleben zu können? Natürlich erwerben wir eine Menge Spezialkenntnisse auf einem klar definierten Gebiet, doch bei der Befriedigung der allermeisten Bedürfnisse verlassen wir uns blind auf andere Experten, die sich genau wie wir auf ein winziges Fachgebiet spezialisiert haben. Als Kollektiv wissen wir heute natürlich viel mehr als diese Gruppen von Urmenschen. Aber für sich genommen waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte. Wir wissen heute, dass das durchschnittliche Sapiens-Gehirn seit Beginn der landwirtschaftlichen Revolution geschrumpft ist.12 Um als Jäger und Sammler zu überleben, mussten die Menschen über hervorragende geistige Fähigkeiten verfügen. Mit der Landwirtschaft und der Industrie konnten sich unsere Vorfahren zunehmend auf die Fähigkeiten der anderen verlassen, und es öffneten sich Nischen für weniger talentierte Menschen: Zur Not konnte man sich irgendwie als Wasserträger oder Hilfsarbeiter durchschlagen und so seine Gene an die nächste Generation weitergeben. Wildbeuter hatten nicht nur ein besseres Verständnis ihrer belebten und unbelebten Umwelt, sondern auch ihrer eigenen Innenwelt, ihres Körpers und ihrer Sinne. Sie hörten das leiseste Geräusch im Gras, weil es sich um eine Schlange handeln könnte. Mit scharfem Blick beobachteten sie das Laub von Bäumen, um Früchte, Bienenstöcke oder Vogelnester zu erspähen. Sie bewegten sich mit einem Minimum an Krafteinsatz und Lärm und verstanden es, geschickt und effizient zu sitzen, zu gehen und zu laufen. Durch den vielfältigen Einsatz ihres Körpers waren sie fit wie ein Marathonläufer. Sie hatten eine körperliche Flexibilität, wie wir sie heute nur erreichen, wenn wir jahrelang Yoga oder Tai-Chi praktizieren. Das Leben der Jäger und Sammler konnte sich je nach Region und Jahreszeit ganz erheblich unterscheiden, doch im Großen und Ganzen bekommt man den Eindruck, dass sie ein sehr viel angenehmeres Leben führten als die meisten Bauern, Schäfer, Landarbeiter und Büroangestellten, die ihnen folgten.

Während die Menschen in den heutigen Wohlstandsgesellschaften zwischen 40 und 45 Stunden pro Woche arbeiten, und in den Ländern der Dritten Welt sogar zwischen 60 und 80, kommen die Wildbeuter selbst in den unwirtlichsten Gegenden der Welt – zum Beispiel der Kalahari-Wüste – im Durchschnitt auf nur 35 bis 40 Arbeitsstunden pro Woche. Sie jagen höchstens jeden dritten Tag und die Sammeltätigkeit nimmt pro Tag lediglich drei bis sechs Stunden in Anspruch. In normalen Zeiten reicht das völlig aus, um die gesamte Gruppe zu ernähren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die steinzeitlichen Jäger und Sammler in fruchtbaren Regionen deutlich weniger Zeit benötigten, um Nahrung und Rohstoffe heranzuschaffen. Außerdem hatte sie deutlich weniger Hausarbeit: Sie mussten kein Geschirr spülen, keine Teppiche saugen, keine Böden schrubben, keine Windeln wechseln und keine Rechnungen zahlen. In der Wirtschaft der Wildbeuter gab es viel spannendere Berufe als in der Landwirtschaft oder der Industrie. Eine chinesische Fabrikarbeiterin geht morgens um sieben Uhr aus dem Haus, hastet durch die schmutzigen Straßen in einen öden Sweatshop, setzt sich an eine Maschine, verrichtet dort zehn Stunden lang den immergleichen Handgriff, kommt abends gegen sieben Uhr nach Hause und muss noch Geschirr spülen und die Wäsche waschen – tagein, tagaus, jeden Tag dasselbe. Vor 30000 Jahren hätte eine chinesische Wildbeuterin gegen acht Uhr morgens mit ihren Begleitern das Lager verlassen. Die Gruppe streifte durch die nahe gelegenen Wälder, sammelte Pilze, grub essbare Wurzeln aus, fing Frösche und lief vor Tigern davon. Am frühen Nachmittag waren sie wieder zurück im Lager, bereiteten eine Mahlzeit zu, unterhielten sich, spielten mit den Kindern und ruhten sich aus. Natürlich wurden sie hin und wieder von Tigern gefressen und von Schlangen gebissen, aber dafür blieben sie von Autounfällen und Smog verschont. Die Kost, die sie sammelten und jagten, war ideal. Was an sich kein Wunder ist, denn die Menschen hatten sich Jahrmillionen