Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts
MANUSKRIPT
Regie: Musik
Sprecher (Zitation Benjamin 1): „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe.“
Sprecherin: Walter Benjamin, deutsch-jüdischer Intellektueller, Literaturkritiker, Philosoph blickt Ende der 30er Jahre auf Europa. Was er sieht, ist ein Trümmerhaufen: Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus. Leid, Elend, Gewalt. Die Schattenseiten der modernen Gesellschaft treten offen zutage.
Sprecher (Zitation Benjamin 2): „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht.“
Sprecherin: Im September 1940 stirbt Walter Benjamin auf der Flucht vor dem NS-Regime. Sein Vermächtnis: eine radikale Fortschrittskritik. Fortschritt, das ist für Benjamin eine Ideologie der Herrschenden, die das Leid der Unterdrückten nur notdürftig kaschiert.
OT 01 - Ursula Marx: Wenn wir zum Beispiel an die Ausnahmezustände in Hongkong denken, in den USA, die Black Lives Matter Bewegung, Massenproteste in Chile, Frankreich, die Situation in Brasilien, Russland, der Türkei. Das sind Gründe, warum Benjamin immer noch aktuell ist.
Sprecherin: Heute ist die Welt nur vordergründig eine andere. Kriege, Krisen, Ausbeutung und Ausnahmezustände bestimmen noch immer den Lauf der Welt.
OT 02 - Ursula Marx: Ich glaube, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Wir sind Opfer von Gewalt, und wir müssen das ändern. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.
Ansage: „Der Philosoph Walter Benjamin – Die Schatten des Fortschritts“. Von Philipp Lemmerich.
Regie: Trenner Musik
Sprecherin: Walter Benjamin wird 1892 als Sohn des Kunsthändlers Emil Benjamin und dessen Frau Pauline in Berlin-Charlottenburg geboren. Die Familie gehört dem assimilierten Judentum an und hat es im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einigem Wohlstand gebracht. 1917 heiratet Benjamin die Journalistin Dora Sophie Kellner und versucht sich zunächst an einer Universitätskarriere. Obwohl er mit summa cum laude promoviert, scheitert er mit seiner Habilitationsschrift zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ 1925 an der Universität Frankfurt. Sein Stil: zu unorthodox für den akademischen Betrieb.
In den Blütejahren der Weimarer Republik macht sich Benjamin als Autor und Literaturkritiker einen Namen. Er verfasst unzählige Aufsätze und Radiosendungen, übersetzt Marcel Proust aus dem Französischen und schult seine philosophischen Überlegungen in Briefwechseln, die heute ganze Bände füllen: Bertolt Brecht, Theodor Adorno, Gershom Scholem, und viele andere. Er bereist Europa und reflektiert über Kunst, Kultur, Ästhetik.
Doch als jüdischer Intellektueller hat Benjamin ein feines Gespür für die Brüche in der Gesellschaft, in denen zunehmend der Faschismus gedeiht. 1932 notiert er:
Sprecher (Zitation Benjamin 3): „Pessimismus auf der ganzen Linie. Misstrauen in das Geschick der Literatur, Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Misstrauen und Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung; zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen.“
Sprecherin: Benjamins düstere Prophezeiungen treten ein. Im Nazi-Deutschland wird er zum Geächteten. Im September 1933, ein halbes Jahr nach Hitlers Machtergreifung, flieht er ins Exil nach Paris.
Regie: Trenner Atmo
Sprecherin: Finanziell ist das Exil für Benjamin ein Desaster. Einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts: ohne Sprachrohr, ohne Zuhörerschaft, ohne Einkommen. An seinen Freund Gershom Scholem schreibt er verbittert:
Sprecher (Zitation Benjamin 4): „Es steht so, dass unter den verschiedenen Gefahrenzonen, in die sich die Erde für die Juden aufteilt, für mich Frankreich gegenwärtig die bedrohlichste ist, weil ich hier ökonomisch vollkommen isoliert stehe.“
Sprecherin: Doch auch abseits seiner persönlichen Situation stellt sich Benjamin die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte aus Europa ein Kontinent des Schreckens werden?
