Viertes Kapitel - Sir Henry Baskerville - 02
Dr. Mortimer sah Holmes mit einem ärztlich prüfenden Blick an, und Sir Henry Baskerville richtete ganz verblüfft seine dunklen Augen auf mich und sagte: »Ich verstehe nicht viel vom Zolltarif und solchem Zeug; aber mir scheint, wir sind in Bezug auf meinen Brief ein bißchen von der Spur abgekommen.«
»Im Gegenteil, ich bin der Meinung, wir sind ganz besonders scharf auf der Spur. Watson hier weiß besser mit meinen Methoden Bescheid als Sie; aber ich fürchte, auch er hat die Bedeutung des Zeitungsartikels nicht ganz begriffen.«
»Nein, ich gestehe, daß ich keinen Zusammenhang entdecken kann.«
»Und doch, mein lieber Watson, ist eine sehr nahe Beziehung vorhanden, denn der Brief ist aus dem Zeitungsartikel herausgeschnitten: ›wenn – Wert – so bleiben – dem – Leben oder – Verstand – auf – legen.‹ Sehen Sie jetzt, woher diese Worte stammen?«
»Donnerwetter, Sie haben recht. Na, das nenne ich aber Scharfsinnigkeit!« rief Sir Henry.
»Wenn überhaupt noch Zweifel bestünden, so würden sie durch die Tatsache widerlegt, daß ›so bleiben‹ und ›Leben oder‹ in einem Stück ausgeschnitten sind.«
»Wahrhaftig, ja, so ist es.«
»Wirklich, Herr Holmes, das geht weit über mein Begriffsvermögen hinaus,« sagte Dr. Mortimer mit einem erstaunten Blick auf meinen Freund. »Ich könnte verstehen, wenn mir jemand sagte, die Wörter seien aus einer Zeitung; aber daß Sie den Namen dieser Zeitung nennen und hinzufügen, die Stelle befände sich im Leitartikel, das ist sicherlich eins der merkwürdigsten Dinge, die mir je begegnet sind. Wie haben Sie das angefangen?«
»Ich vermute, Herr Doktor, Sie könnten auf den ersten Blick den Schädel eines Negers von dem eines Eskimos unterscheiden?«
»Natürlich!«
»Aber wie kommt das?«
»Weil das mein besonderes Steckenpferd ist. Die Unterschiede sind augenfällig. Die Erhöhung über den Augenhöhlungen, der Gesichtswinkel, die Krümmung der Kinnbacken, der …«
»Nun, dies hier ist mein besonderes Steckenpferd, und die Unterschiede sind ebenfalls augenfällig. Für meine Augen ist zwischen der durchschossenen Borgis eines Leitartikels der ›Times‹ und der unsauberen Schrift eines Halfpenny-Abendblattes ebensoviel Unterschied wie für Sie zwischen einem Neger- und einem Eskimoschädel. Die Unterscheidung der verschiedenen Drucktypen gehört zu den Anfangsgründen für einen wissenschaftlich denkenden Sachverständigen; ich muß jedoch zugeben, daß ich in meiner ganz frühen Jugend einmal den ›Leeds Mercury‹ mit den ›Western Morning News‹ verwechselt habe. Aber ein ›Times‹-Leitartikel ist gar nicht zu verkennen; diese Wörter konnten keiner anderen Zeitung entnommen sein. Weil der Brief gestern angefertigt wurde, sprach eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir die Wörter in der gestrigen Nummer finden würden.«
»So weit ich Ihnen folgen kann, Herr Holmes,« bemerkte Sir Henry Baskerville, »hat jemand diese Wörter mit einer Schere …«
»Mit einer Nagelschere ausgeschnitten, ja. Wie Sie sehen können, war es eine Schere mit sehr kurzer Klinge, denn es war für die Wörter: ›so bleiben‹ ein zweimaliges Zuschneiden nötig.«
»Richtig. Es schnitt also jemand den Text des Briefes mit einer kurzklingigen Schere aus, klebte ihn mit Kleister …«
»Mit Gummi,« sagte Holmes.
