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Wunderbares Ereignis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 04

Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 04

Poole stampfte auf die Fliesen des Ganges. „Er muss hier begraben sein,“ sagte er auf den Schall horchend.

„Oder er muss entflohen sein,“ sagte Utterson und untersuchte die Tür, die nach der Nebenstraße führte. Sie war verschlossen, und dicht dabei, am Boden liegend, fanden sie den bereits verrosteten Schlüssel.

„Es sieht nicht aus, als ob er benutzt worden wäre,“ bemerkte der Advokat.

„Benutzt!“ wiederholte Poole, „Sehen Sie denn nicht, gnädiger Herr, dass er zerbrochen ist, als ob ihn jemand mutwillig zerstampft hätte?“

„Ja,“ fuhr Utterson fort, „und beide Bruchstellen sind ebenfalls verrostet.“ — Verdutzt sahen sich die beiden Männer an. „Das geht über meinen Verstand, Poole,“ sagte der Advokat, „lass uns in das Kabinett zurückgehen.“

Sie stiegen die Treppe wieder herauf und unterwarfen das Kabinett einer noch eingehenderen Prüfung, noch einmal einen entsetzten Blick auf den Toten werfend. Auf einem Tisch fanden sich noch Überreste einer chemischen Arbeit, mehrere Häufchen eines weißen Salzes lagen auf glänzenden Unterschälchen, wie für ein Experiment vorbereitet, das der unglückliche Mensch noch hatte vornehmen wollen.

„Das ist dieselbe Ware, die ich ihm immer gebracht habe,“ sagte Poole, und während er dies sagte, kochte der Kessel mit schreckenerregendem Geräusch über.

Dies führte sie an den Herd, an den ein Lehnstuhl ganz nah herangerückt war und wo die Sachen zum Tee bereitstanden, der Zucker sogar schon in der Tasse. Mehrere Bücher lagen auf dem Pult und eines lag offen auf dem Tisch. Utterson war verwundert, ein heiliges Werk, für welches Jekyll oftmals seine besondere Vorliebe ausgesprochen hatte zu finden, das aber in seiner eigenen Handschrift mit Randbemerkungen versehen war, die empörende Lästerungen enthielten.

Das nächste, was ihnen im Verlauf der Untersuchung in die Augen fiel, war der große Wandspiegel, in welchen sie mit Entsetzen blickten. Er war so gestellt, dass sie nur den rosigen Schein von den Dächern sowie das sich in den Glastüren der Schränke hundertfältig widerspiegelnde Feuer sahen.

„Dieser Spiegel hat wohl seltsame Dinge gesehen, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole.

„Und sicher nichts Seltsameres, als er selber ist,“ entgegnete der Advokat im selben Ton. „Denn was sollte Jekyll—“ er erschrak über dieses Wort, überwand aber seine Schwäche und setzte hinzu: „wozu kann Jekyll ihn benutzt haben?“

„Wer kann das wissen?“ sagte Poole.

Dann wandten sie sich zu dem Arbeitstisch. Zwischen den dort liegenden Papieren lag obenauf ein Schreiben, das in des Doktors Handschrift Mr. Uttersons Adresse trug. Der Advokat erbrach das Siegel und mehrere Einlagen fielen zur Erde. Das erste Blatt war ein Testament, in derselben absonderlichen Weise verfasst wie dasjenige, welches er ihm vor sechs Monaten wieder zurückgestellt hatte. Es sollte im Falle seines Todes als Testament gelten, im Falle seines Verschwindens als Geschenk. Nur statt des Namens Edward Hyde fand der Advokat zu seinem großen Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson gesetzt. Er blickte auf Poole, dann wieder auf das Papier, und zuletzt haftete sein Blick auf den toten Missetäter, der auf dem Teppich ausgestreckt lag.

„Mein Kopf ist mir ganz wirr,“ sagte er, „er hat es all diese Tage vor seinen Augen gehabt. Er hatte keinen Grund, mich zu mögen. Er hätte wütend sein müssen, seine Stelle durch einen anderen ausgefüllt zu sehen, und doch hat er das Testament nicht vernichtet.“

Dann nahm er das zweite Schreiben zur Hand. Es war eine kurze Notiz, und das Datum stand oben an.