Immer wieder bleiben seine Gedanken an einer Aquarellzeichnung des expressionistischen Malers Paul Klee hängen, die Benjamin 1920 gekauft hat. Darauf zu sehen: ein Engel, der mit aufgerissenen Augen etwas anzustarren scheint. Der Engel der Geschichte.
Sprecher (Zitation Benjamin 5): „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“
OT 03 - Claudia Kalász: Dieser Engel der Geschichte, der sieht das, was in der traditionellen Geschichtsschreibung als Kontinuum beschrieben wird, als einen Trümmerhaufen. Dieses Kontinuum – dass die herrschenden Verhältnisse, Eigentumsverhältnisse, Produktionsverhältnisse, so wie sie sind, immer weiter perpetuiert werden – das ist die Katastrophe, und das ist die zerstörende Kraft.
Sprecherin: Claudia Kalász, Philosophin und Benjamin-Kennerin aus Barcelona.
OT 04 - Jörg Rudolf Zimmer: Diese Exil-Zeit, die biografisch und persönlich in diesem politischen Zusammenhang natürlich sehr, sehr schlimm für ihn war, verbindet sich dann mit einer theoretischen Sicht auf Geschichte, die sowieso von Anfang an niemals etwas mit Fortschrittsoptimismus zu tun gehabt hat.
Sprecherin: Jörg Rudolf Zimmer, Professor für Philosophie an der katalanischen Universität Girona.
OT 05 - Jörg Rudolf Zimmer: Der Hintergrund ist die eigentliche Geschichtswissenschaft, (...) der sogenannte Historismus, und der geht davon aus, (...) so eine Art von Positivismus, dass man nur alles zusammensuchen muss. Und wenn man alle Dokumente einer Epoche hat, dann hat man sozusagen (...) das Puzzle zusammengesetzt. Das ist die Idee der klassischen Historiker im 19. Jahrhundert, und das ist genau die Idee, gegen die Benjamin argumentiert. Das Puzzle ist nicht zu rekonstruieren, weil nämlich es immer auf einer Konstruktion beruht. Und Konstruktion heißt nichts anderes als ein Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit.
Sprecher (Zitation Benjamin 6): Ein Sturm treibt den Engel unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.
Sprecherin: Im Sommer 1940 treten die Trümmer der Geschichte offen zutage. Nazi-Deutschland unterjocht Europa, der Siegeszug des Faschismus scheint unaufhaltsam. Benjamin
ist nun schon seit sieben Jahren im Exil in Paris und geht beflissentlich Tag für Tag von seiner kleinen Wohnung im XV. Arrondissement in die Bibliothèque Nationale. Doch er ahnt, dass seine Zeit begrenzt ist.
OT 06 - Stéphane Hessel (+ Sprecher Übersetzung)
Sprecher A-OV: In diesem Jahr 1940, als die deutsche Armee allgegenwärtig war, als die Vernichtung der Juden bereits begonnen hatte, hatten die Demokratien nichts mehr entgegenzusetzen.
Sprecherin: Stéphane Hessel, französischer Intellektueller, in einem Dokumentarfilm des spanisch-argentinischen Filmemachers David Mauas.
Sprecher A-OV: Für Benjamin, ein überzeugter Demokrat, bedeutete das ein Gefühl tiefen Misstrauens. Er fühlte, dass er Recht gehabt hatte, als er sagte, dass Geschichte rückwärtsgewandt sei wie der Engel von Paul Klee und dass der Fortschritt Angst bescherte."
Regie: Trenner Musik
Sprecherin: Für Walter Benjamin ist klar: Die Keime des Faschismus, die im 20. Jahrhundert aufgehen, wurden schon viel früher gesät. Der Faschismus ist nicht der Epochenbruch. Der Faschismus geht aus dem Fortschrittsglauben der Moderne hervor. Und doch lässt Benjamin Raum für einen Ausweg.
