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Frankenstein - Mary W. Shelley, 13. Kapitel - 02

13. Kapitel - 02

Das Buch, aus dem Felix Safie unterrichtete, war Volneys »Zertrümmerte Reiche«. Ich hätte ja den Inhalt des Buches nie erfaßt, wenn nicht Felix immer ausführliche Erläuterungen dazu gegeben hätte. Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des Werkes außerordentlich anschaulich war.

Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an. Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Der Mensch erschien mir einmal als der Repräsentant des bösen Prinzips und dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und Göttlichen. Ein großer, tugendhafter Mensch zu sein, das mußte doch das Herrlichste bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen kann; und als tiefste Erniedrigung erschien es mir, lasterhaft und schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurmes. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen, daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleichen zu morden, und warum es Gesetze und Regierungen gab. Aber als ich von Verbrechen und Blutvergießen erzählen hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern wandte mich voll Ekel und Abscheu ab.

Jedes Gespräch der Hausbewohner eröffnete mir neue Perspektiven. Bei Gelegenheit der Belehrungen, die Felix der Fremden gab, erfuhr ich auch von dem seltsamen System der menschlichen Gesellschaft. Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlichen Reichtümern und entsetzlichster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute.

Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenken. Ich sah, daß das, was meine Mitmenschen als das Höchste betrachten, edle, fleckenlose Abkunft und Reichtum sind. In seltenen Fällen mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtete man einen solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist, seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählter zu verbrauchen. Und was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde mein eigen nannte. Außerdem war ich noch besonders häßlich und mißgestaltet und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Ich war beweglicher als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus; ich ertrug mit größerer Gleichgültigkeit Kälte und Hitze und war an Größe und Kraft weit überlegen. Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen.

Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die diese Gedanken in mir wachriefen. Ich wollte ihrer Herr werden, aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die Regungen des Hungers und des Durstes!

Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. Ich hätte oft gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschütteln zu können. Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. Ich bewunderte die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen, guten Menschen, die ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne, kennen gelernt hatte. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich ausgeschlossen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah, als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen zu sein, nur noch mehr anstachelte. Die freundlichen Worte Agathes, das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet, und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich war!

Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrückender auf mich. Ich erfuhr vom Unterschied der Geschlechter, von der Geburt und der Erziehung der Kinder; von dem glücklichen Lächeln des Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder, Schwester und all den anderen Verwandtschaftsgraden, die die Bande bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet.

Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. So weit meine Erinnerung reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an Größe und Gestalt mich nicht verändert. Ich kannte niemand, der mir ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu beschäftigen. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine Seufzer.

Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich nun erzählen. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und Verwunderung wachrief und in denen ich in unschuldiger, wonniger Selbsttäuschung meine Beschützer sah.


13. Kapitel - 02 Chapter 13 - 02 Capítulo 13 - 02 Глава 13 - 02

Das Buch, aus dem Felix Safie unterrichtete, war Volneys »Zertrümmerte Reiche«. The book Felix Safie taught from was Volney's Empires Shattered. Ich hätte ja den Inhalt des Buches nie erfaßt, wenn nicht Felix immer ausführliche Erläuterungen dazu gegeben hätte. I would never have understood the contents of the book if Felix hadn't always given detailed explanations. Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des Werkes außerordentlich anschaulich war. He had chosen this work because the style of the work was extraordinarily graphic.

Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an. The contents of that book stimulated many thoughts in me. Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Were people really at the same time so powerful, virtuous and great and yet so vicious and bad? Der Mensch erschien mir einmal als der Repräsentant des bösen Prinzips und dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und Göttlichen. Man appeared to me at one time as the representative of the evil principle and at other times as the epitome of the noble and divine. Ein großer, tugendhafter Mensch zu sein, das mußte doch das Herrlichste bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen kann; und als tiefste Erniedrigung erschien es mir, lasterhaft und schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurmes. To be a great, virtuous man must mean the most glorious thing a thinking being can imagine; and it seemed to me the deepest humiliation to be vicious and wicked, to live a life more useless than that of the blind mole or the harmless worm. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen, daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleichen zu morden, und warum es Gesetze und Regierungen gab. Aber als ich von Verbrechen und Blutvergießen erzählen hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern wandte mich voll Ekel und Abscheu ab. But when I heard tales of crime and bloodshed, I never wondered, but turned away in disgust and disgust.

