Kapitel 1 – Geschichte der Tür - 01
Der Advokat Mr. Utterson war ein Mann von rauen Gesichtszügen, die selten durch ein Lächeln erhellt wurden. Er war kalt, im Gespräch karg und verlegen, mit seinen Gefühlsäußerungen hielt er sich sehr zurück. Sein Aussehen war finster, obwohl er eine gewisse Liebenswürdigkeit besaß. Bei freundschaftlichem Zusammensein und wenn der Wein nach seinem Geschmack war, leuchtete etwas außerordentlich Menschenfreundliches aus seinen Augen, in der Tat etwas, das er in seinem Gespräch nicht zum Ausdruck brachte, das aber dennoch sich in den stillen Zügen dieses Nachtischgesichts sich ausprägte und öfter noch laut durch die Taten seines Lebens bekundet wurde. Er war streng gegen sich selbst, trank Gin, wenn er allein war, um seinen Geschmack für Weingetränke zu ertöten, und obgleich das Theater seine Freude war, hatte er seit zwanzig Jahren mit keinem Fuß die Schwelle eines solchen überschritten. Dabei besaß er eine bewährte Toleranz für andere, mit Neid bewunderte er das hohe Maß von Geisteskraft, welches jene bei ihren Missetaten bewiesen. Bei Ausschreitungen war er eher geneigt zu helfen als anzuklagen. „Ich halte es mit Kains Ketzerei,“ pflegte er zu sagen, „ich lasse meinen Bruder seinen eigenen Weg zum Teufel gehen.“ Bei diesem Charakter hatte er häufig das Glück, die letzte achtbare Bekanntschaft und der letzte gute Einfluss in dem Leben, solcher heruntergekommenen Leute zu sein. Zu letzteren zeigte er, solange sie noch sein Haus betraten, keinen Schatten der Veränderung im Benehmen.
Dies war für Mr. Utterson ohne Zweifel eine leichte Kunst, da er sehr beliebt war, sogar seine Freundschaften schienen in einer ähnlichen Gutmütigkeit begründet zu sein. Das Zeichen eines bescheidenen Mannes, seinen Freundeskreis aus den Händen der Gelegenheit zu empfangen, war des Advokates Weise, seine Freunde bestanden in seinen Verwandten oder solchen Leuten, die er bereits lange Zeit kannte. Seine Neigungen glichen dem Efeu, einem Erzeugnis der Zeit, der nach und nach erst feste Wurzeln faßt. Solcher Art war zweifelsohne das Band, welches ihn mit Mr. Enfield, seinem entfernten Verwandten und wohl bekanntesten Manne der Stadt, verknüpfte. Es war für manche eine harte Nuss zum Knacken, was diese beiden aneinander fanden oder welche gemeinsame Interessen sie hatten. Leute, welche sie bei ihrem Sonntagsspaziergange trafen, sagten aus, daß sie kein Wort miteinander sprachen, immer finster aussahen und wenn ihnen ein Freund begegnete, diesen als eine Erlösung betrachteten. Trotzdem betrieben die beiden Männer diese Ausflüge mit dem größten Eifer, betrachteten sie als ihre größte Freude in der Woche und ließen nicht nur alle Vergnügungen im Stich, sondern kümmerten sich auch nicht um Geschäftsangelegenheiten.
Bei diesen Ausflügen gerieten sie in eine Nebenstraße eines belebten Londoner Stadtteils. Die Straße war schmal und verhältnismäßig ruhig, doch war an Wochentagen der Handel dort ein lebhafter. Die Einwohner waren anscheinend gut situiert, noch dabei auf bessere Lage spekulierend, legten sie kokett ihre Waren in das Schaufenster, daß diese gleich einer Reihe lächelnder Verkäuferinnen im höchsten Grade verlockend waren. Selbst an Sonntagen, wenn die Läden geschlossen waren und kein Verkehr in der Straße war, hob sie sich doch gleich einem Feuer im Walde von den Unbedeutenden der Nachbarschaft ab. Mit ihren frisch gemalten Fensterläden, den sauber polierten Messingschildern, der herrschenden Reinlichkeit und dem freundlichen Aussehen fiel sie den Spaziergängern gleich wohltuend in die Augen.