lang von nichts anderem ernährt und ihre Körper waren genau darauf eingestellt. Aus Fossilienfunden wissen wir, dass die Wildbeuter seltener unter Hunger und Mangelernährung litten und größer und gesünder waren als ihre bäuerlichen Nachfahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag zwar nur bei dreißig bis vierzig Jahren, doch das war vor allem der hohen Kindersterblichkeit geschuldet. Wer die gefährdeten ersten Lebensjahre überstand, hatte beste Chancen, sechzig, siebzig oder sogar achtzig Jahre alt zu werden. Unter heutigen Wildbeutern hat eine 45-jährige Frau gute Aussichten, weitere zwanzig Jahre lang zu leben, und rund 5 bis 8 Prozent der Bevölkerung sind über sechzig Jahre alt. Das Erfolgsgeheimnis der Jäger und Sammler, das sie vor Hungertod und Mangelernährung bewahrte, war ihre vielseitige Ernährung. Bauern leben in der Regel von einer sehr einseitigen Kost.

Vor allem in vormodernen Zeiten deckte die Landbevölkerung ihren Kalorienbedarf überwiegend mit einer einzigen Nutzpflanze, zum Beispiel Weizen, Kartoffeln oder Reis, die jeweils nur einen kleinen Teil der Vitamine, Mineralien und anderen Nährstoffe enthalten, die der menschliche Körper benötigt. Wildbeuter ernährten sich dagegen aus Dutzenden verschiedenen Quellen. Dank dieser Vielfalt erhielten sie eine ausgewogene Ernährung und waren weniger anfällig gegenüber Umwelteinflüssen. In einer landwirtschaftlichen Gesellschaft, die auf eine einzige Nutzpflanze angewiesen ist, konnten Dürren oder Überschwemmungen und der nachfolgende Ausfall der Weizen- oder Kartoffelernte leicht zu Hungersnöten führen, denen große Teile der Bevölkerung zum Opfer fielen. Die Jäger und Sammler waren zwar auch anfällig für die Widrigkeiten der Natur und kannten Zeiten des Mangels und des Hungers, doch in der Regel bewältigten sie diese erheblich besser. Wenn eines ihrer Grundnahrungsmittel ausfiel, konnten sie einfach eine andere Pflanze sammeln, ein anderes Tier jagen oder in eine weniger stark betroffene Gegend ausweichen. Die steinzeitlichen Wildbeuter litten außerdem weniger unter Infektionskrankheiten. Die meisten ansteckenden Krankheiten, mit denen sich landwirtschaftliche und industrialisierte Gesellschaften herumschlagen müssen (zum Beispiel Pocken, Masern oder Tuberkulose) stammen ursprünglich von Haustieren und wurden erst nach der landwirtschaftlichen Revolution auf den Menschen übertragen. Die Jäger und Sammler, die sich höchstens ein paar Hunde hielten, blieben von diesen Geißeln verschont. Dazu kam, dass die Menschen in Agrar- und Industriegesellschaften in beengten und schmutzigen Verhältnissen lebten – eine ideale Brutstätte für Krankheiten. Wildbeuter streiften dagegen in kleinen Gruppen umher, in denen sich keine Epidemien halten konnten. Wegen ihrer ausgewogenen und vielseitigen Kost, ihrer kurzen Arbeitszeiten und ihrer gesunden Lebensweise bezeichnen Historiker die Wildbeuter der Steinzeit gern als »die erste Wohlstandsgesellschaft«. Trotzdem sollten wir das Leben dieser Jäger und Sammler nicht durch eine rosarote Brille sehen. Sie lebten zwar besser als die meisten Menschen in Agrar- und Industriegesellschaften, doch ihre Welt konnte hart und erbarmungslos sein. Zeiten der Entbehrung waren nicht selten, die Kindersterblichkeit war hoch, und ein Unfall, etwa ein Sturz von einem Baum, konnte einem Todesurteil gleichkommen. Die meisten Menschen genossen vermutlich die Intimität der umherziehenden Gruppe, doch die Unglücklichen, die sich die Feindschaft oder den Spott der anderen zuzogen, hätten Sartre beigepflichtet, als er sagte, »die Hölle, das sind die anderen«. Auch heute lassen Jäger und Sammler ihre Alten und Kranken oft zurück oder töten sie, weil sie nicht mehr mit der Gruppe mithalten können. Unerwünschte Neugeborene und Kleinkinder werden getötet, und gelegentlich kommt es auch zu religiösen Menschenopfern. Die Aché, die bis in die 1960er Jahre als Jäger und Sammler durch die Urwälder von Paraguay streiften, vermitteln einen Eindruck von den Licht- und Schattenseiten des Lebens der Wildbeuter.

