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Wunderbares Ereignis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 03

Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 03

Der Hausknecht erschien, als er gerufen wurde, doch sah er sehr bleich und erregt aus.

„Nimm dich zusammen, Bradshaw,“ sagte der Advokat, „dieser Verdacht liegt schwer auf Euch allen, aber es ist jetzt unsere Absicht, dem Dinge ein Ende zu machen. Poole und ich wollen uns den Eintritt in das Kabinett mit Gewalt erzwingen. Wenn alles in Ordnung ist, so sind meine Schultern breit genug, um die Verantwortung auf sich zu nehmen. Sollte indessen etwas vorgefallen sein oder der Missetäter durch die Hintertür versuchen, die Flucht zu ergreifen, so ist es zweckmäßig, daß du mit einem Gehilfen, bewaffnet mit guten Stöcken, um jene Ecke gehst und ihr Euren Posten bei der Tür des Laboratoriums einnehmt. Wir geben Euch zehn Minuten Zeit, um Eure Stellung zu besetzen.“

Als Bradshaw ging, sah der Advokat nach seiner Uhr. „Und nun, Poole, wollen wir an unsere Arbeit gehen,“ sagte er, das Schüreisen unter den Arm nehmend und das kleine Stück Gartenland überschreitend. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden und tiefes Dunkel trat ein. Der Wind kam nur stoßweise in jenen mit Gebäuden umschlossenen Raum und wehte die Flammen des Lichtes, das sie trugen, hin und her, bis sie in den großen Hörsaal traten, in welchem sie sich ruhig niederließen und warteten. In der Ferne hörten sie das Getöse der Stadt, und in der Nähe wurde die Stille nur durch hin- und hergehende Fußtritte im Kabinett unterbrochen.

„So ist es alle Tage, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole, „ach, und den größten Teil der Nacht ebenfalls. Nur wenn ein neues Mittel vom Chemiker kommt, tritt eine Unterbrechung ein. Es ist ein häßliches Gefühl, einen solchen Feind dort zu wissen. Mir ist es, als würde bei jedem seiner Schritte Blut vergossen. Aber horchen Sie nochmals, ein wenig näher, bitte — horchen Sie mit Herz und Ohren, und sagen Sie mir, ob das des Doktors Schritt ist?“

Die Schritte waren leicht und mit einem gewissen, sonderbaren Schwung, obgleich sie sich nur langsam weiter bewegten, waren sie doch sehr verschieden von Henry Jekylls schwerem, lautem Schritt. Utterson seufzte. „Hören Sie nie etwas anderes?“ fragte er.

Poole nickte. „Einmal,“ sagte er, „einmal hörte ich jenes Wesen weinen.“

„Weinen? Wie meinen Sie das?“ fragte der Advokat, voller Schrecken und Entsetzen.

„Es weinte wie eine Frau oder eine verlorene Seele,“ sagte der Diener. „Ich ging mit so schwerem Herzen davon, dass ich auch hätte weinen können.“

Doch nun war die Frist von zehn Minuten verstrichen. Poole holte die Axt hinter einem Bündel Stroh hervor, und das Licht wurde auf den nächsten Tisch gesetzt, um zu diesem Angriff zu leuchten. Mit verhaltenem Atem näherten sie sich der Stelle, wo die gleichmäßigen Schritte immer noch in der Stille der Nacht zu hören waren.

„Jekyll,“ rief Utterson mit lauter Stimme, „ich verlange, dich zu sehen.“ Er wartete einen Augenblick, aber da er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: „ich warne dich, unser Verdacht ist erregt, und ich will und werde dich sehen, wenn nicht im Guten, dann im Bösen, wenn nicht mit deiner Genehmigung, dann durch rohe Gewalt!“

„Utterson,“ sagte die Stimme, „um Gottes Willen, habe Barmherzigkeit!“

„Ah, das ist nicht Jekylls Stimme — es ist Hydes Stimme!,“ rief Utterson aus.

„Runter mit der Tür, Poole!“ Poole schwang die Axt über seine Schulter, der Streich erschütterte das Gebäude, und die rot bekleidete Tür schwankte in ihren Angeln. Ein Schrei der Angst und des Entsetzens wurde aus dem Kabinett hörbar. Wieder und wieder erdröhnte die Tür unter den Schlägen, aber das Holz war zäh und die Angeln gut gearbeitet. Erst beim fünften Schlag gaben die Schlösser nach, und die Tür fiel nach innen auf den Fußteppich.

