Martinszug
Florian ist acht Jahre alt und geht in die Grundschule. Es ist Anfang November und die Kinder freuen sich auf den Martinstag. Am Martinstag feiern die Menschen das Gedenken an den heiligen Martin. Martin war der Bischof von Tours und starb 397; aber das wissen die Kinder nicht. Für sie ist der Martinstag eine große Gaudi. Zuerst basteln sie viele Laternen, und die Lehrerin in Florians Klasse ist gerade dabei den Kindern zu erklären, was sie machen sollen.
„So, Kinder“,sagt Frau Riebold, „heute werden wir eine Laterne für den Martinstag basteln. Passt jetzt bitte gut auf.“
Ja toll!1', rufen viele Kinder. Sie freuen sich darauf, Laternen zu basteln und noch viel mehr, mit den Laternen nachts herumzugehen.
Was machen die Kinder jetzt? Ihre Lehrerin, Frau Riebold, zeigt ihnen, wie man mit einer Schere verschieden große Löcher in ein großes Blatt Papier schneidet. Sie schneiden Sterne, Monde, Dreiecke, Quadrate, runde Löcher und andere Formen. Dann gibt sie den Kindern Klarsichtfolie in
verschiedenen Farben.
Die Kinder schneiden mit ihren Scheren Stücke aus den Klarsichtfolien. Dann nehmen sie Kleber und kleben diese Stücke über die Löcher im Papier. Als sie damit fertig sind, heben die Kinder ihre Papiere hoch in Richtung der Fenster. Das Licht scheint durch die bunten Papiere hindurch, und die Kinder freuen sich über das leuchtende Rot, Gelb, Blau, Grün, Rosa und Lila.
”Ui, schau mal mein Papier an!“,sagt Florian aufgeregt zu seinem Freund Andreas. „Das leuchtet so schön orange und gelb.“
Andreas nickt und sagt: „Das ist schön, aber du hast nur wenige Farben. Schau mal mein Papier an, ich habe alle Farben•‘‘
„Stimmt doch nichts ruft Peter. „Da ist kein Weiß und Schwarz.“
„Ach sei doch nicht blöd“, sagt Andreas. „Durch ein schwarzes Papier kommt kein Licht. Das ist doch Unsinn für eine Laterne.“
„Selber blöd“,sagt Peter verärgert. „Du hast gesagt, du hast alle Farben, aber du hast kein Schwarz und Weiß.“
Da ärgert sich Andreas auch und die beiden Jungen beginnen, sich laut zu streiten.
Frau Riebold eilt schnell herbei und trennt die beiden.
„Also was soll denn das?“,fragt sie verärgert. „Ihr streitet euch über nichts und verderbt allen den Spaß. Eine Laterne basteln soll Spaß machen. Wenn euch das nicht gefällt, könnt ihr euch in eine Ecke setzen und nichts tun. Dann habt ihr halt keine Laterne, wenn alle anderen nachts mit der Laterne rausgehen.“
Da sind Andreas und Peter ganz schnell leise, denn sie wollen unbedingt am Martinszug teilnehmen.
Am Martinszug gehen sie alle nachts zusammen durch die Straßen und halten ihre Laternen, während sie Lieder singen. Das macht immer großen Spaß und die beiden Jungen wollen es auf keinen Fall verpassen. Als Frau Riebold sieht, dass die beiden Jungen wieder leise sind, nickt sie zufrieden und geht zu ihrem Pult zurück. Auf ihrem Pult liegen alle Sachen; die sie zum Basteln braucht. Erst nimmt sie ein großes Blatt Papier und rollt es. Dann klebt sie die beiden Enden aneinander. Die Kinder machen es ihr nach. Als nächstes befestigt sie unten eine kleine Schale für ein Teelicht und zum Schluss befestigt sie oben Draht, an dem die Laterne hängt. Der Draht ist an einem kurzen Stock befestigt. Jetzt ist die Laterne fertig. Die Kinder freuen sich sehr und auch Peter und Andreas haben ihren Streit vergessen.
Ein paar Tage später kommen die Kinder abends mit ihren Laternen in die Schule. Es ist schon dunkel draußen und sie sind alle sehr aufgeregt. Florian, Andreas und Peter sind gute Freunde und spielen oft miteinander, aber an diesem Abend freuen sie sich besonders zusammen zu sein.