„Oh, Poole,“ rief der Advokat, „er war heute noch hier und am Leben. Er kann nicht in einer so kurzen Zeit abgetan worden sein. Er muss noch leben, er muss entflohen sein! Und doch, weshalb entflohen? Und wohin? Und können wir in dem Falle unser Werk eingestehen? Oh, wir müssen vorsichtig sein. Ich fürchte, daß wir sonst noch Ihren Herrn in Unannehmlichkeiten verwickeln können.“

„Warum lesen Sie es nicht, gnädiger Herr?“ fragte Poole.

„Weil ich Befürchtungen hege,“ erwiderte der Advokat feierlich, „Gott gebe, daß ich keine Ursache dazu habe!“ Damit nahm er den Brief und las Folgendes:

„Mein lieber Utterson, wenn dies in deine Hände fällt, werde ich verschwunden sein, unter welchen Umständen kann ich nicht vorhersehen, aber mein Verstand und all die Nebenumstände meiner namenlosen Lage sagen mir, daß das Ende mir sicher und nahe ist. So gehe denn und lese erst Lanyon's Bericht, welchen er mir versprach, in deine Hände zu legen, und willst du mehr erfahren, dann lies die Berichte.

Deines unwürdigen und unglücklichen Freundes,

Henry Jekyll.“

„Es war doch noch ein drittes Schreiben da,“ fragte Utterson.

„Hier, gnädiger Herr,“ sagte Poole und reichte ihm ein ansehnliches, gesiegeltes Paket.

Der Advokat steckte es in die Tasche. „Ich sage nichts von diesen Papieren. Wenn Ihr Herr tot oder entflohen ist, wollen wir wenigstens seinen guten Namen retten. Es ist jetzt zehn Uhr, ich muss nach Hause gehen und die Dokumente in aller Ruhe durchlesen. Aber ich werde um Mitternacht wieder zurück sein, und dann wollen wir nach der Polizei schicken.“

Sie gingen fort und verschlossen hinter sich die Tür des Hörsaales. Utterson entfernte sich, die erstaunten Dienstboten noch am Feuer zurücklassend, um in seinem Arbeitszimmer diese beiden Berichte zu lesen, welche ihm jetzt das ganze Geheimnis aufklären sollten.


Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 04 Chapter 8 - The Last Night - 04

Poole stampfte auf die Fliesen des Ganges. „Er muss hier begraben sein,“ sagte er auf den Schall horchend.

„Oder er muss entflohen sein,“ sagte Utterson und untersuchte die Tür, die nach der Nebenstraße führte. Sie war verschlossen, und dicht dabei, am Boden liegend, fanden sie den bereits verrosteten Schlüssel.

„Es sieht nicht aus, als ob er benutzt worden wäre,“ bemerkte der Advokat.

„Benutzt!“ wiederholte Poole, „Sehen Sie denn nicht, gnädiger Herr, dass er zerbrochen ist, als ob ihn jemand mutwillig zerstampft hätte?“

„Ja,“ fuhr Utterson fort, „und beide Bruchstellen sind ebenfalls verrostet.“ — Verdutzt sahen sich die beiden Männer an. „Das geht über meinen Verstand, Poole,“ sagte der Advokat, „lass uns in das Kabinett zurückgehen.“

Sie stiegen die Treppe wieder herauf und unterwarfen das Kabinett einer noch eingehenderen Prüfung, noch einmal einen entsetzten Blick auf den Toten werfend. Auf einem Tisch fanden sich noch Überreste einer chemischen Arbeit, mehrere Häufchen eines weißen Salzes lagen auf glänzenden Unterschälchen, wie für ein Experiment vorbereitet, das der unglückliche Mensch noch hatte vornehmen wollen.

„Das ist dieselbe Ware, die ich ihm immer gebracht habe,“ sagte Poole, und während er dies sagte, kochte der Kessel mit schreckenerregendem Geräusch über.

Dies führte sie an den Herd, an den ein Lehnstuhl ganz nah herangerückt war und wo die Sachen zum Tee bereitstanden, der Zucker sogar schon in der Tasse. Mehrere Bücher lagen auf dem Pult und eines lag offen auf dem Tisch. Utterson war verwundert, ein heiliges Werk, für welches Jekyll oftmals seine besondere Vorliebe ausgesprochen hatte zu finden, das aber in seiner eigenen Handschrift mit Randbemerkungen versehen war, die empörende Lästerungen enthielten.

