×

Wir verwenden Cookies, um LingQ zu verbessern. Mit dem Besuch der Seite erklärst du dich einverstanden mit unseren Cookie-Richtlinien.


image

Wunderbares Ereignis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kl. 10 – Henry Jekylls vollständige Erklärung der Sache – 02

Kl. 10 – Henry Jekylls vollständige Erklärung der Sache – 02

An dieser Stelle kann ich nur theoretisch sprechen, indem ich nicht sage, was ich weiß, sondern was ich für das Wahrscheinlichste halte. Die schlechtere Hälfte meiner Natur, auf welche ich ja jetzt diese neu entdeckte Kraft verwandt hatte, war weniger ansehnlich und entwickelt als die gute, die ich soeben verlassen hatte. Im Laufe meines Lebens, welches trotz allem durch alle Jahrzehnte ein Streben nach Tugend und Selbstbeherrschung gewesen, war das Schlechte nicht so ausgebildet und weniger verlebt, daher, glaube ich, kam es, daß Edward Hydes so viel kleiner, behender und jünger war als Henry Jekyll. Wie das Gute aus dem Angesicht des einen leuchtete, so war die Bosheit klar und deutlich in den Zügen des anderen zu lesen. Das Böse, welches, wie ich noch glaube, die tödliche Seite des Menschen ist, hatte seinem Körper den Eindruck der Verwachsenheit aufgedrückt, und doch betrachtete ich mein Spiegelbild keineswegs mit Abneigung, sondern bewillkommnete es eher. Dies war ich ja auch selbst. Es war jenes Gefühl daher wohl ganz natürlich und menschlich. In meinen Augen schien es ein lebhafteres, geistiges Gepräge zu haben, auch war es ausgeprägter und einheitlicher als das veränderliche Wesen, das ich bisher mein Eigen genannt hatte. Insofern war ich auch zweifellos im Recht. Wenn ich Edward Hyde war, bemerkte ich, daß jeder bei der ersten Begegnung einen unwillkürlichen Schauder empfand. Dies rührte, wie ich annehme, davon her, daß alle Menschen, mit denen wir zusammenkommen, aus Gutem und Bösem bestehen. Doch Edward Hyde war der Einzige auf der Welt, der nur Böses in sich barg.

Nur einige Augenblicke blieb ich so vor dem Spiegel stehen, das zweite, richtigere Experiment mußte noch versucht werden, ich mußte noch erfahren, ob ich meine Identität ganz verloren und deswegen bei Tagesanbruch aus meinem Hause, das nicht länger mein Eigen war, fliehen mußte. In mein Kabinett, zurück eilend, bereitete und lehrte ich noch einmal jenen Trank, machte wieder dieselben Leiden durch und kam zu mir mit dem Charakter, der Gestalt und den Gesichtszügen Henry Jekylls.

In jener Nacht war ich zu dem verhängnisvollen Scheideweg gelangt. Hätte ich meine Entdeckung in edlerem Sinne weiterverfolgt, hätte ich die Experimente unter guten und frommen Eingebungen vollführt, so hätte alles anders kommen müßen, und von diesen Qualen des Todes und der Geburt wäre ich als Engel erstanden, anstatt als Bösewicht. Der Trank hatte keinen Einfluss auf den Charakter, er war an sich weder teuflisch noch himmlisch. Er erschütterte gleichsam die Türen meines Gefängnisses, und das, was zur Zeit in mir war, kam gleich den Gefangenen von Philippi zum Vorschein. Zu jener Zeit schlummerte meine Tugend, das Böse in mir, durch den Ehrgeiz wachgerufen, ergriff bereitwillig und eiligst die Gelegenheit, und das dadurch hervorgebrachte Wesen war Edward Hyde. Obwohl ich von nun an zwei Charaktere sowie zwei Gestalten besaß, war mein eines Wesen ganz böse, während das andere noch der alte Henry Jekyll blieb, jenes ungereimte Gebilde an dessen Umgestaltung und Verbesserung ich bereits verzweifelt war. Mein Werk war also ganz nach der schlechten Seite hin ausgeschlagen.