„So Kinder“,sagt Frau Riebold. „Ich habe hier ein Feuerzeug, mit dem ich eure Teelichter anzünden werde. Also spielt bitte nicht mit den Laternen. Ihr müsst sie gerade halten, damit nichts passiert.“
Dann geht Frau Riebold von Kind zu Kind und zündet mit dem Feuerzeug ein Teelicht nach dem anderen an. Bald leuchten alle Laternen in vielen bunten Farben.
„Frau Riebold, können wir jetzt rausgehen?“, fragt Florian seine Lehrerin.
,Ja; Florian. Jetzt ist alles bereit und wir können rausgehen.“
Da sind die Kinder im siebten Himmel und jubeln laut.
Frau Riebold will etwas sagen, aber die Kinder sind so laut, dass sie ihre Lehrerin nicht hören. Deshalb klatscht Frau Riebold in die Hände und ruft laut.
„Ruhe, Kinder, Ruhe! Stellt euch bitte zu zweit in einer Reihe auf und haltet eure Laternen nach außen.“
Als die Kinder so weit sind, geht Frau Riebold voraus und die Kinder folgen ihr nach draußen. Es ist der elfte November und es ist kalt und grau. Aber sobald die Kinder nach draußen kommen, leuchten die Laternen schön im Dunkeln und die Kinder singen ein Lied:
Laterne, Laterne,
Sonne, Mond und Sterne,
brenne auf mein Licht,
brenne auf mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht. Sie gehen durch die dunklen Straßen und haben großen Spaß. Dann singen die aufgeregten Kinder noch ein Lied:
Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Da oben leuchten die Sterne und unten da leuchten wir. Laternenlicht, verlösch mir nicht!
Rabimmel, rabammel, rabum.
Ich geh' mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Da oben leuchten die Sterne und unten da leuchten wir. Mein Licht ist aus, ich geh' nach Haus. Rabimmel, rabammel, rabum. Nach einer drei viertel Stunde führt Frau Riebold die Kinder wieder zurück zur Schule. Die Kinder blasen ihre Teelichter aus. Der Martinszug ist vorbei. Dann gehen alle wieder nach Hause. Florian, Peter und Andreas gehen zusammen die Straße entlang, da sie nahe beieinander wohnen.
„Schade, dass wir nur einmal im Jahr mit der Laterne durch die Straßen gehen können'', sagt Florian.
,Ja, genau“,sagt Andreas. „Wir sollten das jede Woche machen.“
„Genau, daheim rumsitzen ist blöd“, sagt Peter. „Vielleicht können wir ja morgen Abend mit den Laternen zusammen rausgehen.“
Die drei Freunde nicken. Mit ihren Laternen im Dunkeln zu laufen, würde ihnen viel Spaß machen, und ohne ihre Lehrerin wäre es sogar noch besser.
„Also abgemacht“,sagt Florian. „Wir treffen uns morgen Abend um halb sieben.“
„Und was ist mit den Teelichtern?“, fragt Peter. „Ich habe keine und ein Feuerzeug habe ich auch nicht. Meine Eltern sagen immer, dass das zu gefährlich ist.“
„Ach, Quatsch' sagt Andreas. „Teelichter sind nicht gefährlich. Wir haben jede Menge zuhause. Ich bring euch welche mit und ein Feuerzeug habe ich auch.“
„Mensch, toll“,sagt Florian.
Aber dann stehen sie schon vor Florians Haus. „Bis morgen“,sagt er und sperrt mit seinem Schlüssel die Tür auf. Peter und Andreas winken ihm zu und gehen auch schnell nach Hause.
Am nächsten Morgen warten die drei Jungen ungeduldig in der Schule, bis sie wieder nach Hause können. Aber wie es so ist, wenn man auf etwas wartet, scheint die Zeit viel langsamer zu vergehen.
Nach der Schule müssen sie daheim noch ihre Hausaufgaben machen. Dann sind es noch ein paar Stunden Wartezeit bis zum Abendessen. Als es endlich Zeit ist, nach draußen zu gehen, können die drei Jungen es kaum noch erwarten, so ungeduldig sind sie. Peter und Florian rennen schnell rüber zu Andreas.
„Na, da seid ihr ja endlich“, begrüßt sie Andreas ungeduldig. „Hier habe ich Teelichter für euch.“
„Mensch, toll“,sagen Peter und Florian, als sie die Tüte voller Teelichter sehen. „Da haben wir auf jeden Fall genug“, sagt Andreas und grinst. „Wir wollen ja nicht zu früh aufhören.“
Es ist windstill und Andreas hat kein Problem, mit dem Feuerzeug die Teelichter anzuzünden. Die Jungen stellen die Teelichter in ihre Laternen und gehen los. Die Laternen leuchten bunt, aber in der Straße sind viele Straßenlaternen und es ist nicht sehr dunkel.
