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Frankenstein - Mary W. Shelley, 4. Brief - 02

4. Brief - 02

13. August 18..

Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gaste wächst von Tag zu Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? Er ist so gut und dabei klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt und gewandt.

Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist unglücklich, aber in all seinem Elend hat er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. Er hat viel mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wußte, und vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen mit ihm reden mußte. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen, meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen zu einem guten Ausgange zu führen. Leben oder Tod eines Mannes seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch mein Unternehmen genützt werde. Während ich sprach, überzog eine dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, daß er anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Haben auch Sie von dem Gifte getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von Ihren Lippen wegstoßen.«

Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte er sich, daß seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Er unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlaßte mich, über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene Anknüpfungspunkte. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«

Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.

Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken. Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein Heiligenschein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln vermögen.

Lächle nur über den Enthusiasmus, mit dem ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Wenn Du ihn kenntest, würdest Du nicht lächeln. Ich weiß, Deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit Deines Lebens haben Dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde Dich besonders geeignet machen, das Außerordentliche an diesem Menschen zu erkennen und zu schätzen. Ich habe mich schon öfter bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, vor allem ist es sein mehr als natürlicher Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskraft, eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge. Stelle Dir nun noch vor, daß er die Gabe besitzt, sich glänzend, dabei klar und präzis auszudrücken und daß seine Stimme eine außergewöhnliche Modulationsfähigkeit hat, so wirst Du begreifen, daß dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken.


4. Brief - 02 4. letter - 02 4. carta - 02 4ème lettre - 02 4. lettera - 02 4ª carta - 02 4. mektup - 02 第四个字母 - 02

13. August 18..

Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gaste wächst von Tag zu Tag. My affection for the unfortunate guest grows day by day. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. I admire and pity him at the same time. Wie wäre es möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? How could it be possible to see such a noble creature consumed with grief without feeling even the deepest pain? Er ist so gut und dabei klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt und gewandt. He is so good and clever at the same time, he is also extremely well educated and speaks well composed and fluently.

Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu übersehen, auf den er immer noch wartet. He is now fairly recovered from his illness and spends a lot of time on deck, evidently not wanting to miss the sled he is still waiting for. Er ist unglücklich, aber in all seinem Elend hat er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. He is unhappy, but in all his misery he is still interested in other people's plans. Er hat viel mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos dargelegt habe. He talked a lot to me about mine, which I explained to him wholeheartedly. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wußte, und vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich getroffen. He listened attentively to everything I could say about the happy outcome of my enterprise and went into detail with me about the measures I had taken. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen mit ihm reden mußte. He had inspired me with such sympathy that I had to speak frankly with him. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen, meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen zu einem guten Ausgange zu führen. I let him look into my passionate soul and also told him that I would gladly risk my entire fortune, my livelihood, my future, in order to lead my enterprise to a good outcome. Leben oder Tod eines Mannes seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch mein Unternehmen genützt werde. The life or death of a man is nothing compared to what science is benefited from by my undertaking. Während ich sprach, überzog eine dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. As I spoke, a dark glow covered the face of my listener. Ich bemerkte, daß er anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. I noticed that initially he struggled to master his movement. Er hielt die Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. He covered his face with his hands and my voice trembled and faltered as I saw tears trickle down between his fingers as I heard a groan of pain escape his chest. Ich hielt inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! I stopped when he said in a broken voice: "Unfortunate one! Hat Sie derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Did you get the same madness as me? Haben auch Sie von dem Gifte getrunken? Have you also drunk from the poison? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von Ihren Lippen wegstoßen.« Hear me, let me tell my story, and you will knock the cup of baleful potion from your lips.”

Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier erregten. You can imagine that these words aroused all my curiosity. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. But the excess of pain had overwhelmed the stranger's feeble strength, and it took many hours of rest and gentle persuasion to bring him back into balance.

Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte er sich, daß seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Having mastered his violent feelings, he was ashamed that his passion had so overwhelmed him. Er unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlaßte mich, über mich selbst zu sprechen. He suppressed his desperation with force and made me talk about myself. Er frug nach meiner Kindheit. He asked about my childhood. Diese war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene Anknüpfungspunkte. This was told quickly, but it still gave various points of contact. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und gab meiner Überzeugung Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne. I spoke of my desire to find a friend, of my longing for a like-minded soul that I could never call my own, and of my conviction that no one has enjoyed true happiness who cannot boast of genuine friendship.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. "I agree with you," replied the stranger. »Wir sind nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache, fehlerhafte Natur zu verbessern. 'We are only half creatures unless some wiser, better - and that must be a friend - stands by our side to improve our weak, flawed nature. Ich hatte einmal einen Freund, den edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist. I once had a friend, the noblest person imaginable, and therefore have a certain right to have a say when friendship is discussed. Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und deshalb keinen Grund zu verzweifeln. They are still full of hope and have the world ahead of them, so there is no reason to despair. Aber ich – ich habe alles verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.« But I - I've lost everything and I don't have the courage to start over."

Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. As he said this, his face took on a sorrowful expression that made my heart ache. Aber er sprach nicht weiter und zog sich in seine Kajüte zurück. But he said no more and retired to his cabin.

Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur. Despite his suffering, he has a deep, heartfelt love of nature. Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken. The star-studded sky, the sea, and all the wonders of these glorious regions seemed to uplift his soul. Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein Heiligenschein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln vermögen. Such a person actually has a double existence: he may suffer and grieve, but when he withdraws into himself he is like a heavenly spirit surrounded by a halo that sorrow and pain cannot obscure.

Lächle nur über den Enthusiasmus, mit dem ich von diesem prächtigen Menschen erzähle. Just smile at the enthusiasm with which I talk about this magnificent human being. Wenn Du ihn kenntest, würdest Du nicht lächeln. If you knew him, you wouldn't smile. Ich weiß, Deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit Deines Lebens haben Dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde Dich besonders geeignet machen, das Außerordentliche an diesem Menschen zu erkennen und zu schätzen. I know your fine upbringing and the seclusion of your life have made you choosy; but that is precisely what would make you especially qualified to recognize and appreciate what is extraordinary about this person. Ich habe mich schon öfter bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über alle anderen Menschen erhebt. I've struggled before to figure out what it is that makes him so sky high above all other people. Ich glaube, vor allem ist es sein mehr als natürlicher Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskraft, eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge. I believe it is above all his more than natural perspicacity, a never-failing power of judgment, an insight into the causes of all things. Stelle Dir nun noch vor, daß er die Gabe besitzt, sich glänzend, dabei klar und präzis auszudrücken und daß seine Stimme eine außergewöhnliche Modulationsfähigkeit hat, so wirst Du begreifen, daß dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken. If you now imagine that he has the gift of expressing himself brilliantly, clearly and precisely and that his voice has an extraordinary ability to modulate, you will understand that this man is capable of captivating someone.