Sprecher (Zitation Benjamin 7): „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst.“
Sprecherin: Wer mit dem Kontinuum der Zeit bricht, wer die Fortschrittsideologie als Technik der Herrschenden erkennt, kann in der Vergangenheit Elemente der Subversion erkennen. Kann die wirklichen, die radikalen Fragen stellen.
OT 08 - Ursula Marx: Sein Interesse liegt nicht darin zu erfassen, was in der Vergangenheit gewesen ist, sondern in dem, was einmal möglich gewesen war, aber nicht zur Geltung gekommen ist. Das sind die Geschichten, die Stimmen der Unterdrückten oder der von der Geschichte einfach Übersehenen.
Sprecherin: Ursula Marx, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walter-Benjamin-Archiv in Berlin.
OT 09 - Jörg Rudolf Zimmer: Der innerste Sinn dieses Verfahrens ist Kritik, nämlich Kritik an einer Geschichte, die immer nur die Tradition der Herrschenden ist. Und es geht darum, die andere Kultur sichtbar zu machen und auch ihr eine Stimme zu geben.
Sprecherin: Am 14. Juni 1940 marschiert die Wehrmacht in Paris ein. Benjamin hat bis zuletzt an seinen Manuskripten gearbeitet, er nimmt einen der letzten Züge nach Süden. Vom Küstenstädtchen Banyuls-sur-Mer am Fuße der Pyrenäen aus will Benjamin durch Spanien nach Portugal und dann weiter mit dem Schiff nach New York. Doch dafür muss er erst einmal aus Frankreich herauskommen. Die Zeit drängt, denn die Vichy- Regierung liefert Exilierte kompromisslos an die Deutschen aus.
Sprecherin B (Zitation Fittko 8): „Es ist jetzt schon über vierzig Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau daran, mit allen Einzelheiten. Oder könnte es sein, dass ich es mir nur einbilde?
Sprecherin: Benjamin wird an die Widerstandskämpferin Lisa Fittko vermittelt, die Exilierte bei der Flucht über die Pyrenäen unterstützt. Sie erinnert sich in ihren Memoiren:
Sprecherin B (Zitation Fittko 9): „Ich rieb mir die Augen – vor mir stand einer unserer Freunde, Walter Benjamin.
‚Gnädige Frau', sagte er, ‚entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen' Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.“
Regie: Trenner Musik
Sprecherin: Die Gegend wird längst von der französischen Grenzpolizei und von der Gestapo überwacht. Fittko führt Benjamin und zwei weitere Emigranten über einen Pyrenäengipfel im Hinterland.
Regie: Atmo Wanderung
Autor: Heute heißt der Weg „Chemin Walter Benjamin“: Am Ortsausgang von Banyuls-sur- Mer weist eine große Infotafel auf ihn hin.
Für meine Recherche will ich ihn entlangwandern.
Ich will verstehen, wie Benjamin diesen Ort erlebt hat, als herzkranker Philosoph im Gebirge auf der Flucht. Es ist Nachmittag, als ich aufbreche. Eine sengende Hitze.
Der Weg schlängelt sich durch Weinberge, lieblich schon fast. Nach zwei Stunden wird er steiler, unwegsamer, steiniger. Das staubige Geröll rutscht unter den Füßen weg. Die Pyrenäen: dunkle Silhouetten im Sonnenlicht.
Nach drei Stunden der Gipfel, gleichzeitig Grenze und Ort der Rast. Den Grenzstein suche ich vergeblich. Zu beiden Seiten des Bergkamms das Meer. Rechterhand das spanische Städtchen Portbou, es kann nicht mehr weit sein.
Regie: Trenner Musik
Autor: Der Abstieg wird noch steiler, noch steiniger, noch garstiger. Ein Weg kaum mehr erkennbar zwischen Geröll und stacheligem Gestrüpp. Immer ist dort unten Portbou, das Ziel, aber es will nicht näherkommen.