»Mit Gummi auf das Papier. Aber ich möchte wissen, warum dann das Wort ›Moor‹ geschrieben ist?«
»Weil er das Wort nicht gedruckt finden konnte. Die anderen Wörter sind alle einfach und würden sich in jeder Zeitungsnummer finden lassen, aber das Wort ›Moor‹ ist weniger gewöhnlich.«
»Das ist allerdings eine gute Erklärung. Haben Sie sonst etwas aus dem Brief herausgelesen, Herr Holmes?«
»Es sind ein paar Andeutungen darin, obgleich der Absender sich die allergrößte Mühe gegeben hat, alle verräterischen Spuren zu verwischen. Die Adresse ist, wie Sie sehen, mit unbeholfen geformten Buchstaben geschrieben. Aber die ›Times‹ ist ein Blatt, das man kaum je in anderen Händen als in denen gebildeter Leute findet. Wir können daher annehmen, daß der Brief von einem gebildeten Mann verfertigt wurde, der den Anschein erwecken wollte, als gehöre der Absender den ungebildeten Klassen an, und dieses Bemühen, die Handschrift zu verstellen, legt den Schluß nahe, das der Schreiber Ihnen bekannt ist oder von Ihnen erkannt werden könnte. Ferner werden Sie bemerken, daß die Wörter nicht in einer geraden Linie aneinander geklebt sind, sondern daß einige von ihnen viel höher stehen als andere. ›Leben oder‹ zum Beispiel steht ganz außerhalb der Reihe. Das kann entweder auf Unachtsamkeit des Ausschneidenden hindeuten, oder es mag davon gekommen sein, daß dieser aufgeregt und in Eile war. Im großen und ganzen neige ich der letzten Annahme zu, denn die Anfertigung eines solchen Briefes war offenbar eine wichtige Sache, und es ist unwahrscheinlich, daß der Verfertiger dabei unachtsam gewesen sein soll. War er aber in Eile, so leitet dieser Umstand zu der interessanten Frage, warum er in Eile war; denn jeder Brief, der bis zu den frühen Morgenstunden auf die Post gegeben wurde, mußte in Sir Henrys Hände kommen, bevor er das Hotel verließ. Fürchtete der Verfertiger eine Unterbrechung – und von wem?«
»Wir kommen jetzt ziemlich weit in das Gebiet der Mutmaßungen hinein.« sagte Dr. Mortimer.
»Sagen Sie lieber: in das Gebiet, wo wir die verschiedenen Möglichkeiten gegen einander abwägen und uns für die wahrscheinlichste entscheiden. Wir nutzen unsere Einbildungskraft wissenschaftlich, jedoch haben wir in diesem Fall immerhin eine tatsächliche Grundlage für unsere Spekulationen. Sie werden freilich ohne Zweifel denken, ich verlege mich aufs Raten, aber ich bin fast ganz sicher, daß diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Wie in aller Welt können Sie das sagen?«
»Wenn Sie den Umschlag sorgfältig prüfen, so werden Sie bemerken, daß dem Schreiber sowohl Tinte als auch Feder Schwierigkeiten gemacht haben. Die Feder hat zweimal in einem einzigen Wort gespritzt, und die Tinte ist beim Schreiben der kurzen Adresse nicht weniger als dreimal ausgegangen, ein Beweis, daß sehr wenig im Tintenfaß gewesen sein muß. In einem Privathaus läßt man es selten dahin kommen, daß Feder oder Tinte sich in solchem Zustand befindet, und daß gar beide zusammen so vorgefunden werden, kommt gewiß kaum jemals vor. Dagegen kennen Sie wohl die Tinte und Federn, die man in Gasthöfen findet; diese sind fast immer abscheulich. Ja, ich sage ohne Bedenken: könnten wir die Papierkörbe der Gasthöfe in der Nähe von Charing-Cross durchsuchen, bis wir die Überreste des zerschnittenen ›Times‹-Artikels fänden, so könnten wir die Hand auf die Person legen, die diesen eigenartigen Brief abgeschickt hat … Hallo, hallo, was ist das?«
Er prüfte den Bogen mit den aufgeklebten Wörtern noch einmal sorgfältig, indem er ihn ganz nahe vor die Augen hielt.