Wenn ein angesehenes Mitglied der Gruppe starb, töteten die Aché traditionell ein Mädchen und bestatteten die beiden zusammen. Anthropologen beschrieben einen Fall, in dem ein Mann mittleren Alters krank wurde und nicht mehr mit den anderen Schritt halten konnte. Die Gruppe ließ ihn unter einem Baum zurück. Über ihm kreisten schon die Geier in freudiger Erwartung einer herzhaften Mahlzeit. Zu ihrem Leidwesen erholte sich der Mann jedoch wieder, eilte der Gruppe nach und schloss sich ihr wieder an. Da er über und über mit dem Kot der Aasfresser bedeckt war, nannte ihn die Gruppe danach nur noch »Geierschiss«. Wenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt. Einer der Männer erzählte den neugierigen Anthropologen von seinen besten Jahren im Urwald. »Ich habe immer die alten Frauen umgebracht. Ich habe meine Tanten erschlagen … Die Frauen hatten Angst vor mir … Hier, bei den Weißen, bin ich schwach geworden. Ich habe viele alte Frauen umgebracht.« Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet. Eine Frau erinnerte sich, dass ihr erstes Baby umgebracht wurde, weil die Männer der Gruppe keine Mädchen mehr wollten. Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, »weil er immer schlecht gelaunt war und oft weinte«. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, »weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben«.14 Trotzdem sollten wir nicht vorschnell über die Aché urteilen. Anthropologen, die lange Jahre bei ihnen lebten, berichten, es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben.15 Für sie war die Tötung von Kindern, Kranken und Alten nichts anderes als für uns Abtreibung oder Sterbehilfe. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass die Aché von den Bauern der Region grausam verfolgt und ermordet wurden. Es kann durchaus sein, dass sie aufgrund der Notwendigkeit, sich vor ihren Feinden zu verstecken und zu fliehen, extrem erbarmungslos gegen Angehörige vorgingen, die eine Gefahr für den Rest der Gruppe darstellen konnten. In Wahrheit war die Gesellschaft der Aché, genau wie jede andere menschliche Gesellschaft, ausgesprochen komplex. Es wäre deshalb nicht angebracht, sie zu idealisieren oder zu verdammen. Die Aché waren weder Engel noch Teufel, sondern Menschen. Genau wie die Jäger und Sammler der Steinzeit.