Zwei Häuser von der Ecke an der linken Seite wurde die Reihe durch einen Hofeingang unterbrochen, und gerade an dieser Stelle erstreckte ein geschmackloses Blockhaus seinen Giebel auf die Straße. Es hatte zwei Stockwerke, zeigte keine Fenster, nur eine Tür im unteren Stockwerk, das obere Bestand nur aus einem bemalten Mauerwerk, dessen Farben längst verblichen waren. Das Ganze trug in jeder Beziehung den Stempel vollkommener Vernachlässigung. Die Tür, weder mit einer Glocke noch mit einem Klopfer versehen, war voller Risse. In diesem Schlupfwinkel suchten Bettler ihre Zuflucht und wetteiferten um das Unterkommen, auf den Treppenstufen boten Kinder ihre Waren feil und in dem morschen Holz versuchten Schuljungen ihre Messer. Seit undenklichen Zeiten war aber niemand erschienen, um diese ungebetenen Gäste zu vertreiben oder ihrer Ausgelassenheit ein Ende zu machen.
Mr. Enfield und der Advokat gingen auf der anderen Seite der Straße, und als sie sich dem Eingange gegenüber befanden, erhob der Erstere seinen Stock, darauf hinweisend.
„Hast du jemals diese Tür bemerkt?“ fragte er, und als sein Begleiter es bejahte, setzte er hinzu, „sie erweckt in mir die Erinnerung einer sonderbaren Geschichte.“
„Wirklich?“ sagte Mr. Utterson mit leichtem Wechsel der Stimme, „und wie hängt das zusammen?“
„So höre: Es war dieser Weg,“ erwiderte Mr. Enfield, „es war gegen drei Uhr an einem dunklen Wintermorgen auf dem Nachhausewege von einem Orte, der am anderen Ende der Welt lag, und mein Weg führte mich durch einen Stadtteil, wo buchstäblich nur Lampen zu sehen waren. Ich ging Straße auf Straße, und alle Leute schliefen, Straße auf Straße, aber wie für eine Prozession erleuchtet, alles leer, wie in der Kirche. Ich geriet schließlich in einen Geisteszustand, wo der Mensch horcht und horcht und sich nach dem Anblick eines Konstablers zu sehnen beginnt. Plötzlich wurde ich zweier Gestalten gewahr, die eine war ein kleiner Mann, der vom Osten in schnellen Schritten daherkam, die andere ein Mädchen von ungefähr acht bis zehn Jahren, welche, so schnell es ihr möglich war, über die Straße lief. An der Ecke rannten nun die beiden aneinander. Darauf erfolgte der entsetzliche Teil dieser Sache, denn der Mann trat unbarmherzig auf das Kind und ließ es schreiend am Boden liegen. Es hörte sich nicht so schlimm an, aber es war schrecklich anzusehen. Der Mann gebärdete sich nicht wie ein Mensch, sondern wie eine wilde Tigerkatze. Ich stieß ein lautes „Hallo“ von mir, lief so schnell ich konnte, um den sauberen Herrn zu ergreifen und brachte ihn an den Ort der Tat zurück, wo sich bereits eine ganze Gruppe um das schreiende Kind gebildet hatte. Er war ganz ruhig dabei und setzte mir keinen Widerstand entgegen, warf mir aber einen so hässlichen Blick zu, dass mir der Schweiß ausbrach. Die herbeieilenden Leute bestanden zumeist aus den Angehörigen des Kindes, und bald darauf erschien auch der Arzt, nachdem die Kleine geschickt worden war. Nach der Aussage des Arztes Sawbones stand es mit dem Kind nicht so schlimm, es war nur durch die Angst so mitgenommen. Hiermit, denkst du wohl, wäre die Sache abgetan gewesen. Aber es war noch ein merkwürdiger Umstand dabei, den ich erzählen muss. Ich hatte gegen diesen Menschen vom ersten Augenblick einen Widerwillen, ebenso des Kindes Angehörige, was freilich kein Wunder war. Auffallend war jedoch das Doktors Benehmen. Er war ein trockener, geschickter Mediziner, nicht alt, nicht jung, mit starkem edinburgischen Dialekt, und so beweglich wie eine Sackpfeife.