Die Sieger entsetzten sich selber über ihren eigenen Aufruhr und die darauf folgende Stille. Sie standen einen Augenblick still und blickten hinein. Da lag das Kabinett vor ihren Augen, erhellt von einer ruhig brennenden Lampe, ein lustiges Feuer brannte und knisterte auf dem Herde, der Kessel summte seine eintönige Melodie, einige Schubladen standen offen, die Papiere auf dem Geschäftstisch waren geordnet und dicht bei dem Feuer standen die Sachen zur Bereitung des Tees. Wenn nicht die Glasschränke voller Chemikalien gewesen wären, würde man geneigt sein, es für das ruhigste, gemütlichste Zimmer zu halten. Doch mitten im Zimmer lag der Körper eines sich noch windenden und zuckenden Mannes. Sie näherten sich auf den Fußspitzen, kehrten ihn auf den Rücken und erblickten das Gesicht von Edward Hyde.

Seine Kleidungsstücke waren viel zu groß für ihn, sie waren für des Doktors Größe berechnet, die Züge seines Gesichts zuckten noch, aber das Leben war entflohen. Utterson erkannte durch die zerbrochene Phiole in seiner Hand und den starken Geruch von Blausäure, womit die Luft geschwängert war, dass er die Leiche eines Selbstmörders vor sich hatte.

„Wir sind sowohl zum Retten als zum Strafen zu spät gekommen. Hyde ist vor seinen Richter getreten, es bleibt uns nur noch übrig, die Leiche ihres Herrn zu suchen.“

Der bei weitem größte Teil des Gebäudes wurde durch den Hörsaal, der fast den ganzen Raum einnahm und durch Oberlichter erhält wurde, sowie durch das Kabinett, dessen Fenster auf den Hof hinaus sahen, ausgefüllt. Ein Gang verband den Hörsaal mit der Tür in der Nebenstraße, und mit dieser war das Kabinett durch eine zweite Treppe verbunden. Außerdem befanden sich noch einige kleine, dunkle Kabinette und ein geräumiger Keller dort. Alle diese Räume durchsuchten sie ganz genau, die Kabinette bedurften nur eines flüchtigen Überblicks, denn sie waren leer und staubig, da sie lange ungeöffnet geblieben waren. Der Keller war mit altem Gerümpel angefüllt, was noch von Jekylls Vorgänger, dem Chirurgen, stammte. Als sie diese Tür öffneten, überzeugten sie sich bald, dass jegliches weitere Suchen dort vergeblich sei, da die Spinngewebe, die jahrelang am Eingang gesessen hatten, ihnen entgegenfielen. Nirgends war eine Spur von Henry Jekyll zu entdecken, weder tot noch lebend.


Kapitel 8 - Die Letzte Nacht - 03 Chapter 8 - The Last Night - 03 Chapitre 8 - La dernière nuit - 03

Der Hausknecht erschien, als er gerufen wurde, doch sah er sehr bleich und erregt aus.

„Nimm dich zusammen, Bradshaw,“ sagte der Advokat, „dieser Verdacht liegt schwer auf Euch allen, aber es ist jetzt unsere Absicht, dem Dinge ein Ende zu machen. Poole und ich wollen uns den Eintritt in das Kabinett mit Gewalt erzwingen. Wenn alles in Ordnung ist, so sind meine Schultern breit genug, um die Verantwortung auf sich zu nehmen. Sollte indessen etwas vorgefallen sein oder der Missetäter durch die Hintertür versuchen, die Flucht zu ergreifen, so ist es zweckmäßig, daß du mit einem Gehilfen, bewaffnet mit guten Stöcken, um jene Ecke gehst und ihr Euren Posten bei der Tür des Laboratoriums einnehmt. Wir geben Euch zehn Minuten Zeit, um Eure Stellung zu besetzen.“

Als Bradshaw ging, sah der Advokat nach seiner Uhr. „Und nun, Poole, wollen wir an unsere Arbeit gehen,“ sagte er, das Schüreisen unter den Arm nehmend und das kleine Stück Gartenland überschreitend. Der Mond war hinter den Wolken verschwunden und tiefes Dunkel trat ein. Der Wind kam nur stoßweise in jenen mit Gebäuden umschlossenen Raum und wehte die Flammen des Lichtes, das sie trugen, hin und her, bis sie in den großen Hörsaal traten, in welchem sie sich ruhig niederließen und warteten. In der Ferne hörten sie das Getöse der Stadt, und in der Nähe wurde die Stille nur durch hin- und hergehende Fußtritte im Kabinett unterbrochen.

„So ist es alle Tage, gnädiger Herr,“ flüsterte Poole, „ach, und den größten Teil der Nacht ebenfalls. Nur wenn ein neues Mittel vom Chemiker kommt, tritt eine Unterbrechung ein. Es ist ein häßliches Gefühl, einen solchen Feind dort zu wissen. Mir ist es, als würde bei jedem seiner Schritte Blut vergossen. Aber horchen Sie nochmals, ein wenig näher, bitte — horchen Sie mit Herz und Ohren, und sagen Sie mir, ob das des Doktors Schritt ist?“

Die Schritte waren leicht und mit einem gewissen, sonderbaren Schwung, obgleich sie sich nur langsam weiter bewegten, waren sie doch sehr verschieden von Henry Jekylls schwerem, lautem Schritt. Utterson seufzte. „Hören Sie nie etwas anderes?“ fragte er.