Das nächste, was ihnen im Verlauf der Untersuchung in die Augen fiel, war der große Wandspiegel, in welchen sie mit Entsetzen blickten. Er war so gestellt, dass sie nur den rosigen Schein von den Dächern sowie das sich in den Glastüren der Schränke hundertfältig widerspiegelnde Feuer sahen.

„Dieser Spiegel hat wohl seltsame Dinge gesehen, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole.

„Und sicher nichts Seltsameres, als er selber ist,“ entgegnete der Advokat im selben Ton. „Denn was sollte Jekyll—“ er erschrak über dieses Wort, überwand aber seine Schwäche und setzte hinzu: „wozu kann Jekyll ihn benutzt haben?“

„Wer kann das wissen?“ sagte Poole.

Dann wandten sie sich zu dem Arbeitstisch. Zwischen den dort liegenden Papieren lag obenauf ein Schreiben, das in des Doktors Handschrift Mr. Uttersons Adresse trug. Der Advokat erbrach das Siegel und mehrere Einlagen fielen zur Erde. Das erste Blatt war ein Testament, in derselben absonderlichen Weise verfasst wie dasjenige, welches er ihm vor sechs Monaten wieder zurückgestellt hatte. Es sollte im Falle seines Todes als Testament gelten, im Falle seines Verschwindens als Geschenk. Nur statt des Namens Edward Hyde fand der Advokat zu seinem großen Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson gesetzt. Er blickte auf Poole, dann wieder auf das Papier, und zuletzt haftete sein Blick auf den toten Missetäter, der auf dem Teppich ausgestreckt lag.

„Mein Kopf ist mir ganz wirr,“ sagte er, „er hat es all diese Tage vor seinen Augen gehabt. Er hatte keinen Grund, mich zu mögen. Er hätte wütend sein müssen, seine Stelle durch einen anderen ausgefüllt zu sehen, und doch hat er das Testament nicht vernichtet.“

Dann nahm er das zweite Schreiben zur Hand. Es war eine kurze Notiz, und das Datum stand oben an.

„Oh, Poole,“ rief der Advokat, „er war heute noch hier und am Leben. Er kann nicht in einer so kurzen Zeit abgetan worden sein. Er muss noch leben, er muss entflohen sein! Und doch, weshalb entflohen? Und wohin? Und können wir in dem Falle unser Werk eingestehen? Oh, wir müssen vorsichtig sein. Ich fürchte, daß wir sonst noch Ihren Herrn in Unannehmlichkeiten verwickeln können.“

„Warum lesen Sie es nicht, gnädiger Herr?“ fragte Poole.

„Weil ich Befürchtungen hege,“ erwiderte der Advokat feierlich, „Gott gebe, daß ich keine Ursache dazu habe!“ Damit nahm er den Brief und las Folgendes:

„Mein lieber Utterson, wenn dies in deine Hände fällt, werde ich verschwunden sein, unter welchen Umständen kann ich nicht vorhersehen, aber mein Verstand und all die Nebenumstände meiner namenlosen Lage sagen mir, daß das Ende mir sicher und nahe ist. So gehe denn und lese erst Lanyon's Bericht, welchen er mir versprach, in deine Hände zu legen, und willst du mehr erfahren, dann lies die Berichte.

Deines unwürdigen und unglücklichen Freundes,

Henry Jekyll.“

„Es war doch noch ein drittes Schreiben da,“ fragte Utterson.

„Hier, gnädiger Herr,“ sagte Poole und reichte ihm ein ansehnliches, gesiegeltes Paket.

Der Advokat steckte es in die Tasche. „Ich sage nichts von diesen Papieren. Wenn Ihr Herr tot oder entflohen ist, wollen wir wenigstens seinen guten Namen retten. Es ist jetzt zehn Uhr, ich muss nach Hause gehen und die Dokumente in aller Ruhe durchlesen. Aber ich werde um Mitternacht wieder zurück sein, und dann wollen wir nach der Polizei schicken.“

Sie gingen fort und verschlossen hinter sich die Tür des Hörsaales. Utterson entfernte sich, die erstaunten Dienstboten noch am Feuer zurücklassend, um in seinem Arbeitszimmer diese beiden Berichte zu lesen, welche ihm jetzt das ganze Geheimnis aufklären sollten.