Der sterbliche Unsterbliche von Mary Shelley - 01
16. Juli 1833 – Heute ist ein denkwürdiger Jahrestag für mich, heute werde ich volle 333 Jahre alt.
Der ewige Jude? Nein, sicher nicht. Mehr als 18 Jahrhunderte sind über seinem Haupt dahingezogen. Im Vergleich dazu bin ich ein sehr junger Unsterblicher.
Bin ich also unsterblich? Dies ist eine Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt, sowohl bei Tag als auch bei Nacht, seit nunmehr über 303 Jahren, und ich kann sie noch immer nicht beantworten.
Ich habe gerade heute ein graues Haar inmitten meiner braunen Locken gefunden – das steht eindeutig für Verfall.
Aber es mag vielleicht auch über 300 Jahre verborgen geblieben sein, denn manche Menschen werden vollständig grau, bevor sie überhaupt die 20 erreicht haben.
Ich werde meine Geschichte erzählen – und dann mag der Leser selbst urteilen. Ich werde meine Geschichte erzählen, und so darauf sinnen, einige Stunden meiner langen Ewigkeit, welche so ermüdend für mich geworden ist, zu vertreiben.
Für immer! Kann es wahr sein? Für immer zu leben? Ich habe von solchen Zaubern gehört, bei welchen die Opfer in einen tiefen Schlaf verfielen, nur um dann 100 Jahre später wieder aufzuwachen, frisch und munter wie eh und je.
Ich habe von den Siebenschläfern gehört – auf diese Weise unsterblich zu sein, wäre nicht so belastend. Aber oh! das Gewicht der niemals endenden Zeit, das mühselige Durchwandern der stets nachfolgenden Stunden! Wie glücklich war der berühmte Nourjahad! … Aber zurück zu meiner Aufgabe.
Die ganze Welt hat schon von Cornelius Agrippa gehört. Seine Erinnerungen sind so unsterblich wie seine Kunst, welche mich erschaffen hat.
Die ganze Welt hat ebenfalls von seinem Lehrling gehört, welcher unbewußt, in des Meisters Abwesenheit, den ewigen Feind herbeigerufen hatte, und von diesem vernichtet wurde.
Dieser Bericht, ob wahr oder falsch, führte für den renommierten Philosophen zu vielen Beschwerlichkeiten. Alle seine Lehrlinge verließen ihn und seine Diener verschwanden.
Jetzt hatte er niemanden mehr, der ihm die Kohlen auf das ewig brennende Feuer legte, während er schlief, oder die wechselnden Farben seiner Tinkturen beaufsichtigte, während er Studien betrieb.
Experiment über Experiment schlug fehl, weil lediglich ein Paar Hände nicht ausreichte, um es zu vollenden. Die bösen Geister lachten ihn aus, weil es ihm nicht gelang, auch nur einen einzigen Sterblichen in seinen Dienst zu stellen.
Damals war ich sehr jung, sehr arm – und sehr verliebt. Ich war bereits ein Jahr lang ein Schüler Cornelius. Als dieser Vorfall stattfand, war ich allerdings abwesend.
Bei meiner Rückkehr beschworen mich meine Freunde, ich solle nicht zur Wohnstatt des Alchimisten zurückkehren. Ich erbebte, als ich die schreckliche Mär vernahm, die sie mir erzählten.
Wahrlich, ich bedurfte keiner zweiten Warnung; aber dann kam Cornelius und bot mir ein Börse voll Gold, wenn ich nur unter seinem Dach bliebe – da fühlte ich mich, als ob der Satan selbst mich versuchen würde. Meine Zähne klapperten – meine Haare standen mir zu Berge – ich lief so schnell fort, wie es meine zitternden Knie erlaubten.
Meine ermüdenden Schritte wurden in Ermangelung eines Zieles schließlich dorthin gelenkt, wohin es sie jeden Abend in den letzten zwei Jahre gezogen hatte – zu einer sanft sprudelnde Quelle klaren, lebendigen Wassers, neben dem ein dunkelhaariges Mädchen verweilte, dessen strahlende Augen auf den Pfad gerichtet waren, den ich üblicherweise jede Nacht beschritt.
Ich kann mich nicht an irgendeine Stunde meines Lebens entsinnen, in der ich Bertha nicht liebte. Wir waren Nachbarn und Spielkameraden aus Kinderzeiten. Ihre Eltern führten, wie meine, ein bescheidenes, aber respektables Leben. Unsere Verbindung war ihnen stets eine Quelle der Freude gewesen.
Innerhalb einer einzigen schrecklichen Stunde wurden ihr sowohl Vater als auch Mutter durch ein bösartiges Fieber entrissen, und aus Bertha wurde ein Waisenkind.
Sie würde ein Obdach in meines Vaters Haus gefunden haben, aber leider bekundete eine alte Dame in der Nähe der Burg, welche reich, kinderlos und einsam war, ihre Absicht, sie zu adoptieren.
Fortan wurde Bertha in Seide gekleidet – bewohnte einen Marmor-Palast – und wurde seitdem als vom Schicksal und Glück besonders begünstigt angesehen. Doch Bertha blieb auch in ihrer neuen Stellung und trotz ihres neuen Umgangs, dem Freund ihrer bescheideneren Tage treu. Sie besuchte oft das Haus meines Vaters, und als ihr schließlich verboten wurde, dorthin zu gehen, schlenderte sie in Richtung des benachbarten Waldes, um mich dort neben seiner schattigen Quelle zu treffen.