Die erste Wohlstandsgesellschaft (1) The first affluent society (1) La primera sociedad próspera (1) La première société d'abondance (1) La prima società benestante (1) De eerste welvarende samenleving (1) A primeira sociedade abastada (1) Первое богатое общество (1) Det första rika samhället (1) İlk refah toplumu (1)

Sollte es nicht trotzdem möglich sein, einige allgemeine Aussagen darüber zu treffen, wie das Leben vor der Erfindung der Landwirtschaft ausgesehen haben könnte? Jedenfalls scheint festzustehen, dass die allermeisten Menschen in kleinen Gruppen von einigen Dutzend bis wenigen Hundert Personen lebten, und dass diesen Gruppen ausschließlich Menschen angehörten. Letzteres mag offensichtlich klingen, doch das ist es keineswegs. Die meisten Angehörigen von Agrar- und Industriegesellschaften sind nämlich Haustiere. Sie haben zwar nicht dieselben Rechte, doch sie gehören zweifelsfrei zu diesen Gesellschaften. Die Bevölkerung von Neuseeland besteht beispielsweise aus 4,5 Millionen Sapiens und 50 Millionen Schafen. Von dieser Regel gibt es allerdings eine Ausnahme: Hunde. Der Hund war das erste Tier, das der Homo sapiens bei sich aufnahm, und zwar lange vor der landwirtschaftlichen Revolution. Experten sind sich nicht ganz einig, wann genau das passiert sein könnte, doch die ersten sicheren Hinweise auf die Existenz von Haushunden sind etwa 15000 Jahre alt. Es ist gut denkbar, dass sich die Hunde dem menschlichen Rudel schon einige Jahrtausende oder Jahrzehntausende früher anschlossen. Hunde wurden zur Jagd und im Kampf eingesetzt, sie warnten vor wilden Tieren und menschlichen Eindringlingen. Zwischen Hund und Mensch entstand ein Band des Verständnisses und der Zuneigung, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Manchmal wurden Hunde ähnlich rituell bestattet wie Menschen. Im Laufe von vielen Generationen entwickelten sich Hunde und Menschen gemeinsam und lernten, miteinander zu kommunizieren. Diejenigen Hunde, die sich am besten auf die Bedürfnisse und Gefühle ihrer menschlichen Begleiter einstellten, erhielten mehr Zuwendung und Futter und vermehrten sich besser. Gleichzeitig lernten Hunde, die Menschen so zu manipulieren, wie es ihren Bedürfnissen entsprach. Nach einem 15000 Jahre dauernden emotionalen Rüstungswettlauf hat der Mensch eine tiefere emotionale Beziehung zum Hund als zu irgendeinem anderen Tier entwickelt. Die Angehörigen einer Gruppe kannten einander bestens und waren ein Leben lang von Verwandten und Freunden umgeben. Einsamkeit und Privatsphäre waren weitgehend unbekannt. Benachbarte Gruppen konkurrierten vermutlich um Ressourcen und bekämpften einander, aber daneben hatten sie wahrscheinlich auch freundschaftliche Kontakte. Sie tauschten Angehörige aus, jagten gemeinsam, handelten mit seltenen Ressourcen, gingen Bündnisse ein und feierten religiöse Feste. Diese Zusammenarbeit war eines der wichtigsten Merkmale des Homo sapiens, und ihr verdankte er einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Menschenarten. Manchmal waren die Bande zwischen benachbarten Gruppierungen so eng, dass sie einen Stamm bildeten, dieselbe Sprache sprachen und gemeinsame Mythen, Normen und Werte hatten. Wir sollten die Bedeutung dieser Außenbeziehungen allerdings nicht überschätzen. Selbst wenn benachbarte Gruppierungen in schwierigen Zeiten ein loses Bündnis eingingen und gelegentlich gemeinsam jagten und feierten, verbrachten sie die meiste Zeit in völliger Abgeschiedenheit und Eigenständigkeit. Der Handel beschränkte sich auf Luxusgüter wie Muscheln, Bernstein oder Farbpigmente. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Menschen mit Nahrungsmitteln wie Obst oder Fleisch gehandelt haben könnten, oder dass einzelne Gruppen auf die Lieferungen von anderen angewiesen waren. Auch soziale und politische Beziehungen waren eher rar. Der Stamm war keine dauerhafte politische Einrichtung, und selbst wenn er sich zu bestimmten Jahreszeiten an bestimmten Orten einfand, gab es keine festen Siedlungen oder dauerhaften Einrichtungen. Der Durchschnittswildbeuter traf oft Monate lang keinen Fremden und sah im Laufe seines Lebens nur wenige Hundert Gesichter. Die Menschen verteilten sich auf riesige Gebiete. Vor der landwirtschaftlichen Revolution hatte der gesamte Planet weniger menschliche Bewohner als die heutige Schweiz. Die meisten Menschen waren Nomaden und zogen auf der Nahrungssuche von einem Ort zum anderen. Ihre Wanderungen wurden durch den Wechsel der Jahreszeiten, die Migration von Tieren und den Wachstumszyklus der Pflanzen bestimmt. Auf ihren Wanderungen blieb eine Gruppe meist innerhalb eines festen Gebiets, das einige Dutzend bis einige Hundert Quadratkilometer groß sein konnte. Gelegentlich verließen die Gruppen jedoch ihr Territorium und erforschten unbekanntes Gebiet, zum Beispiel nach einer Naturkatastrophe, einem blutigen Konflikt oder einer demographischen Veränderung oder auf Initiative eines charismatischen Anführers. Diesen Wanderungen ist es zu verdanken, dass sich die Menschen allmählich über den gesamten Planeten ausbreiteten. Wenn sich eine Gruppe von Jägern und Sammlern alle vierzig Jahre aufspaltete und sich die Splittergruppe hundert Kilometer weiter östlich ein neues Territorium suchte, dann reichte das schon aus, um innerhalb von 10000 Jahren die Entfernung zwischen Ostafrika und China zurückzulegen. Wenn es irgendwo besonders viel Nahrung gab, dann ließen sich Gruppen ausnahmsweise dort nieder und blieben länger als eine Jahreszeit an einem Ort. Techniken zum Trocknen, Räuchern und (in der Arktis) Einfrieren von Nahrung ermöglichten es ihnen, sich für einen längeren Zeitraum niederzulassen. An Seen und Flüssen mit reichen Fischbeständen siedelten die Menschen auch dauerhaft. Lange vor der landwirtschaftlichen Revolution gründeten sie dort die ersten festen Dörfer der Geschichte. An den Küsten im indonesischen Archipel errichteten Fischer schon vor 45000 Jahren ihre Siedlungen. Diese könnten auch das Basislager gewesen sein, von dem aus der Homo sapiens zu seinen ersten Entdeckungsfahrten in See stach und schließlich Australien eroberte. In den meisten Lebensräumen war die Wirtschaft flexibel und opportunistisch. Die Menschen sammelten Termiten, pflückten Beeren, gruben nach Wurzeln, stellten Hasenfallen auf und jagten Büffel und Mammuts. Die Sammeltätigkeit war in der Regel wichtiger als die Jagd und deckte den größten Teil des Rohstoff- und Kalorienbedarfs. Beim Sammeln und Jagen verwendeten die Menschen Werkzeuge, zum Beispiel Speere, Fallen und Grabstöcke. Außerdem benutzten sie Kleidung: Die Eroberung der Arktis wurde nur durch die Erfindung von Thermobekleidung aus Leder und Fell möglich. Aber die Menschen sammelten nicht nur Nahrung und Rohstoffe, sondern auch Wissen.

