Vierzehntes Kapitel - Der Hund der Baskervilles - 04
Aber mehr sollten wir über Stapletons Schicksal überhaupt nicht erfahren. Wir waren nur auf Vermutungen angewiesen, Gewißheit erlangten wir nicht. Wir konnten nicht erwarten, Fußspuren im Sumpf zu finden, denn jede Höhlung wurde sofort von dem aus der Tiefe aufsteigenden Morastwasser ausgefüllt und war in wenigen Augenblicken wieder der Oberfläche gleichgemacht. Aber als wir endlich auf festeren Grund kamen, sahen wir uns alle drei eifrig suchend und erwartungsvoll nach Spuren um. Wir fanden keine. Wenn der spurenlose Erdboden uns die Wahrheit sagte, so hat Stapleton niemals die Rettungsinsel im Sumpf erreicht, nach der er sich durch Nacht und Nebel hinzutasten versuchte. Irgendwo mitten im großen Grimpener Sumpf, tief in den Morast hinuntergezogen, liegt für immer der Mann mit dem kältesten Mörderherzen begraben.
Daß er auf dem morastumgürteten Eiland oft geweilt haben mußte, ergab sich aus mancherlei Anzeichen. Von der verlassenen Zinngrube war noch ein großes Triebrad und ein halb zugeschütteter Schacht übrig. Daneben standen verfallende Mauerreste von den Hütten der Bergleute, die ohne Zweifel von den Fieberdünsten des Sumpfes vertrieben worden waren. In einer dieser Hütten hatte das wilde Tier gehaust, das Stapleton zu seinem Verbündeten ausersehen hatte. Wir fanden seine Kette und einen großen Haufen abgenagter Knochen. In einer Ecke lag eine Dose, die eine leuchtende Masse enthielt, ohne Zweifel das Phosphorpräparat, das dem schlauen Schurken dazu gedient hatte, aus seinem Hund einen Höllenhund zu machen.
»Und nun,« sagte Holmes, »wo wir alle Ecken und Winkel durchsucht haben, können wir sagen, daß der Fall kaum noch ein unaufgeklärtes Geheimnis enthält.«
»Hm,« antwortete ich, »immerhin haben wir über Stapletons Persönlichkeit doch nur Vermutungen. War er wirklich ein Baskerville? Das wird wohl kein Mensch je erfahren, und damit bleibt auch der Beweggrund des Verbrechens für immer im Bereich der bloßen Mutmaßungen.«
»O nein, mein lieber Watson, der Beweggrund ist völlig klar. Stapleton war ein Baskerville. Du weißt, ich hatte heute früh eine kleine Unterredung mit seiner armen Frau, und wenige Fragen genügten, um in dieser Hinsicht alles aufzuklären. Er war ein Sohn des jüngeren Bruders von Sir Charles, Roger Baskerville, der infolge anrüchiger Geschichten nach Südamerika hatte fliehen müssen. Es hieß, er sei dort unverheiratet gestorben. Das war aber ein Irrtum. Er hatte geheiratet, und dieser ihr entstammte ein Sohn, der, wie sein Vater, Roger hieß. Es ist unser Verbrecher. Dieser heiratete eines der schönsten Mädchen von Costa Rica, Beryl García. Nachdem er eine bedeutende Summe Geldes veruntreut hatte, floh er mit seiner Frau nach England, wo er unter dem Namen Bandeleur eine Schule in Yorkshire hielt. Bald fand er es aber angezeigt, seinen Namen abermals zu ändern, und er kam als Stapleton mit den Resten seines Vermögens und seinen Zukunftsplänen nach Südengland.
Offenbar hatte er sich nach den Verhältnissen seiner Familie erkundigt und natürlich bald herausgefunden, dass nur zwei Männer zwischen ihm und einer großen Erbschaft standen. Vielleicht hat er sogar im Anfang von dem Vorhandensein des jetzigen Baronets gar nichts gewußt, sondern geglaubt, er habe es nur mit Sir Charles zu tun. Als er nach Devonshire kam, waren überhaupt seine Pläne, glaube ich, noch ausordentlich unbestimmt. Aber daß er von Anfang an auf Böses san, geht daraus hervor, daß er seine Frau für seine Schwester ausgab. Offenbar gedachte er, sie als Lockvogel zu benutzen, wenn er auch noch nicht wußte, in welcher Weise dies geschehen könnte. Zunächst ließ er sich möglichst nahe bei dem Hause seiner Väter nieder, als dann trug er Sorge, mit Sir Charles und den anderen Nachbarn in ein freundschaftliches Verhältnis zu treten. Der Baronet erzählte ihm von dem Familienhund und sprach sich damit selber das Todesurteil.
