Achtes Kapitel - Erster Bericht des Doktor Watson - 02
Neulich – ganz genau am Donnerstag – frühstückte Dr. Mortimer bei uns. Er hat in Long Down einen Grabhügel untersucht und einen prähistorischen Schädel gefunden, der ihn mit großer Freude erfüllt. Er ist ein ganz großer Enthusiast. Nach dem Essen kamen auch die Stapletons, und der gute Doktor führte uns alle zu der Taxusallee, um uns auf Sir Henrys Bitten genau zu erklären, wie sich der Vorgang in der verhängnisvollen Nacht abspielte.
Die Taxusallee ist ein langer, öder Weg zwischen zwei hohen, beschnittenen Hecken; ein schmaler Grasstreifen befindet sich an jeder Seite.
Ungefähr auf halbem Weg ist die Moorpforte, wo der alte Herr seine Zigarrenasche hinterließ. Es ist eine weiße Lattentür, die mit einem Riegel verschlossen ist. Dahinter erstreckt sich das weite Moor. Ich erinnerte mich an deine Mutmaßung über den Hergang und versuchte mir ein Bild davon zu machen. Als der alte Herr an der Pforte stand, sah er irgend etwas über das Moor kommen, irgend ein Etwas, das ihn so in Schrecken setzte, daß er die Besinnung verlor und rannte und rannte, bis er vor nackter Angst und Erschöpfung tot umfiel. Was verfolgte ihn? Ein Schäferhund vom Moor? Oder ein schwarzer, schweigender, ungeheurer Gespensterhund? Waren Menschenhände dabei im Spiel? Wußte der wachsame blasse Barrymore mehr als er sagen wollte? Alles ist schwankend und vage, aber überall wirft ein Verbrechen seine dunklen Schatten über dieses Rätsel.
Seitdem ich meinen letzten Brief schrieb, habe ich noch einen anderen Nachbarn kennengelernt: Herrn Frankland von Lafter Hall, vier Meilen von uns in südlicher Richtung gelegen. Er ist ein älterer Herr mit rotem Gesicht, weißem Haar und höchst cholerischem Gemüt. Seine Leidenschaft ist das britische Recht, und er hat ein bedeutendes Vermögen in Prozessen draufgehen lassen. Er kämpft aus reiner Lust am Kampf und ist stets bereit, die eine oder die andere Seite eines Rechtsstreites zu seiner Sache zu machen; es ist daher kein Wunder, daß sich sein Vergnügen als recht kostspielig herausgestellt hat. Zuweilen erläßt er ein Verbot, irgend einen Weg zu benutzen; dann muß die Gemeinde erst einen Prozeß führen, um die Öffnung desselben durchzusetzen. Dann wieder reißt er eigenhändig irgend ein anderen Leuten gehörendes Gatter nieder und behauptet, es habe seit undenklichen Zeiten an der betreffenden Stelle ein freier Weg existiert. Dann muß der Eigentümer ebenfalls erst einen Prozeß führen, um sein Zugangsrecht zu behalten. Er ist ein Experte in altem Kommunal- und Gutsrecht, und er wendet sein Wissen manchmal zugunsten der Dörfler von Fernworthy an und manchmal gegen sie; so wird er zur verschiedenen Zeiten einmal im Triumph über die Dorfstraße getragen, ein andermal aber hätten sie ihn am liebsten verbrannt.
Gegenwärtig soll er sieben Prozesse schweben haben, die wahrscheinlich den Rest seines Vermögens verschlingen werden; dann wird ihm der Stachel genommen und er in Zukunft ein harmloser alter Herr sein. Abgesehen von seiner Prozeßsucht macht er den Eindruck eines freundlichen und gutmütigen Menschen, und ich erwähne ihn nur, weil Du mir besonders einschärftest, ich sollte die Personen in unserer Umgebung genauer beschreiben.
Gegenwärtig hat er eine sonderbare Beschäftigung: er ist Amateur-Astronom und besitzt deshalb ein ausgezeichnetes Fernrohr. Mit diesem liegt er nun den ganzen Tag auf dem Dach seines Hauses und sieht auf das Moor hinaus in der Hoffnung, den entsprungenen Zuchthäusler zu entdecken. Wollte er seine Tatkraft hierauf beschränken, so wäre alles schön und gut, aber wie das Gerücht wissen will, beabsichtigt er dem Dr. Mortimer wegen seiner Ausgrabung des vorgeschichtlichen Schädels in Long Down einen Prozeß anzuhängen, weil er ohne Einwilligung des nächsten Anverwandten ein Grab geöffnet hat. Herr Frankland bringt ein bißchen Abwechselung in unser gar zu eintöniges Leben hier und sorgt für etwas Komik, die wir hier wirklich bitter nötig haben.
Und nun, nachdem ich Dir über den entsprungenen Sträfling, über die Stapletons, Dr. Mortimer und Herrn Frankland von Laster Hall alles mir Bekannte mitgeteilt habe, will ich mich zum Schluß dem wichtigsten Teil meines Berichtes zuwenden und Dir einiges Neue über die Barrymores melden, besonders eine überraschende Wendung, die die vorige Nacht gebracht hat.