Ohne eine detaillierte Kenntnis der Umgebung hätten sie nicht überlebt. Um ihre tägliche Nahrungssuche möglichst effizient zu gestalten, benötigten sie Informationen über das Wachstum aller Pflanzen und die Verhaltensmuster sämtlicher Tiere. Sie mussten den Wechsel der Jahreszeiten verstehen und Hinweise auf einen drohenden Sturm oder eine bevorstehende Trockenzeit erkennen. Jeder Angehörige der Gruppe musste ein Steinmesser herstellen, ein zerrissenes Kleidungsstück flicken, eine Hasenfalle aufstellen, einer Lawine entgehen und mit Schlangenbissen und hungrigen Löwen fertigwerden können. Es gab keinen Laden, in dem das Lebensnotwendige einkaufen und keinen Notruf, den sie im Ernstfall anrufen konnten. Um ihre Fähigkeiten zu erlernen, benötigten sie Jahre der Lehre und Übung. Jeder Jäger konnte innerhalb weniger Minuten aus einem Feuerstein eine Speerspitze fertigen. Wenn moderne Wissenschaftler es ihnen nachmachen wollen, scheitern sie in der Regel kläglich: Sie wissen nicht, wie welcher Basalt oder Feuerstein bricht und sie haben vor allem nicht die Feinmotorik, die nötig ist, um derart präzise zu arbeiten. Die Jäger und Sammler hatten also sehr viel gründlichere, umfassendere und vielfältigere Kenntnisse über ihre Umwelt als die meisten ihrer modernen Nachfahren. In unserer Industriegesellschaft braucht man zum Überleben nicht allzu viele Fähigkeiten. Was müssen wir denn schon mitbringen, um als Informatiker, Versicherungsvertreter, Geschichtslehrer oder Fließbandarbeiter überleben zu können? Natürlich erwerben wir eine Menge Spezialkenntnisse auf einem klar definierten Gebiet, doch bei der Befriedigung der allermeisten Bedürfnisse verlassen wir uns blind auf andere Experten, die sich genau wie wir auf ein winziges Fachgebiet spezialisiert haben. Als Kollektiv wissen wir heute natürlich viel mehr als diese Gruppen von Urmenschen. Aber für sich genommen waren die Jäger und Sammler die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte. Wir wissen heute, dass das durchschnittliche Sapiens-Gehirn seit Beginn der landwirtschaftlichen Revolution geschrumpft ist.12 Um als Jäger und Sammler zu überleben, mussten die Menschen über hervorragende geistige Fähigkeiten verfügen. Mit der Landwirtschaft und der Industrie konnten sich unsere Vorfahren zunehmend auf die Fähigkeiten der anderen verlassen, und es öffneten sich Nischen für weniger talentierte Menschen: Zur Not konnte man sich irgendwie als Wasserträger oder Hilfsarbeiter durchschlagen und so seine Gene an die nächste Generation weitergeben. Wildbeuter hatten nicht nur ein besseres Verständnis ihrer belebten und unbelebten Umwelt, sondern auch ihrer eigenen Innenwelt, ihres Körpers und ihrer Sinne. Sie hörten das leiseste Geräusch im Gras, weil es sich um eine Schlange handeln könnte. Mit scharfem Blick beobachteten sie das Laub von Bäumen, um Früchte, Bienenstöcke oder Vogelnester zu erspähen. Sie bewegten sich mit einem Minimum an Krafteinsatz und Lärm und verstanden es, geschickt und effizient zu sitzen, zu gehen und zu laufen. Durch den vielfältigen Einsatz ihres Körpers waren sie fit wie ein Marathonläufer. Sie hatten eine körperliche Flexibilität, wie wir sie heute nur erreichen, wenn wir jahrelang Yoga oder Tai-Chi praktizieren. Das Leben der Jäger und Sammler konnte sich je nach Region und Jahreszeit ganz erheblich unterscheiden, doch im Großen und Ganzen bekommt man den Eindruck, dass sie ein sehr viel angenehmeres Leben führten als die meisten Bauern, Schäfer, Landarbeiter und Büroangestellten, die ihnen folgten.

