Sechstes Kapitel - Baskerville Hall - 03
Ein großer Mann war aus dem Dunkel des Portals hervorgetreten, um den Schlag des Wagens zu öffnen. Die Gestalt einer Frau hob sich vor dem gelben Licht der Halle ab. Sie trat heraus und half dem Mann, unsere Reisetaschen vom Wagen zu nehmen.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich gleich zu meinem Haus weiterfahre, Sir Henry?« fragte Dr. Mortimer. »Meine Frau erwartet mich.«
»Aber Sie bleiben doch, um ein paar Bissen mit uns zu essen?«
»Nein, ich muß gehen. Wahrscheinlich werde ich allerlei Arbeit vorfinden. Ich würde sonst bleiben, um Ihnen das Haus zu zeigen, aber Barrymore wird ein besserer Führer sein als ich. Leben Sie wohl, und schicken Sie unbedenklich bei Tag oder bei Nacht zu mir, wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann.«
Das Rasseln der Räder verhallte auf der Straße, während Sir Henry und ich die Halle betraten. Mit dumpfem Schlag fiel die Tür hinter uns zu. Wir befanden uns in einem schönen, weiten, hohen Raum mit einer schweren Decke aus altersgeschwärzten Eichenbalken. In dem großen altertümlichen Kamin prasselte und knisterte auf hohen eisernen Feuerböcken ein Holzfeuer. Sir Henry und ich streckten unsere Hände darüber aus, denn die lange Fahrt hatte uns völlig durchkältet. Dann sahen wir uns um: ein hohes schmales Fenster mit altem bunten Glas, eichenes Wandgetäfel, an den Wänden Hirschgeweihe und Wappenschilder, und dies alles trübe und dämmerig im gedämpften Licht der in der Mitte des Raumes herabhängenden Lampe.
»Gerade so ist's, wie ich's mir vorgestellt hatte.« rief Sir Henry. »Ist es nicht wie ein typisches Gemälde von einem alten Familiensitz? Wenn ich denke, daß dies die Halle ist, worin fünf Jahrhunderte lang meine Vorfahren gelebt haben. Mich stimmt's ganz feierlich.«
Ich sah, wie jugendliche Begeisterung sein dunkles Gesicht erhellte, als er sich so umsah. Er stand im vollen Schein des Lichtes, aber lange Schatten bedeckten die Wände und hingen wie ein schwarzes Gewölbe über ihm.
Barrymore war wieder eingetreten, nachdem er das Gepäck auf unsere Zimmer befördert hatte. Er stand jetzt in der unterwürfigen Haltung eines gut erzogenen Dieners vor uns. Ein auffallend hübscher Mann, groß, stattlich, mit einem breit abgeschnittenen Kinnbart und blassen, edel geformten Zügen.
»Wünschen Sie, daß das Essen sofort aufgetragen wird, Herr?«
»Ist es fertig?«
»In ein paar Minuten, Herr. Warmes Wasser finden Sie in Ihren Zimmern. Meine Frau und ich werden glücklich sein, Sir Henry, bei Ihnen zu bleiben, bis Sie Ihre Anordnungen getroffen haben, aber Sie werden begreifen, daß der Haushalt unter den neuen Verhältnissen eine beträchtliche Dienerschaft erfordern wird.«
»Was für neue Verhältnisse meinen Sie?«
»Ich wollte nur sagen, Herr, daß Sir Charles sehr zurückgezogen lebte und daß wir ausreichten, um seine Ansprüche zu befriedigen. Sie werden natürlich größere Gesellschaft um sich haben, und deshalb werden Sie auch Veränderungen im Haushalt treffen müssen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie und Ihre Frau gehen wollen?«
»Nur, wenn es Ihnen völlig genehm ist, Herr.«
»Aber Ihre Familie ist doch mehrere Generationen hindurch bei uns gewesen, nicht wahr? Es sollte mir leid tun, wenn ich meine Niederlassung an diesem Ort damit beginnen müßte, eine solch alte Verbindung zu lösen.«
Es kam mir vor, als nähme ich auf dem blassen Gesicht des Kammerdieners einige Anzeichen von Rührung wahr.