Jedes Gespräch der Hausbewohner eröffnete mir neue Perspektiven. Bei Gelegenheit der Belehrungen, die Felix der Fremden gab, erfuhr ich auch von dem seltsamen System der menschlichen Gesellschaft. Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlichen Reichtümern und entsetzlichster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute. I heard about the division of property, about immeasurable riches and the most appalling poverty, about rank, descent and noble blood.

Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenken. Ich sah, daß das, was meine Mitmenschen als das Höchste betrachten, edle, fleckenlose Abkunft und Reichtum sind. I saw that what my fellow men consider supreme is noble, spotless parentage and wealth. In seltenen Fällen mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtete man einen solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist, seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählter zu verbrauchen. In rare cases it might happen that someone who possessed only one of these two qualities was respected; but more often such a man was regarded as a scoundrel or a slave who exists only to expend his energies in the service of a chosen few. Und was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde mein eigen nannte. I knew nothing of my origin, of my descent, but I knew that I had no money, no friends of my own. Außerdem war ich noch besonders häßlich und mißgestaltet und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Besides, I was particularly ugly and misshapen, and not even the same being as a human. Ich war beweglicher als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus; ich ertrug mit größerer Gleichgültigkeit Kälte und Hitze und war an Größe und Kraft weit überlegen. I was more agile than such and got by on less food; I endured cold and heat with greater indifference, and far superior in size and strength. Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. But when I looked around I found no one like me. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen. So I was an abnormality, a monster, a blot of creation that all people fled and pushed away.

Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die diese Gedanken in mir wachriefen. I would try in vain to describe to you the agony that these thoughts awakened in me. Ich wollte ihrer Herr werden, aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die Regungen des Hungers und des Durstes!

Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. It clings to our inner being like a lichen to a stone. Ich hätte oft gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschütteln zu können. I often wish I could shake off all that feeling and thinking. Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. But I also learned that there is only one cure for all this pain - death, a concept I feared but could not grasp. Ich bewunderte die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen, guten Menschen, die ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne, kennen gelernt hatte. I admired virtue and all high, noble sentiments, and loved the beautiful, good people whom I had hitherto known, albeit only from afar. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich ausgeschlossen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah, als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen zu sein, nur noch mehr anstachelte. But I was barred from intercourse with them, unless I want to call what I surreptitiously looked at as such, and which only further aroused my desire to be one of them. Die freundlichen Worte Agathes, das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet, und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich war! Wretched, poor wretch that I was!

Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrückender auf mich. Other things I heard were even more depressing. Ich erfuhr vom Unterschied der Geschlechter, von der Geburt und der Erziehung der Kinder; von dem glücklichen Lächeln des Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder, Schwester und all den anderen Verwandtschaftsgraden, die die Bande bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet. I learned about the difference between the sexes, about the birth and the upbringing of children; of the father's happy smile, of the mother's love and devotion; of brother, sister, and all the other degrees of kinship that denote the ties that bind people together.

Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. No father protected my childhood years, no mother gave me her love and tenderness; or if it was, then my life up until now was a dream that I no longer remember. So weit meine Erinnerung reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an Größe und Gestalt mich nicht verändert. As far as I can remember, I was always the same as I was then, and had not changed in size or shape. Ich kannte niemand, der mir ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu beschäftigen. I didn't know anyone who was like me or who would have bothered to deal with me. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine Seufzer. These were the questions that rose up in me and to which I found no answer but my sighs.

Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich nun erzählen. I want to tell you where these feelings brought me. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und Verwunderung wachrief und in denen ich in unschuldiger, wonniger Selbsttäuschung meine Beschützer sah. But first I would like to speak once more of those people whose lives aroused in me at once indignation, delight and wonder, and in whom, in innocent, blissful self-deception, I saw my protectors.