Selbst zu jener Zeit hatte ich noch nicht meine Abneigung gegen das trockene Leben des Studiums überwunden. Ich war bisweilen noch heiter aufgelegt, und meine Vergnügungen waren zum wenigsten unwürdig. Da ich nicht nur wohlbekannt und hochgestellt war, sondern auch schon zu den älteren Herren zählte, wurde diese Unbündigkeit meines Lebens mir täglich unwillkommener. Von dieser Seite nun wurde ich durch meine neue Macht versucht, bis ich in Sklaverei verfiel. Ich brauchte nur das Mittel zu trinken, um sofort den Körper des Professors abzulegen, gleich einem dicken Mantel, und den Edward Hydes anzunehmen. Bei dieser Wahrnehmung lächelte ich. Es schien mir zur Zeit humoristisch, und ich traf meine Vorkehrungen mit der größten Sorgfalt. Ich kaufte und möblierte jenes Haus in Soho, wo Hyde durch die Polizei aufgespürt wurde. Als Haushälterin nahm ich eine Kreatur, von der ich wohl wusste, dass sie verschwiegen sei und keine Bedenken tragen würde. Auch kündete ich meinen Dienstboten an, dass ein Mr. Hyde, welchen ich beschrieb, volle Freiheit und Macht in meinem Hause auf dem Square haben solle. Um Unfällen vorzubeugen, kam ich sogar in meinem zweiten Charakter als Besuch und machte mich so im Hause bekannt. Zunächst setzte ich jenes Testament auf, das so sehr deinen Unwillen erregte, damit, wenn mich als Dr. Jekyll etwas befiel, ich ohne pekuniären Verlust Edward Hyde sein konnte. Indem ich mich so allerseits sichergestellt, fing ich an, aus den seltsamen Vorrechten meiner Lage Nutzen zu ziehen.

Schon früher hat es Männer gegeben, die sich Schurken mieteten, welche ihre Verbrechen vollführen mussten, während ihre eigene Person und Ruf ungefährdet blieb. Ich war der Erste, der es so mit seinen Vergnügungen machte, der Erste, der einen Augenblick sich in voller Ehrbarkeit zeigen konnte, um im nächsten Augenblick gleich einem Schulknaben diese Bande abzustreifen und die Freiheit in vollen Zügen zu genießen.

Ich war in dieser undurchdringlichen Kleidung vollkommen sicher. Denke doch nur — ich existierte ja nicht einmal. Ich hatte nur nötig, in die Tür meines Laboratoriums zu flüchten, in ein bis zwei Minuten konnte ich meinen Trank, der stets bereit stand, mischen und leeren, und was Hyde auch immer begangen haben mochte, so schwand er doch in nichts zusammen wie ein Hauch auf dem Spiegel. Statt seiner erstand ein Mann, der ruhig des Mitternachts bei seiner Lampe über den Studien saß, ein Mann, der über jeglichen Verdacht, der laut wurde, lächeln konnte, und sein Name war Henry Jekyll.

Die Vergnügungen, denen ich nachjagte, waren, wie ich bereits sagte, keine meiner Stellung würdige, aber in den Händen Edward Hydes wurden sie bald zu Abscheulichkeiten. Wenn ich von solchen Ausflügen heimkehrte, wunderte ich mich hinterher oft selbst über meine Verderbtheit. Jenes Wesen, das ich aus meiner Seele hervorgerufen, war durchaus bösartig und schurkenhaft. Sein ganzes Tun sowie seine Gedanken drehten sich nur um seine eigene Person, mit tierischer Lust fand er sein Vergnügen in den Qualen anderer, er war unbarmherzig wie ein Stein. Henry Jekyll war bisweilen entsetzt über Edward Hydes Taten, aber die ganze Lage war so verschieden von den allgemeinen Gesetzen, dass sein Gewissen sich dabei beruhigte. Es war doch Hyde und nur Hyde allein, der alle Schuld trug, Jekyll war nicht schlechter geworden, er erwachte unverändert zu seinen guten Eigenschaften und bemühte sich sogar nach Möglichkeit, das durch Hyde verübte Böse wieder gut zu machen. So schlummerte sein Gewissen ein.

In die Einzelheiten der Schandtaten, welche ich so duldete, denn jetzt selbst kann ich nicht zugeben, dass ich sie vollführte, will ich nicht weiter eingehen. Ich möchte nur die folgenden Momente, die zu meiner Strafe führten, angeben. Ein Akt der Grausamkeit an einem Kinde verübt, erregte den Ärger eines Vorübergehenden, den ich am nächsten Tag als deinen Verwandten erkannte. Der Arzt und des Kindes Angehörige waren auf seiner Seite, einige Augenblicke fürchtete ich sogar für mein Leben, und zuletzt, um ihre nur zu gerechte Entrüstung zu besänftigen, musste Hyde sie zu jener Tür führen und ihnen einen auf den Namen Henry Jekyll lautenden Wechsel geben. Diese Gefahr war in Zukunft leicht beseitigt, indem ich bei einer anderen Bank auf Edward Hydes Namen Geld hinterlegte, bei den Unterschriften verstellte ich meine Handschrift und glaubte mich so vor jeder Entdeckung sicher.