Während die Menschen in den heutigen Wohlstandsgesellschaften zwischen 40 und 45 Stunden pro Woche arbeiten, und in den Ländern der Dritten Welt sogar zwischen 60 und 80, kommen die Wildbeuter selbst in den unwirtlichsten Gegenden der Welt – zum Beispiel der Kalahari-Wüste – im Durchschnitt auf nur 35 bis 40 Arbeitsstunden pro Woche. Sie jagen höchstens jeden dritten Tag und die Sammeltätigkeit nimmt pro Tag lediglich drei bis sechs Stunden in Anspruch. In normalen Zeiten reicht das völlig aus, um die gesamte Gruppe zu ernähren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die steinzeitlichen Jäger und Sammler in fruchtbaren Regionen deutlich weniger Zeit benötigten, um Nahrung und Rohstoffe heranzuschaffen. Außerdem hatte sie deutlich weniger Hausarbeit: Sie mussten kein Geschirr spülen, keine Teppiche saugen, keine Böden schrubben, keine Windeln wechseln und keine Rechnungen zahlen. In der Wirtschaft der Wildbeuter gab es viel spannendere Berufe als in der Landwirtschaft oder der Industrie. Eine chinesische Fabrikarbeiterin geht morgens um sieben Uhr aus dem Haus, hastet durch die schmutzigen Straßen in einen öden Sweatshop, setzt sich an eine Maschine, verrichtet dort zehn Stunden lang den immergleichen Handgriff, kommt abends gegen sieben Uhr nach Hause und muss noch Geschirr spülen und die Wäsche waschen – tagein, tagaus, jeden Tag dasselbe. Vor 30000 Jahren hätte eine chinesische Wildbeuterin gegen acht Uhr morgens mit ihren Begleitern das Lager verlassen. Die Gruppe streifte durch die nahe gelegenen Wälder, sammelte Pilze, grub essbare Wurzeln aus, fing Frösche und lief vor Tigern davon. Am frühen Nachmittag waren sie wieder zurück im Lager, bereiteten eine Mahlzeit zu, unterhielten sich, spielten mit den Kindern und ruhten sich aus. Natürlich wurden sie hin und wieder von Tigern gefressen und von Schlangen gebissen, aber dafür blieben sie von Autounfällen und Smog verschont. Die Kost, die sie sammelten und jagten, war ideal. Was an sich kein Wunder ist, denn die Menschen hatten sich Jahrmillionen lang von nichts anderem ernährt und ihre Körper waren genau darauf eingestellt. Aus Fossilienfunden wissen wir, dass die Wildbeuter seltener unter Hunger und Mangelernährung litten und größer und gesünder waren als ihre bäuerlichen Nachfahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag zwar nur bei dreißig bis vierzig Jahren, doch das war vor allem der hohen Kindersterblichkeit geschuldet. Wer die gefährdeten ersten Lebensjahre überstand, hatte beste Chancen, sechzig, siebzig oder sogar achtzig Jahre alt zu werden. Unter heutigen Wildbeutern hat eine 45-jährige Frau gute Aussichten, weitere zwanzig Jahre lang zu leben, und rund 5 bis 8 Prozent der Bevölkerung sind über sechzig Jahre alt. Das Erfolgsgeheimnis der Jäger und Sammler, das sie vor Hungertod und Mangelernährung bewahrte, war ihre vielseitige Ernährung. Bauern leben in der Regel von einer sehr einseitigen Kost.

Vor allem in vormodernen Zeiten deckte die Landbevölkerung ihren Kalorienbedarf überwiegend mit einer einzigen Nutzpflanze, zum Beispiel Weizen, Kartoffeln oder Reis, die jeweils nur einen kleinen Teil der Vitamine, Mineralien und anderen Nährstoffe enthalten, die der menschliche Körper benötigt. Wildbeuter ernährten sich dagegen aus Dutzenden verschiedenen Quellen. Dank dieser Vielfalt erhielten sie eine ausgewogene Ernährung und waren weniger anfällig gegenüber Umwelteinflüssen. In einer landwirtschaftlichen Gesellschaft, die auf eine einzige Nutzpflanze angewiesen ist, konnten Dürren oder Überschwemmungen und der nachfolgende Ausfall der Weizen- oder Kartoffelernte leicht zu Hungersnöten führen, denen große Teile der Bevölkerung zum Opfer fielen. Die Jäger und Sammler waren zwar auch anfällig für die Widrigkeiten der Natur und kannten Zeiten des Mangels und des Hungers, doch in der Regel bewältigten sie diese erheblich besser. Wenn eines ihrer Grundnahrungsmittel ausfiel, konnten sie einfach eine andere Pflanze sammeln, ein anderes Tier jagen oder in eine weniger stark betroffene Gegend ausweichen. Die steinzeitlichen Wildbeuter litten außerdem weniger unter Infektionskrankheiten. Die meisten ansteckenden Krankheiten, mit denen sich