Flevoland - Wie baue ich eine Provinz?
Das ist Flevoland, die zwölfte Provinz der Niederlande
und Wohnort von mehr als 400 000 Menschen.
Vor einhundert Jahren war hier aber nur Wasser
und hier auch. Wie kam also das Land dort hin?
Das hier ist: Wie baue ich eine Provinz in vier nicht all zu leichten Schritten.
Schon seit Jahrhunderten kämpfen die Niederländer gegen das Wasser.
Ein wichtiger Kriegsschauplatz war dabei schon immer die Zuiderzee.
Entlang der ganzen Küste stehen Dämme, Deiche und andere Anlagen, um das Land zu schützen;
aber immer wieder durchbrachen Sturmfluten diese Schanzwerke,
jedes Mal mit großen Verlusten an Gütern und Leben zur Folge.
Schon im 17ten Jahrhundert gab es Pläne für
einen Damm, das Meer zu zügeln und ewig in Schach zu halten
aber die verfügbare Technologie reichte dafür noch nicht aus.
Erst gegen Ende des 19ten Jahrhunderts wurden solche Pläne möglich.
Möglich, aber noch nicht gleich verwirklicht:
Die Fischerei war dagegen, und man sträubte sich vor den Kosten.
1916, mitten im Ersten Weltkrieg, brach dann aber die See erneut herein
und überflutete große Teile der Küste.
Jetzt waren alle dafür.
Das Ergebnis war „de Afsluitdijk“, der Abschlussdeich,
ein 32 Kilometer langer Deich quer durchs Meer.
Also, wie baut man so ein Monstrum?
Erst buddelt man den weichen Boden weg und ersetzt ihn durch stabilen Sand.
Darauf kommen Weidenzweigmatten und große Steine, als Anker für den Damm.
Auf diese Basis baut man einen Damm mit der höchst fortschrittlichen Methode
des “Große Mengen Blocklehm ins Wasser Schaufelns.”
Blocklehm ist eine Mischung von Steinen, Sand und Ton
und eine neue Erfindung beim Bau des Abschlussdeiches.
Früher wurde Ton benutzt, der weniger stabil ist.
Dieser Blocklehmdamm ist der harte Kern der dem Deich seine Festigkeit gibt.
Auf ihn drauf schüttet man einen großen Berg Sand. Dieser wird bedeckt mit einer dünnen Schicht Lehm,
die den Damm wie ein Netz zusammenhält - und man kann darauf Grass anpflanzen.
Die Seiten sichert man noch gegen Wellenerosion mit Schilfmatten, Geröll, Basaltblöcken und,
an der zur See liegenden Seite: Einer dickeren Schicht Blocklehm.
Mit dem Bau wurde 1927, von beiden Festlandseiten aus,
und von zwei eigens dafür angelegten Inseln begonnen. Fünf Jahre Später war man endlich fertig.
Die Zuiderzee war gespalten worden. Die neue Wasserfläche nannte man das IJsselmeer.
Da es keinen Kontakt mehr zu der Salzigen Nordsee hatte, aber immer noch von Flüssen gespeist wurde,
verlor das Wasser langsam seinen Salzgehalt, womit ein weiteres Problem gelöst wurde.
Die Niederlande brauchten nämlich schon seit langem ein Süßwasser-Reservoir.
Mit dem Bau des „Afsluitdijks“ war die Küste gesichert.
Die Niederländer hatten 1916 aber nicht nur die Gefahr des Meers kennen gelernt.
Trotz ihrer Neutralität litten sie unter den Folgen des Weltkrieges für den internationalen Handel.
Vor allem die Nahrungsversorgung bereitete Schwierigkeiten.
Um eine Wiederholung des Hungers zu verhindern, benutzte man einetypisch Niederländische Lösung:
Mehr Ackerland bauen. Dieses neue Land nennt man einen Polder.
Das Prinzip eines Polders ist sehr einfach:
Man baut einen geschlossenen Deich und pumpt das Wasser ab, früher mit Windmühlen,
heute mit modernen Pumpen.
Das Problem besteht darin, dass immer wieder Wasser in den Polder hineinkommt, z.B. durch Regen,
aber nicht auf natürlichem Wege wieder hinaus fließen kann;
der Polder liegt ja unter dem normalen Wasserspiegel.
Man baut also ein Netzwerk von Gräben oder Abflussröhren,
die das Wasser in einen großen Graben, den “Boezem”, befördern,
von wo aus es aus dem Polder hinaus gepumpt werden kann.
Von diesem grundsätzlichen Prinzip her unterscheiden sich Wieringermeer, Noordoostpolder, östliches
und südliches Flevoland nicht von älteren Poldern. Sie sind bloß viel, viel größer.
Flevoland ist die größte künstliche Insel der Welt. Für ihren Bau brauchte man 40 Jahre,
von 1927 bis 1968. Auch während des Zweiten Weltkriegs liefen die Arbeiten einfach weiter.