Sie behauptete zwar oft, dass sie ihrer neuen Beschützerin keineswegs so verpflichtet sei wie der heiligen Verbundenheit zu uns. Jedoch wäre ich viel zu arm, um zu heiraten, und sie sei es leid, meinetwegen gequält zu werde. Sie hatte einen stolzen, aber einen ungeduldigen Geist und wurde auf das Hindernis, das unser Beisammensein unmöglich machte, stets zorniger. Wir trafen uns jetzt zum ersten Mal nach meiner Abwesenheit, während der sie arg bedrängt worden war. Sie beklagte sich bitter, und hielt mir fast vor, mittellos zu sein. Ich antwortete hastig: »Ich bin ehrbar, darum bin ich arm. – Denn wär' ich es nicht – wahrlich, ich könnte gar bald reich sein!«
Diese Erklärung provozierte tausend Fragen. Ich fürchtete, sie durch die Offenlegung der Wahrheit zu schockieren, aber sie lockte es aus mir heraus. Und dann, einen Blick der Verachtung auf mich werfend, erwiderte sie: »Sie behaupten, zu lieben, doch Sie fürchten sich, um meinetwillen dem Teufel entgegenzutreten!«
Ich protestierte, dass ich doch nur fürchtete, sie zu beleidigen – während sie davon schwärmte, wie hoch die Belohnung wäre, die ich erhalten sollte. Dadurch ermutigt – von ihr beschämt – gelenkt von der Liebe und der Hoffnung, und über meine früheren Ängste lachend, kehrte ich schnellen Schrittes und leichten Herzens um, das Angebot des Alchimisten zu akzeptieren – und wurde daraufhin sofort in meine Stellung eingeführt.
Ein Jahr verging. Ich besaß nun eine nicht unbedeutenden Summe Geldes. Der Alltag hatte meine Ängste verbannt. Trotz schmerzhaftester Wachsamkeit hatte ich doch nie auch nur die Spur eines Pferdefußes entdeckt; noch wurde die fleißig Stille unserer Studien jemals von dämonischem Geheul gestört. Ich setzte meine heimlichen Treffen mit Bertha fort – und leise dämmerte Hoffnung in mir – Hoffnung – aber nicht die vollkommene Freude, denn in Berthas Vorstellung waren Liebe und Sicherheit Feinde, und ihr Vergnügen bestand darin, diese beiden in meiner Brust widerstreiten zu lassen.
Obwohl ehrlichen Herzens, so hatte sie doch eine etwas kokette Art an sich. Ich war eifersüchtig wie ein Türke. Sie beleidigte mich auf tausende Weisen, doch würde sie niemals zugegeben haben, im Unrecht zu sein. Sie würde mich wahnsinnig vor Zorn werden lassen, nur um mich dann zu zwingen, sie um Verzeihung zu bitten. Manchmal bildete sie sich ein, ich wäre nicht unterwürfig genug, und legte sich dann eine Geschichte von einem Rivalen zurecht, den ihre Vormündin bevorzugte. Sie wurde von in Seide gekleideten Jünglingen umgeben – von den Reichen und Fröhlichen. Welche Chance hatte der traurig gekleideten Schüler von Cornelius dagegen im Vergleich?
Zu jener Zeit machte der Philosoph so große Ansprüche an meine Zeit, dass ich nicht in der Lage war, Bertha, wie ich es sonst gewohnt war, zu treffen. Er war gerade mit einer gewaltigen Aufgabe beschäftigt, und ich wurde gezwungen, Tag und Nacht zu bleiben – fütterte dann seine Öfen und beobachtete seine chemische Präparate. Bertha wartete vergeblich am Brunnen auf mich. Ihr Hochmut flammte bei diese Vernachlässigung wild auf. Als ich mich endlich ein paar kurze Minuten fortstahl, welche eigentlich meinem Schlummer vorbehalten waren, und hoffte, von ihr getröstet zu werden, empfing sie mich mit Verachtung, entließ mich mit Verachtung, und schwor, dass kein Mann ihre Hand besitzen solle, der nicht ihr zuliebe an zwei Orten gleichzeitig sein könne – sie würde gerächt werden! Und wirklich das wurde sie.
Während meines unrühmlichen Rückzugs hörte ich, dass sie auf der Jagd sei, und von Albert Hoffer begleitet wurde. Albert Hoffer war der Liebling ihrer Beschützerin, und die drei passierten eines Tages in einer Kavalkade mein rauchiges Fenster. Mir schien, dass sie dabei meinen Namen nannten; gefolgt von einem spöttischen Lachen, als ihre dunklen Augen verächtlich in Richtung meiner Wohnung blickten.
Eifersucht mit all seinem Gift und Elend ergriff meine Brust. Mal entsprang mir eine Flut von Tränen, wenn ich daran dachte, sie nie mein nennen zu können; und dann wieder murmelte ich tausend Flüche wegen ihres Wankelmuts. Doch noch musste ich die Feuer des Alchimisten rühren, noch auf die Veränderungen seiner unverständlichen Arzneien achten.