Zunächst noch einiges über das Telegramm, das Du von London aus sandtest, um Gewißheit zu bekommen, ob Barrymore in Wirklichkeit hier war oder nicht. Wie ich bereits auseinandersetzte, geht aus dem Zeugnis des Postmeisters von Grimpen hervor, daß es keinerlei gültigen Beweis für den einen oder den anderen Fall gibt. Ich sagte Sir Henry, wie die Sache steht, und in seiner geraden offenen Art ließ er sofort Barrymore rufen und fragte ihn, ob er das Telegramm selber in Empfang genommen hätte. Der Kammerdiener bejahte die Frage.
»Lieferte der Junge es zu Ihren eigenen Händen ab?« fragte der Baronet weiter.
Barrymore machte ein überraschtes Gesicht, dachte eine kleine Weile nach und sagte dann:
»Nein; ich war in dem Moment gerade auf dem Dachboden und meine Frau brachte es mir herauf.«
»Beantworteten Sie es selber?«
»Nein, ich sagte meiner Frau, was zu antworten sei, und sie ging hinunter, um es aufzuschreiben.«
Am Abend kam Barrymore von selbst auf das Thema zurück, indem er sagte:
»Ich konnte nicht recht verstehen, welche Absicht Ihre Fragen von heute früh verfolgten, Sir Henry. Es war damit doch gewiß nicht bezweckt, mir eine Täuschung Ihres Vertrauens zur Last zu legen?«
Sir Henry mußte ihm versichern, dies sei nicht der Fall und gab ihm schließlich, um ihn nur wieder zu beruhigen, einen beträchtlichen Teil seiner alten Sachen; die in London bestellte neue Ausstattung ist nämlich jetzt eingetroffen.
Frau Barrymore interessiert mich. Sie ist eine derbe, grobschlächtige Person, sehr beschränkt, durch und durch ehrenwert und mit einer Neigung zum Puritanischen. Rührselig ist sie sicherlich nicht im geringsten. Und doch hörte ich sie in der ersten Nacht meines Hierseins schluchzen, wie ich Dir bereits schrieb, und seitdem habe ich mehr als einmal auf ihrem Gesicht die Spuren von Tränen bemerkt. Irgend ein tiefer Kummer nagt ihr am Herzen. Manchmal frage ich mich, ob vielleicht ein schuldbeladenes Gewissen sie quält, manchmal habe ich Barrymore im Verdacht, ein Haustyrann zu sein. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, daß sein Charakter seltsam und fragwürdig sei, aber mein Erlebnis von voriger Nacht gibt meinem Verdacht eine bestimmte Richtung – obgleich es Dir vielleicht an und für sich unbedeutend vorkommen wird.
Wie du weißt, habe ich keinen sehr festen Schlaf, und seitdem ich hier auf meinem Beobachtungsposten bin, ist mein Schlummer leiser denn je. Heute nacht – es war gegen zwei Uhr morgens – weckte mich das Geräusch verstohlener Schritte auf dem Korridor. Ich stand auf, öffnete meine Tür und lugte hinaus. Ein langer schwarzer Schatten schwebte den Gang entlang. Es war ein Mann, der mit einer Kerze in der Hand behutsam den Korridor hinunterging. Er war in Hemd und Hosen und barfüßig; ich konnte nur die Umrisse seiner Gestalt sehen, merkte aber an der Größe, daß es Barrymore war. Er ging sehr langsam und vorsichtig und seine ganze Erscheinung hatte etwas unbeschreiblich Scheues und Schuldbewußtes an sich.
Wie ich Dir bereits schrieb, wird der Korridor von der rund um die große Halle laufenden Empore unterbrochen, hat aber eine Fortsetzung jenseits derselben. Ich wartete, bis Barrymore verschwunden war und ging ihm dann nach. Als ich an der Empore vorbei war, hatte er bereits das andere Ende des Korridors erreicht und war, wie ich an einem aus einer offenen Thür herausfallenden Lichtschein sehen konnte, in eines der Zimmer getreten. Da nun alle diese Räume unbewohnt und unmöbliert sind, so wurde sein Vorhaben immer rätselhafter für mich. Der Lichtschein blieb immer auf einer Stelle, woraus man schließen konnte, daß Barrymore still stand. Ich schlich mich so geräuschlos wie möglich den Gang entlang und sah in das Zimmer hinein.
Barrymore hockte am Fenster und hielt sein Licht an die Scheibe. Sein Profil war mir halb zugewandt und sein Gesicht war starr gespannt; er spähte in die auf dem Moor liegende Finsternis hinaus.
Mehrere Minuten lang wartete er; dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und löschte das Licht. Sofort ging ich zu meinem Zimmer zurück, und ganz wenige Augenblicke darauf kamen wieder die verstohlenen Schritte an meiner Tür vorbei.
Viel später, als ich in einen leichten Schlummer gefallen war, hörte ich einen Schlüssel in einem Schloß drehen, konnte aber nicht feststellen, aus welcher Richtung der Laut kam.
Ich kann dir nicht erklären, was dies alles bedeutet, aber soviel ist sicher: etwas Geheimnisvolles geht in diesem Haus vor, und früher oder später werden wir dahinter kommen. Ich will Dich nicht mit Theorien behelligen, denn Du batest mich ja, bloß Tatsachen mitzuteilen. Ich habe heute früh ein langes Gespräch mit Sir Henry gehabt, und wir haben auf Grund meiner in der vorigen Nacht gemachten Beobachtungen einen Schlachtplan entworfen. Ich will heute nichts mehr darüber sagen, um auch meinem nächsten Bericht zu einer spannenden Lektüre werden zu lassen.