»Ich habe dasselbe Gefühl, Herr, und meine Frau auch,« antwortete dieser. »Aber um die Wahrheit zu sagen, Herr, wir haben beide an Sir Charles gehangen; sein Tod ging uns sehr nahe, und seitdem weckt diese Umgebung nur noch schmerzvolle Erinnerungen in uns. Ich fürchte, wir werden, so lange wir auf Baskerville Hall sind, niemals unser frohes Gemüt wiederfinden.«
»Aber was haben Sie denn vor?«
»Ich zweifle nicht, Herr, daß es uns gelingen wird, irgend ein Geschäft zu eröffnen. Sir Charles' Freigiebigkeit hat uns die Mittel verschafft. Und nun, meine Herren, ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen Ihre Zimmer zeige.«
Eine breite, von Balustraden eingefaßte Galerie lief dicht unter der Decke um die Halle herum; eine Doppeltreppe führte zu ihr hinauf. Von diesem Mittelpunkt aus erstreckten sich zwei lange Korridore, die die Türen zu allen Schlafzimmern enthielten, über die ganze Länge des Gebäudes hin. Mein Zimmer lag im selben Flügel wie das Sir Henrys, beinahe Tür an Tür. Diese Zimmer waren augenscheinlich viel moderner als der Mittelbau des Schlosses, und ihre hellen Tapeten sowie zahlreiche brennende Kerzen taten das ihre, um den düsteren Eindruck zu verscheuchen, der sich bei unserer Ankunft meines Geistes bemächtigt hatte.
Aber der Speisesaal, in den man von der Halle aus gelangte, war wieder trübselig und düster. Ein langes Zimmer mit einem erhöhten Ende, wo die Familie gespeist hatte; eine Stufe führte zu dem für die Dienstleute bestimmten niedrigeren Teil des Raumes. An einem Ende befand sich in halber Höhe eine Galerie, von wo aus die Barden ihre Vorträge gehalten hatten. Altersgeschwärzte Balken zogen sich über unseren Häuptern unter der rauchdunklen Decke hin. Von brennenden Fackeln erhellt, von den bunten Farben und der derben Heiterkeit eines mittelalterlichen Gelages erfüllt, mochte der Saal nicht so übel ausgesehen haben. Nun aber saßen in dem riesigen Raum nur zwei schwarzbefrackte Herren in dem kleinen Lichtkreis, der vom Schirm der Tischlampe begrenzt wurde, und da sank die Stimme zum Flüstern herab, und die Stimmung wurde melancholisch. Eine Reihe von Ahnenbildern in allen möglichen Trachten, vom Ritter der Elisabethischen Heldenzeit bis zum Dandy aus den Kreisen des Prinzregenten, starrten in der Halbdämmerung auf uns hernieder und bedrückten uns durch ihre schweigende Gesellschaft. Wir sprachen wenig, und ich für mein Teil war herzlich froh, als das Essen vorüber war und wir uns in das modern eingerichtete Billardzimmer zurückziehen konnten, um eine Zigarette zu rauchen.
»Es ist wahrlich kein sehr heiteres Haus,« begann Sir Henry. »Ich glaube wohl, daß man sich allmählich eingewöhnen kann, aber augenblicklich komme ich mir noch ein bißchen verwirrt vor. Ich wundere mich nicht, daß mein Onkel ein wenig absonderlich wurde, wenn er ganz allein in solch einem Haus wohnte … Doch wenn es Ihnen recht ist, wollen wir heute früh zu Bett gehen; vielleicht sieht das Ganze im Morgenlicht doch heiterer aus.«
Ich zog, bevor ich mich zu Bett legte, die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster. Es ging auf den Rasenplatz vor dem Haupteingang. Im Hintergrund rauschten zwei Baumgruppen und wiegten sich im Nachtwind. Der Halbmond trat durch die Lücken der eilig ziehenden Wolken. In seinem kalten Licht sah ich hinter den Bäumen zackige Felsklippen und den langen niedrigen Bogen des melancholischen Moores. Ich zog die Vorhänge wieder zu; dieser letzte Eindruck paßte zu meiner bereits vorhandenen Stimmung.
Und doch war es noch nicht der allerletzte Eindruck. Ich war ermüdet und konnte trotzdem nicht einschlafen; unruhig warf ich mich von einer Seite auf die andere und suchte den Schlaf, der nicht kommen wollte. In der Ferne schlug jede Viertelstunde eine Glocke, sonst lag Totenstille über dem Haus. Dann plötzlich, in dem tiefen Grabesschweigen der Nacht, klang ein Laut an mein Ohr – ein heller, deutlicher, unverkennbarer Ton. Es war das Weinen einer Frau, ein unterdrücktes, halbersticktes Schluchzen, von Schmerz und Kummer gequält. Ich setzte mich im Bett aufrecht und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit. Das Geräusch konnte nicht weitab gewesen sein; ganz gewiß kam es aus dem Haus selbst. Eine halbe Stunde lang wartete ich mit Anspannung aller meiner Nerven, aber kein anderer Ton ließ sich hören als das Schlagen der Glocke und das Rascheln des Nachtwindes im Epheu draußen an der Wand.