Kl. 10 – Henry Jekylls vollständige Erklärung der Sache – 02 Cl. 10 - Henry Jekyll's full explanation of the case - 02 Cl. 10 - Henry Jekyll's volledige uitleg van de zaak - 02

An dieser Stelle kann ich nur theoretisch sprechen, indem ich nicht sage, was ich weiß, sondern was ich für das Wahrscheinlichste halte. Die schlechtere Hälfte meiner Natur, auf welche ich ja jetzt diese neu entdeckte Kraft verwandt hatte, war weniger ansehnlich und entwickelt als die gute, die ich soeben verlassen hatte. Im Laufe meines Lebens, welches trotz allem durch alle Jahrzehnte ein Streben nach Tugend und Selbstbeherrschung gewesen, war das Schlechte nicht so ausgebildet und weniger verlebt, daher, glaube ich, kam es, daß Edward Hydes so viel kleiner, behender und jünger war als Henry Jekyll. Wie das Gute aus dem Angesicht des einen leuchtete, so war die Bosheit klar und deutlich in den Zügen des anderen zu lesen. Das Böse, welches, wie ich noch glaube, die tödliche Seite des Menschen ist, hatte seinem Körper den Eindruck der Verwachsenheit aufgedrückt, und doch betrachtete ich mein Spiegelbild keineswegs mit Abneigung, sondern bewillkommnete es eher. Dies war ich ja auch selbst. Es war jenes Gefühl daher wohl ganz natürlich und menschlich. In meinen Augen schien es ein lebhafteres, geistiges Gepräge zu haben, auch war es ausgeprägter und einheitlicher als das veränderliche Wesen, das ich bisher mein Eigen genannt hatte. Insofern war ich auch zweifellos im Recht. Wenn ich Edward Hyde war, bemerkte ich, daß jeder bei der ersten Begegnung einen unwillkürlichen Schauder empfand. Dies rührte, wie ich annehme, davon her, daß alle Menschen, mit denen wir zusammenkommen, aus Gutem und Bösem bestehen. Doch Edward Hyde war der Einzige auf der Welt, der nur Böses in sich barg.

Nur einige Augenblicke blieb ich so vor dem Spiegel stehen, das zweite, richtigere Experiment mußte noch versucht werden, ich mußte noch erfahren, ob ich meine Identität ganz verloren und deswegen bei Tagesanbruch aus meinem Hause, das nicht länger mein Eigen war, fliehen mußte. In mein Kabinett, zurück eilend, bereitete und lehrte ich noch einmal jenen Trank, machte wieder dieselben Leiden durch und kam zu mir mit dem Charakter, der Gestalt und den Gesichtszügen Henry Jekylls.

In jener Nacht war ich zu dem verhängnisvollen Scheideweg gelangt. Hätte ich meine Entdeckung in edlerem Sinne weiterverfolgt, hätte ich die Experimente unter guten und frommen Eingebungen vollführt, so hätte alles anders kommen müßen, und von diesen Qualen des Todes und der Geburt wäre ich als Engel erstanden, anstatt als Bösewicht. Der Trank hatte keinen Einfluss auf den Charakter, er war an sich weder teuflisch noch himmlisch. Er erschütterte gleichsam die Türen meines Gefängnisses, und das, was zur Zeit in mir war, kam gleich den Gefangenen von Philippi zum Vorschein. Zu jener Zeit schlummerte meine Tugend, das Böse in mir, durch den Ehrgeiz wachgerufen, ergriff bereitwillig und eiligst die Gelegenheit, und das dadurch hervorgebrachte Wesen war Edward Hyde. Obwohl ich von nun an zwei Charaktere sowie zwei Gestalten besaß, war mein eines Wesen ganz böse, während das andere noch der alte Henry Jekyll blieb, jenes ungereimte Gebilde an dessen Umgestaltung und Verbesserung ich bereits verzweifelt war. Although from now on I had two characters as well as two guises, my one being was all evil, while the other still remained the old Henry Jekyll, that inconsistent entity whose transformation and improvement I had already despaired of. Mein Werk war also ganz nach der schlechten Seite hin ausgeschlagen. So my work was completely on the bad side.