„Wir müssen wo hin, wo kein Licht ist“, sagt Florian.
„Wie wär's mit dem Weg hinter der Schule?“, fragt Peter. „Nee, der ist zu kurz“,sagt Florian.
„Ich hab‘s“,sagt Andreas. Wir gehen in den Park beim Altenheim. Da gibt‘s keine Straßenlaternen.“
Die drei Freunde eilen aufgeregt durch die Straße und singen ein paar Lieder auf dem Weg zum Park. Als sie am Parkeingang ankommen, bleiben sie kurz stehen. Der Park ist wirklich sehr dunkel. Der Himmel ist stark bewölkt und nicht einmal der Mond scheint in das Dunkel hinein. Es führt ein Weg um den Park herum, der beleuchtet ist, aber im Park ist es stockfinster. Den drei Freunden ist es fast ein bisschen unheimlich.
Sie stehen unsicher am Eingang und wissen nicht, ob sie hineingehen sollen.
„Mensch, ist das dunkel“,sagt Peter. ”〇b‘s da gefährlich ist?“
„So ein Quatsch“, sagt Andreas. Dunkelheit ist doch nicht gefährlich. Das ist genau richtig für unsere Laternen, und ich habe vor dem bisschen Dunkelheit keine Angst•“
Kurz entschlossen geht Andreas in den dunklen Park hinein. Seine Freunde zögern einen Moment, aber dann folgen sie ihm. Sie wollen schließlich nicht zugeben, dass sie Angst haben. Es ist sehr dunkel und die Laternen leuchten hell. Die drei Freunde singen wieder die Lieder, die sie in der Schule gelernt haben, nur etwas lauter, vielleicht weil sie beim lauten Singen weniger Angst haben.
Nach ein paar Minuten vergeht ihre Angst und sie spielen mit ihren Laternen. Sie wissen zwar, dass Frau Riebold ihnen verboten hat, mit den Laternen zu spielen, aber das ist ihnen egal. Frau Riebold ist ja nicht da und kann sie nicht schimpfen oder bestrafen. Sie schwingen ihre Laternen herum. Das macht ihnen Spaß, und je mehr Spaß sie haben, desto wilder schwingen sie die Laternen herum.
Auf einmal stoßen die Laternen von Andreas und Florian zusammen. Die Teelichter werden gegen das Papier der Laternen geworfen und plötzlich kommen hohe Flammen aus den Laternen. Die Kinder sind sehr erschrocken und Andreas stolpert und fällt auf die brennenden Laternen.
Da fängt seine Hose auch an zu brennen. Seine Beine werden sehr heiß und dann verbrennt seine Haut. Laut schreiend rennt er durch den Park auf einen Ausgang zu. Es ist nicht weit, aber seine Beine tun ihm jetzt so weh; dass er vor Schmerzen nur noch brüllt. Er rennt gerade aus dem Park genau auf die Straße.
Seine ganze Hose brennt jetzt und sein Anorak hat auch Feuer gefangen. Als er auf die Straße kommt, quietschen Reifen und ein Taxi hält gerade noch an. Der Taxifahrer springt geistesgegenwärtig aus dem Taxi und zieht seine Lederjacke schnell aus. Andreas liegt jetzt auf der Straße. Er kann nicht mehr laufen, er schreit und windet sich nur. Der Taxifahrer wirft seine Jacke schnell auf Andreas und erstickt die Flammen. Jetzt ist das Feuer aus.
Peter und Florian stehen am Straßenrand und weinen. Sie sind sehr erschrocken und wissen nicht, was sie machen sollen.
Der Taxifahrer ruft über Funk um Hilfe und einige Minuten später hören sie das Martinshorn des herbei rasenden Notarztwagens. Als der Notarztwagen da ist, geben die Sanitäter Andreas eine Spritze gegen den Schmerz.
Dann heben sie ihn auf eine Tragbahre und tragen ihn in den Notarztwagen. Andreas hat an seinen Beinen sehr schwere Verbrennungen erlitten und er wird schnell ins Krankenhaus gefahren.
Peters Eltern sagen ihm immer: „Mit Feuer spielt man nicht.“
Peter hat seinen Eltern nie geglaubt, aber jetzt weiß er; dass sie recht haben. Nur Andreas hilft das nicht mehr.