landwirtschaftliche und industrialisierte Gesellschaften herumschlagen müssen (zum Beispiel Pocken, Masern oder Tuberkulose) stammen ursprünglich von Haustieren und wurden erst nach der landwirtschaftlichen Revolution auf den Menschen übertragen. Die Jäger und Sammler, die sich höchstens ein paar Hunde hielten, blieben von diesen Geißeln verschont. Dazu kam, dass die Menschen in Agrar- und Industriegesellschaften in beengten und schmutzigen Verhältnissen lebten – eine ideale Brutstätte für Krankheiten. Wildbeuter streiften dagegen in kleinen Gruppen umher, in denen sich keine Epidemien halten konnten. Wegen ihrer ausgewogenen und vielseitigen Kost, ihrer kurzen Arbeitszeiten und ihrer gesunden Lebensweise bezeichnen Historiker die Wildbeuter der Steinzeit gern als »die erste Wohlstandsgesellschaft«. Trotzdem sollten wir das Leben dieser Jäger und Sammler nicht durch eine rosarote Brille sehen. Sie lebten zwar besser als die meisten Menschen in Agrar- und Industriegesellschaften, doch ihre Welt konnte hart und erbarmungslos sein. Zeiten der Entbehrung waren nicht selten, die Kindersterblichkeit war hoch, und ein Unfall, etwa ein Sturz von einem Baum, konnte einem Todesurteil gleichkommen. Die meisten Menschen genossen vermutlich die Intimität der umherziehenden Gruppe, doch die Unglücklichen, die sich die Feindschaft oder den Spott der anderen zuzogen, hätten Sartre beigepflichtet, als er sagte, »die Hölle, das sind die anderen«. Auch heute lassen Jäger und Sammler ihre Alten und Kranken oft zurück oder töten sie, weil sie nicht mehr mit der Gruppe mithalten können. Unerwünschte Neugeborene und Kleinkinder werden getötet, und gelegentlich kommt es auch zu religiösen Menschenopfern. Die Aché, die bis in die 1960er Jahre als Jäger und Sammler durch die Urwälder von Paraguay streiften, vermitteln einen Eindruck von den Licht- und Schattenseiten des Lebens der Wildbeuter.

Wenn ein angesehenes Mitglied der Gruppe starb, töteten die Aché traditionell ein Mädchen und bestatteten die beiden zusammen. Anthropologen beschrieben einen Fall, in dem ein Mann mittleren Alters krank wurde und nicht mehr mit den anderen Schritt halten konnte. Die Gruppe ließ ihn unter einem Baum zurück. Über ihm kreisten schon die Geier in freudiger Erwartung einer herzhaften Mahlzeit. Zu ihrem Leidwesen erholte sich der Mann jedoch wieder, eilte der Gruppe nach und schloss sich ihr wieder an. Da er über und über mit dem Kot der Aasfresser bedeckt war, nannte ihn die Gruppe danach nur noch »Geierschiss«. Wenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt. Einer der Männer erzählte den neugierigen Anthropologen von seinen besten Jahren im Urwald. »Ich habe immer die alten Frauen umgebracht. Ich habe meine Tanten erschlagen … Die Frauen hatten Angst vor mir … Hier, bei den Weißen, bin ich schwach geworden. Ich habe viele alte Frauen umgebracht.« Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet. Eine Frau erinnerte sich, dass ihr erstes Baby umgebracht wurde, weil die Männer der Gruppe keine Mädchen mehr wollten. Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, »weil er immer schlecht gelaunt war und oft weinte«. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, »weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben«.14 Trotzdem sollten wir nicht vorschnell über die Aché urteilen. Anthropologen, die lange Jahre bei ihnen lebten, berichten, es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben.15 Für sie war die Tötung von Kindern, Kranken und Alten nichts anderes als für uns Abtreibung oder Sterbehilfe. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass die Aché von den Bauern der Region grausam verfolgt und ermordet wurden. Es kann durchaus sein, dass sie aufgrund der Notwendigkeit, sich vor ihren Feinden zu verstecken und zu fliehen, extrem erbarmungslos gegen Angehörige vorgingen, die eine Gefahr für den Rest der Gruppe darstellen konnten. In Wahrheit war die Gesellschaft der Aché, genau wie jede andere menschliche Gesellschaft, ausgesprochen komplex. Es wäre deshalb nicht angebracht, sie zu idealisieren oder zu verdammen. Die Aché waren weder Engel noch Teufel, sondern Menschen. Genau wie die Jäger und Sammler der Steinzeit.