»Nun?«
»Nichts,« sagte er, das Blatt hinlegend. »Es ist ein gewöhnlicher unbeschriebener halber Bogen; nicht einmal ein Wasserzeichen ist darin. Ich denke, wir haben aus dem sonderbaren Brief so viele Anhaltspunkte gewonnen, wie überhaupt möglich ist … Und nun, Sir Henry, noch eine Frage: Ist Ihnen sonst irgend etwas Erwähnenswertes begegnet, seitdem Sie in London sind?«
»Nein, wirklich nicht, Herr Holmes. Ich glaube nicht.«
»Sie haben niemand bemerkt, der Sie beobachtet hat oder Ihnen nachgegangen ist?«
»Ich scheine ja richtig mitten in einen Groschenroman hineingeraten zu sein,« bemerkte unser Besucher. »Warum, zum Kuckuck, sollte mir irgend jemand nachgehen oder mich beobachten?«
»Auf diesen Punkt kommen wir noch. Sie haben also nichts anderes zu berichten, bevor wir uns mit der Sache selbst beschäftigen?«
»Hm, es kommt darauf an, was nach Ihrer Meinung des Berichtens wert ist.«
»Alles, was von dem gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abweicht, sollte nach meiner Ansicht erwähnt werden.«
Sir Henry lächelte und sagte:
»Ich kenne bis jetzt noch nicht viel von dem Leben in England, denn ich bin seit meiner frühesten Jugend in den Vereinigten Staaten und in Kanada gewesen. Aber hoffentlich wird es hier nicht als alltäglich angesehen, wenn man einen von seinen Stiefeln verliert.«
»Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Mein lieber Herr!« rief Dr. Mortimer. »Er ist bloß verlegt. Sie werden ihn vorfinden, wenn Sie wieder ins Hotel kommen. Was hat es für einen Zweck, Herrn Holmes mit solchen Lappalien zu behelligen?«
»Er wollte ja alles erfahren, was vom gewöhnlichen Gang des Alltagslebens abweicht.«
»Ganz recht,« sagte Holmes, »mag der Vorfall auch noch so unwichtig erscheinen. Also Sie sagen, Sie haben einen von Ihren Stiefeln verloren?«
»Oder ihn verlegt, meinetwegen. Ich stellte sie gestern abend beide vor meine Tür, und heute morgen war bloß noch einer da. Aus dem Jungen, der sie zu putzen hatte, war kein gescheites Wort herauszubringen. Am meisten ärgert mich dabei, daß ich die Stiefel erst gestern abend am Strand gekauft und noch gar nicht getragen hatte.«
»Wenn Sie sie noch gar nicht angehabt hatten, warum stellten Sie sie dann zum Reinigen vor die Thür?«
»Es waren braune Schuhe, und sie waren noch nicht gefirnißt. Darum stellte ich sie hinaus.«
»Sie gingen also gestern sofort nach Ihrem Eintreffen in London aus und kauften ein Paar Schuhe?«
»Ich machte überhaupt eine ziemliche Menge Einkäufe. Dr. Mortimer begleitete mich dabei. Wissen Sie, da ich nun ein mal da hinten in Dingsda den Großgrundbesitzer spielen soll, so muß ich mich wohl ein bißchen fein machen, und ich bin vielleicht im fernen Westen etwas nachlässig in meinem Anzug geworden. Außer anderen Sachen kaufte ich die braunen Schuhe – gab sechs Dollar dafür – und einer davon wird mir gestohlen, ehe ich sie überhaupt nur an den Füßen gehabt habe.«
»Ein einzelner Schuh ist doch ein recht ungeeigneter Gegenstand für einen Dieb,« sagte Sherlock Holmes. »Ich gestehe, ich teile Dr. Mortimers Ansicht und glaube, daß sich binnen kurzem der verlorene Schuh wieder einfinden wird.«
»Und nun, meine Herren,« sagte der Baronet in bestimmtem Ton, »habe ich, wie mir scheint, von dem bißchen, was ich weiß, genug gesprochen. Es ist Zeit, daß Sie Ihr Versprechen erfüllen und mir eine ausführliche Auskunft über all diese rätselhaften Vorgänge geben.«
»Ihr Wunsch ist sehr berechtigt,« antwortete Holmes. »Herr Doktor, ich glaube, Sie könnten nichts Besseres tun, als Ihrem Freund die Geschichte in derselben Weise zu erzählen, wie Sie sie uns vortrugen.«