Zweites Kapitel - Der Fluch der Baskervilles - 03
Doktor Mortimer faltete seine Zeitung zusammen und steckte sie wieder in die Tasche.
»Dies, Herr Holmes, sind die öffentlich feststehenden Tatsachen in Bezug auf den Tod Sir Charles Baskervilles.«
»Ich muß Ihnen meinen Dank aussprechen,« sagte Sherlock Holmes, »daß Sie meine Aufmerksamkeit auf einen Fall gelenkt haben, der sicherlich manche interessante Aspekte darbietet. Mir waren seinerzeit bereits einige Zeitungsartikel über diese Sache aufgefallen, aber gerade damals beschäftigte mich ganz außerordentlich der kleine Fall mit den vatikanischen Kameen, und in meinem Eifer, dem Papst gefällig zu sein, verlor ich die Fühlung mit verschiedenen interessanten englischen Fällen. Sie sagten doch, dieser Artikel enthalte alle öffentlich bekannten Tatsachen?«
»Ja.«
»Dann lassen Sie mich wissen, welches die geheimen Tatsachen sind.«
Damit lehnte Holmes sich zurück, faltete wieder seine Hände und nahm die unbeweglichen Gesichtszüge an, die bei ihm ein Zeichen waren, daß er seine ganze Urteilskraft anspannte. Dr. Mortimer war augenscheinlich von einer starken Erregung ergriffen; endlich sagte er:
»Ich will es tun; aber ich sage Ihnen damit etwas, was ich bisher keinem Menschen anvertraut habe. Ich habe es vor den Geschworenen der Leichenschau verschwiegen, – das tat ich, weil ein Mann der Wissenschaft davor zurückscheut, den Anschein zu erwecken, als ob er einen Volksaberglauben unterstützen wolle. Ferner hatte ich den Grund, daß, wie auch die Zeitung bemerkt, Baskerville Hall ganz gewiß keine neuen Bewohner erhalten würde, wenn der ohnehin schon grausige Ruf, worin das Haus steht, noch verschlimmert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich ein Recht zu haben, nicht alles zu sagen, was ich wußte; denn irgend ein Nutzen war dabei nicht zu erreichen. Aber Ihnen gegenüber habe ich keine Ursache, nicht vollständig offen zu sein.
»Das Moor ist sehr dünn besiedelt; die Nachbarn sind daher sehr aufeinander angewiesen. So verkehrte ich denn auch sehr viel mit Sir Charles Baskerville. Mit Ausnahme von Herrn Frankland auf Lafter Hall und einem Naturforscher, Herrn Stapleton, gibt es auf Meilen im Umkreis keine wissenschaftlich gebildeten Männer. Sir Charles suchte die Zurückgezogenheit; aber seine Krankheit brachte uns zusammen, und da wir gemeinsame wissenschaftliche Interessen hatten, so wurde unser Verkehr ein dauernder. Er hatte viele wissenschaftliche Kenntnisse aus Südafrika mitgebracht, und manchen köstlichen Abend verlebten wir zusammen in Gesprächen über die anatomischen Eigentümlichkeiten der Buschmänner und der Hottentotten.
»In den letzten Monaten verstärkte sich immer mehr meine Überzeugung, daß Sir Charles' Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren. Er nahm die Sage, die ich Ihnen vorlas, außerordentlich ernst; dies ging so weit, daß er unter keinen Umständen nachts das Moor betrat, obwohl es zu seinem eigenen Grund und Boden gehörte. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, Herr Holmes, aber er war allen Ernstes überzeugt, daß ein grausiges Verhängnis über seinem Geschlecht schwebte, und allerdings klang, was er von seinen Vorfahren zu erzählen wußte, nicht gerade ermutigend. Der Gedanke, von irgendwelchen bösen Geistern umgeben zu sein, verfolgte ihn beständig, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich nicht auf den nächtlichen Fahrten, die mein Beruf nötig machte, eine seltsame Erscheinung gesehen oder Hundegebell gehört hätte. Diese letztere Frage richtete er mehrmals an mich, und stets zitterte dabei seine Stimme vor Erregung.
»Eines Abends – ich erinnere mich des Vorfalls noch sehr gut; es war ungefähr drei Wochen vor dem traurigen Ereignis – fuhr ich bei seinem Haus vor. Er stand zufällig vor seiner Tür. Ich war von meinem Wagen abgestiegen und stand vor ihm; plötzlich sah ich, wie seine Augen in furchtbarstem Entsetzen über meine Schulter hinwegstarrten.
Ich drehte mich um und konnte gerade noch am Ende des Weges eine Gestalt bemerken, die ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so entsetzlich aufgeregt, daß ich zu der Stelle, wo das Tier gewesen war, hingehen und Umschau halten mußte. Es war jedoch verschwunden. Die Erscheinung hatte augenscheinlich einen sehr schlimmen Eindruck auf ihn gemacht. Ich blieb den ganzen Abend bei ihm, und bei dieser Gelegenheit gab er mir, um mir seine Aufregung zu erklären, die geschriebene Erzählung, die ich Ihnen vorhin vorlas. Ich erwähne diesen kleinen Vorfall, weil er durch die darauffolgende Tragödie eine gewisse Bedeutung gewonnen hat; aber damals war ich überzeugt, die Erscheinung würde eine sehr natürliche Ursache haben, und seine Aufregung sei völlig unbegründet.
»Zu der Reise nach London entschloß Sir Charles sich auf mein Anraten. Ich kannte seinen gefährlichen Herzfehler; die beständige Aufregung, in der er lebte, griff offenbar in ernstlicher Weise seine Gesundheit an, mochten es auch reine Hirngespinste sein. Ich dachte, ein paar Monate unter den Zerstreuungen der Großstadt würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Stapleton, der sich ebenfalls große Sorge um Sir Charles' Gesundheit machte, teilte meine Ansicht. Im letzten Augenblick vor der Reise trat das traurige Ereignis ein.
»In der Todesnacht schickte Barrymore, der den Leichnam auffand, den Stallknecht Perkins als reitenden Boten zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch auf war, so war es mir möglich, binnen einer Stunde nach Barrymores Entdeckung auf Baskerville Hall einzutreffen. Ich stellte alle bei der Untersuchung vorgebrachten Einzelheiten fest. Ich verfolgte die Fußspuren in der Taxusallee, ich sah die Stelle an der Moorpforte, wo er gewartet zu haben schien, ich bemerkte die Veränderung der Fußspuren von jener Stelle an, ich stellte fest, daß auf dem weichen Boden keine anderen Spuren vorhanden waren als die von Barrymore hinterlassenen. Endlich untersuchte ich sorgfältig den Leichnam, der bis zu meiner Ankunft unberührt liegen geblieben war. Sir Charles lag mit dem Gesicht nach unten, die Finger in das Erdreich eingekrallt, und seine Züge waren von einer ungeheuren Erregung so furchtbar verzerrt, daß ich kaum darauf hätte schwören können, es sei wirklich mein Freund. Ganz bestimmt war keine körperliche Verletzung irgend welcher Art vorhanden. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore vor der Jury gemacht. Er behauptete, es seien auf dem Boden in der Nähe der Leiche keine Spuren vorhanden gewesen. Er bemerkte allerdings keine. Aber ich sah welche – ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«
»Fußspuren?«
»Fußspuren.«
»Von einem Mann oder von einer Frau?«
Dr. Mortimer sah uns einen Augenblick lang mit sonderbarem Ausdruck an; dann sagte er leise, fast flüsternd:
»Herr Holmes, es waren die Spuren eines riesengroßen Hundes.«