Selbst zu jener Zeit hatte ich noch nicht meine Abneigung gegen das trockene Leben des Studiums überwunden. Ich war bisweilen noch heiter aufgelegt, und meine Vergnügungen waren zum wenigsten unwürdig. Da ich nicht nur wohlbekannt und hochgestellt war, sondern auch schon zu den älteren Herren zählte, wurde diese Unbündigkeit meines Lebens mir täglich unwillkommener. Since I was not only well known and highly placed, but also already counted among the older gentlemen, this unruliness of my life became more unwelcome to me every day. Von dieser Seite nun wurde ich durch meine neue Macht versucht, bis ich in Sklaverei verfiel. Ich brauchte nur das Mittel zu trinken, um sofort den Körper des Professors abzulegen, gleich einem dicken Mantel, und den Edward Hydes anzunehmen. Bei dieser Wahrnehmung lächelte ich. Es schien mir zur Zeit humoristisch, und ich traf meine Vorkehrungen mit der größten Sorgfalt. Ich kaufte und möblierte jenes Haus in Soho, wo Hyde durch die Polizei aufgespürt wurde. Als Haushälterin nahm ich eine Kreatur, von der ich wohl wusste, dass sie verschwiegen sei und keine Bedenken tragen würde. Auch kündete ich meinen Dienstboten an, dass ein Mr. Hyde, welchen ich beschrieb, volle Freiheit und Macht in meinem Hause auf dem Square haben solle. Um Unfällen vorzubeugen, kam ich sogar in meinem zweiten Charakter als Besuch und machte mich so im Hause bekannt. Zunächst setzte ich jenes Testament auf, das so sehr deinen Unwillen erregte, damit, wenn mich als Dr. Jekyll etwas befiel, ich ohne pekuniären Verlust Edward Hyde sein konnte. Indem ich mich so allerseits sichergestellt, fing ich an, aus den seltsamen Vorrechten meiner Lage Nutzen zu ziehen.

Schon früher hat es Männer gegeben, die sich Schurken mieteten, welche ihre Verbrechen vollführen mussten, während ihre eigene Person und Ruf ungefährdet blieb. Ich war der Erste, der es so mit seinen Vergnügungen machte, der Erste, der einen Augenblick sich in voller Ehrbarkeit zeigen konnte, um im nächsten Augenblick gleich einem Schulknaben diese Bande abzustreifen und die Freiheit in vollen Zügen zu genießen.

Ich war in dieser undurchdringlichen Kleidung vollkommen sicher. Denke doch nur — ich existierte ja nicht einmal. Ich hatte nur nötig, in die Tür meines Laboratoriums zu flüchten, in ein bis zwei Minuten konnte ich meinen Trank, der stets bereit stand, mischen und leeren, und was Hyde auch immer begangen haben mochte, so schwand er doch in nichts zusammen wie ein Hauch auf dem Spiegel. Statt seiner erstand ein Mann, der ruhig des Mitternachts bei seiner Lampe über den Studien saß, ein Mann, der über jeglichen Verdacht, der laut wurde, lächeln konnte, und sein Name war Henry Jekyll.

Die Vergnügungen, denen ich nachjagte, waren, wie ich bereits sagte, keine meiner Stellung würdige, aber in den Händen Edward Hydes wurden sie bald zu Abscheulichkeiten. Wenn ich von solchen Ausflügen heimkehrte, wunderte ich mich hinterher oft selbst über meine Verderbtheit. Jenes Wesen, das ich aus meiner Seele hervorgerufen, war durchaus bösartig und schurkenhaft. Sein ganzes Tun sowie seine Gedanken drehten sich nur um seine eigene Person, mit tierischer Lust fand er sein Vergnügen in den Qualen anderer, er war unbarmherzig wie ein Stein. Henry Jekyll war bisweilen entsetzt über Edward Hydes Taten, aber die ganze Lage war so verschieden von den allgemeinen Gesetzen, dass sein Gewissen sich dabei beruhigte. Es war doch Hyde und nur Hyde allein, der alle Schuld trug, Jekyll war nicht schlechter geworden, er erwachte unverändert zu seinen guten Eigenschaften und bemühte sich sogar nach Möglichkeit, das durch Hyde verübte Böse wieder gut zu machen. So schlummerte sein Gewissen ein.

In die Einzelheiten der Schandtaten, welche ich so duldete, denn jetzt selbst kann ich nicht zugeben, dass ich sie vollführte, will ich nicht weiter eingehen. Ich möchte nur die folgenden Momente, die zu meiner Strafe führten, angeben. Ein Akt der Grausamkeit an einem Kinde verübt, erregte den Ärger eines Vorübergehenden, den ich am nächsten Tag als deinen Verwandten erkannte. Der Arzt und des Kindes Angehörige waren auf seiner Seite, einige Augenblicke fürchtete ich sogar für mein Leben, und zuletzt, um ihre nur zu gerechte Entrüstung zu besänftigen, musste Hyde sie zu jener Tür führen und ihnen einen auf den Namen Henry Jekyll lautenden Wechsel geben. The doctor and the child's relatives were on his side, for a few moments I even feared for my life, and at last, to appease their only too just indignation, Hyde had to lead them to that door and give them a bill of exchange in the name of Henry Jekyll. Diese Gefahr war in Zukunft leicht beseitigt, indem ich bei einer anderen Bank auf Edward Hydes Namen Geld hinterlegte, bei den Unterschriften verstellte ich meine Handschrift und glaubte mich so vor jeder Entdeckung sicher.