Den Deutschen gefielen die Pläne für bessere Nahrungsversorgung.
So waren Arbeiter auf dem Polder sogar von der Zwangsarbeit in Deutschland befreit.
Man hat jetzt also eine große Fläche neuen Landes.
Der Boden eines gerade trockengelegten Polders ist aber einfach nur ein Meeresboden ohne Wasser drüber.
Man hatte sich schon die Stellen zum einpoldern ausgewählt wo kein Sand, sondern Lehmboden war,
aber es war ziemlich offensichtlich, dass dieses Land
eben noch unter mehreren Metern Wasser gelegen hatte.
Es lagen noch haufenweise tote Fische und hunderte Schiffswracks drauf.
Das eigentliche Problem aber war, dass der Druck den Boden hart gemacht hatte, und ihm Nährstoffe fehlten.
Man konnte also nicht sofort anfangen Kartoffeln zu pflanzen; der Boden musste erst aufbereitet werden.
Der erste Schritt hierbei ist Schilf. Das wurde von Flugzeugen aus gesät
und hat mehrere Vorteile:
Erstens saugt es das letzte Bisschen überflüssiges Wasser aus dem Boden.
Zweitens wächst es schnell und hoch und erstickt so andere unerwünschte Pflanzen.
Das Schilf selber kann man nämlich leicht wieder los werden indem man es einfach anzündet;
anfangs großflächig, aber nachdem Hausfrauen in Amsterdam sich über den Ruß auf ihrer Wäsche
beschwert hatten, nur noch in kleineren Schüben.
Die Asche wurde mit Pflügen in den Boden gemischt und darauf säte man dann Raps.
Der wächst auch auf salzigem Boden, verhindert, dass das Schilf wieder nachwächst,
und hat genau wie Schilf lange Wurzeln die den Boden besser und tiefer auflockern als ein Pflug es kann.
Letztendlich pflanzt man Luzerne, die den Boden wieder mit Stickstoff versorgt,
sodass der ehemalige Meeresboden dann endgültig zu brauchbarem Ackerland wird.
Wir haben jetzt also eine große Fläche Land trockengelegt und brauchbar gemacht,
aber für eine Provinz braucht man mehr als Land; man braucht Leute.
Flevoland wurde kolonisiert, genau wie Australien oder Suriname,
nur halt ohne Einheimischen zu verdrängen – und mit mehr Planung seitens der Regierung.
Nicht einfach jeder durfte das “neue Land” nach Belieben besiedeln.
Es war eine Zeit starken Bevölkerungswachstums,
in der also viele Bauernsöhne den Hof ihres Vaters nicht erben konnten.
Die suchten dringend nach einem Ort, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Außerdem waren im Zweiten Weltkrieg viele Wohnungen zerstört worden.
Es gab also allgemein viele Leute, die eine neue Bleibe brauchten und so war der Andrang groß.
Um nach Flevoland zu kommen musste man also schon was besonderes sein.
Es reichte nicht nur ein guter Bauer zu sein, die Zuweisungsbeamten beurteilten auch,
ob man auch ein “guter Mensch“ war: sozial engagiert, angenehmer Charakter, gesund, …
Auch die Religion spielte eine Rolle. Es war die zeit der „Verzuiling“ in den Niederlanden.
Die verschiedenen Weltanschauungen, Katholisch, Protestantisch und Sozialistisch, lebten streng getrennt.
Jede hatte ihre eigenen Schulen, Kirchen, Jugendvereine, Zeitungen, sogar Krankenhäuser.
Man sagt sie bildeten jede eine „Säule“.
Um keine dieser Gruppen vor den Kopf zu stoßen entschloss man,
dass alle gleicher Maßen in Flevoland repräsentiert sein würden.
Ein Drittel der Bevölkerung sollte katholisch sein, ein Drittel protestantisch,
und ein Drittel sozialistisch.
Man wollte aber auch nicht jeder Säule ein eigenes Dorf geben.
Also wurde wurde alles gut durcheinander gemischt.
Dieser Umstand prägt die Provinz bis heute.
Weil Leute aus den unterschiedlichsten Gegenden sich untereinander verständigen mussten,
wurde die Umgangssprache immer dialektneutraler;
ähnlich wie das Deutsch aus Hannover als neutraler Akzent gilt
aber was reden wir über das deutsche Festland, wir haben gerade eine niederländische Provinz fertiggestellt.
Zuerst haben wir mit dem Abschlussdeich die Küste sicher und das Wasser süß gemacht.
Dann wurden mit vier riesenhaften Poldern große Teile des neuen Meeres trocken gelegt.
Den gewonnenen Boden haben wir durch geschickte Pflanzennutzung fruchtbar gemacht
und schließlich haben wir das Land besiedelt. Es fehlt nur noch eine einzige Sache:
Der offizielle Status „Provinz“, der schließlich 1986 verliehen wurde.