Poole nickte. „Einmal,“ sagte er, „einmal hörte ich jenes Wesen weinen.“

„Weinen? Wie meinen Sie das?“ fragte der Advokat, voller Schrecken und Entsetzen.

„Es weinte wie eine Frau oder eine verlorene Seele,“ sagte der Diener. „Ich ging mit so schwerem Herzen davon, dass ich auch hätte weinen können.“

Doch nun war die Frist von zehn Minuten verstrichen. Poole holte die Axt hinter einem Bündel Stroh hervor, und das Licht wurde auf den nächsten Tisch gesetzt, um zu diesem Angriff zu leuchten. Mit verhaltenem Atem näherten sie sich der Stelle, wo die gleichmäßigen Schritte immer noch in der Stille der Nacht zu hören waren.

„Jekyll,“ rief Utterson mit lauter Stimme, „ich verlange, dich zu sehen.“ Er wartete einen Augenblick, aber da er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: „ich warne dich, unser Verdacht ist erregt, und ich will und werde dich sehen, wenn nicht im Guten, dann im Bösen, wenn nicht mit deiner Genehmigung, dann durch rohe Gewalt!“

„Utterson,“ sagte die Stimme, „um Gottes Willen, habe Barmherzigkeit!“

„Ah, das ist nicht Jekylls Stimme — es ist Hydes Stimme!,“ rief Utterson aus.

„Runter mit der Tür, Poole!“ Poole schwang die Axt über seine Schulter, der Streich erschütterte das Gebäude, und die rot bekleidete Tür schwankte in ihren Angeln. Ein Schrei der Angst und des Entsetzens wurde aus dem Kabinett hörbar. Wieder und wieder erdröhnte die Tür unter den Schlägen, aber das Holz war zäh und die Angeln gut gearbeitet. Erst beim fünften Schlag gaben die Schlösser nach, und die Tür fiel nach innen auf den Fußteppich.

Die Sieger entsetzten sich selber über ihren eigenen Aufruhr und die darauf folgende Stille. Sie standen einen Augenblick still und blickten hinein. Da lag das Kabinett vor ihren Augen, erhellt von einer ruhig brennenden Lampe, ein lustiges Feuer brannte und knisterte auf dem Herde, der Kessel summte seine eintönige Melodie, einige Schubladen standen offen, die Papiere auf dem Geschäftstisch waren geordnet und dicht bei dem Feuer standen die Sachen zur Bereitung des Tees. Wenn nicht die Glasschränke voller Chemikalien gewesen wären, würde man geneigt sein, es für das ruhigste, gemütlichste Zimmer zu halten. Doch mitten im Zimmer lag der Körper eines sich noch windenden und zuckenden Mannes. Sie näherten sich auf den Fußspitzen, kehrten ihn auf den Rücken und erblickten das Gesicht von Edward Hyde.

Seine Kleidungsstücke waren viel zu groß für ihn, sie waren für des Doktors Größe berechnet, die Züge seines Gesichts zuckten noch, aber das Leben war entflohen. Utterson erkannte durch die zerbrochene Phiole in seiner Hand und den starken Geruch von Blausäure, womit die Luft geschwängert war, dass er die Leiche eines Selbstmörders vor sich hatte.

„Wir sind sowohl zum Retten als zum Strafen zu spät gekommen. Hyde ist vor seinen Richter getreten, es bleibt uns nur noch übrig, die Leiche ihres Herrn zu suchen.“

Der bei weitem größte Teil des Gebäudes wurde durch den Hörsaal, der fast den ganzen Raum einnahm und durch Oberlichter erhält wurde, sowie durch das Kabinett, dessen Fenster auf den Hof hinaus sahen, ausgefüllt. Ein Gang verband den Hörsaal mit der Tür in der Nebenstraße, und mit dieser war das Kabinett durch eine zweite Treppe verbunden. Außerdem befanden sich noch einige kleine, dunkle Kabinette und ein geräumiger Keller dort. Alle diese Räume durchsuchten sie ganz genau, die Kabinette bedurften nur eines flüchtigen Überblicks, denn sie waren leer und staubig, da sie lange ungeöffnet geblieben waren. Der Keller war mit altem Gerümpel angefüllt, was noch von Jekylls Vorgänger, dem Chirurgen, stammte. Als sie diese Tür öffneten, überzeugten sie sich bald, dass jegliches weitere Suchen dort vergeblich sei, da die Spinngewebe, die jahrelang am Eingang gesessen hatten, ihnen entgegenfielen. Nirgends war eine Spur von Henry Jekyll zu entdecken, weder tot noch lebend.