Nachdem Stapleton einmal seinen bestimmten Plan gefaßt hatte, führte er ihn mit außerordentlicher Schlauheit durch. Auf den zur Bereicherung seiner Schmetterlingssammlung unternommenen Streifzügen hatte er das Moor in allen Richtungen kennengelernt. Er hatte den Weg nach dieser alten Zinngrube gefunden und hatte damit das unumgänglich nötige Versteck für seinen grimmigen Hund, den er sich in London gekauft und in dunkler Nacht von einer entfernten Bahnstation hierher gebracht hatte. Er wartete nun seine Gelegenheit ab, aber diese wollte nicht kommen. Er hatte gehofft, seine Frau würde bereit sein, Sir Charles ins Verderben zu locken, aber hier stieß er auf einen unerwarteten Widerstand. Wie er schließlich durch Benutzung seiner Freundin, Frau Laura Lyons, seinen Zweck erreichte, wissen sie bereits. Aber beide Frauen, die er in sein Spiel gezogen hatte, Frau Stapleton und Frau Lyons, hatten einen bösen Verdacht gegen ihn gefasst. Seine Frau kannte seine Zukunftspläne und wusste außerdem um die Anwesenheit des Hundes. Frau Lyons wusste von diesen beiden Umständen nichts, aber es hatte einen starken Eindruck auf sie gemacht, dass der Baronet gerade zu der Stunde gestorben war, wo sie eine Zusammenkunft mit ihm haben sollte, und dass sie auf Stapletons ausdrücklichen Wunsch dieser Zusammenkunft hatte fernbleiben müssen. Indessen beide Frauen standen unter dem Einfluß seines starken Willens, und er hatte von ihnen nichts zu fürchten. Die erste Hälfte seiner Aufgabe war erfüllt, aber der schwierigere, zweite Teil blieb noch zu tun.
Wenn Stapleton von dem vorhanden sein, das in Kanada lebenden Erben nichts gewußt hatte, so mußte er es jedenfalls sehr bald von Dr. Mortimer erfahren, und von diesem hörte er denn auch jede Einzelheit über die bevorstehende Ankunft Sir Henrys. Zunächst dachte er nun, der junge Fremde aus Kanada könnte vielleicht in London ins Jenseits befördert werden, ehe er überhaupt nach Devonshire käme. Gegen seine Frau hegte er Misstrauen, seitdem sie sich geweigert hatte, ihm in seinem Anschlag gegen den alten Baronet beizustehen, er wagte deshalb nicht, sie für längere Zeit aus den Augen zu lassen, weil er seinen Einfluß auf sie zu verlieren fürchtete. Deshalb nahm er sie mit nach London. Sie wohnten dort im Maxborough Hotel in Traven Street, einem von den Gasthöfen, deren Papierkörbe ich durch Cartwright durchsuchen ließ. Wie du weißt, war die Nachforschung vergeblich. Hier schloss er seine Frau in ihr Zimmer ein, während er selbst, unter der Verkleidung eines falschen Bartes, dem Dr. Mortimer auf seinen Gängen nach meiner Wohnung und später nach dem Bahnhof und dem Northumberland Hotel unbemerkt folgte.
Seine Frau hatte eine ziemlich bestimmte Ahnung, mit welchen Plänen er sich trüge, aber sie hatte zugleich auch, und zwar infolge brutaler Mißhandlungen, eine solche Angst vor ihrem Mann, daß sie es nicht wagte, dem in Gefahr schwebenden ahnungslosen Baronet ein Warnungszeichen zu geben. Wäre der Brief in Stapletons Hände gefallen, so wäre sie selber ihres Lebens nicht mehr sicher gewesen. Schließlich fiel ihr, wie wir wissen, ein Aushilfsmittel ein. Sie schnitt die Worte ihrer Warnung aus einer Zeitung aus und adressierte den Brief mit verstellter Handschrift. Der Baronet erhielt ihn und damit zugleich die erste Warnung vor der Gefahr.