Wer aus den Bergen nach Portbou gelangt, läuft auf eine riesige Mauer zu. Dort oben verbirgt sich der Bahnhof, 1929 eingeweiht, ein Ungetüm, Umschlagplatz, Güterbahnhof und heute, dank Schengen, seiner Funktion beraubt. Wer hinab möchte ins Dorf, muss durch einen langen, feuchten Tunnel. Fledermäuse flattern durch das Dämmerlicht.
Sprecherin: Am 26. September 1940 kommen Walter Benjamin, seine Reisebegleiterin Henny Gurland und deren Sohn Josef nach zehn Stunden Marsch in Portbou an. Doch aus der vermeintlichen Freiheit wird eine Falle: Die spanische Grenzpolizei verbietet ihnen die Weiterreise:
Eine neue Anordnung, ihnen fehle der französische Ausreisestempel, ohne den gehe es nicht weiter. Am Folgetag sollen sie zurück nach Frankreich deportiert werden.
Doch soweit kommt es nicht. Am nächsten Morgen ist Walter Benjamin tot. Er habe eine Überdosis Morphium genommen, wird seine Reisebegleiterin Henny Gurland berichten. Seinen vermeintlichen Abschiedsbrief schreibt sie später aus dem Gedächtnis nieder – das Original habe sie aus Angst vernichten müssen.
(Regie: z. B. französisch / deutsch im Wechsel, evtl. mit Frauenstimme Sprecherin 1 überlagern)
Sprecher (Zitation Benjamin 10): – In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden.
Sprecher (Zitation Benjamin): – In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen.
Sprecher (Zitation Benjamin): – Wo mich niemand kennt, wird mein Leben ein Ende finden.
Sprecher (Zitation Benjamin): – Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln.
Sprecher (Zitation Benjamin): – Und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe.
Sprecher (Zitation Benjamin): – Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben,
Sprecher (Zitation Benjamin): – die ich gerne geschrieben hätte.
Sprecherin: Nur einen Tag später wird die Anordnung der spanischen Behörden aufgehoben. Der Weg durch Spanien wäre wieder frei gewesen.
Sprecher (Zitation Benjamin 11): „So ist denn, wie Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns.“
Sprecherin: Der Mensch Walter Benjamin ist gescheitert. Auf der Flucht vor dem Faschismus fand er den Tod. Ein Schicksal, in dem sich Europas blutige Geschichte des 20.
Jahrhunderts wie in einem Brennglas zeigt. Doch der Philosoph Walter Benjamin lässt auch noch in der Katastrophe ein Moment der Hoffnung zu.
Sprecher (Zitation Benjamin 12): „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. (...). Den Juden wurde die Zukunft aber darum nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“
OT 10 - Claudia Kalász: Ich denke, es steckt in dem Wunsch der Rettung. Der Wunsch der Rettung von etwas, was verloren ist, ist nicht zu denken, ohne etwas Transzendentes, das die Realität übersteigt. Kant hätte gesagt, das ist eine regulative Idee.
Sprecherin: In einem Moment in der Geschichte, in der es keinen Ausweg aus der Verdammnis des Faschismus zu geben scheint, verortet Benjamin die Rettung in der Erlösung.
OT 11 - Claudia Kalász: Diese theologische Komponente ist weltlich, ist nicht transzendental. Das ist profane Erleuchtung. Es ist wichtig für uns irdische Menschen, es ist die Verwirklichung der Leitidee der Erlösung in unserem Leben. Etwas, was wir vielleicht nie vollständig erreichen können. Die vollkommen erlöste Menschheit ist sicherlich unerreichbar in unserem kontingenten Leben. Aber als regulative Idee, als leitende Idee ist sie wichtig, damit wir nicht in den Alltagsgeschäften steckenbleiben.
Sprecherin: Die Geschichte der Menschheit ist nicht auf ewig dazu verdammt, Unheilsgeschichte zu sein. Doch es braucht einen Boten, der über das Bestehende hinausweist. Ein messianisches Erwachen.
Regie: Trenner Musik
Sprecherin: Schon wenige Tage später erfahren Benjamins Kollegen und Freunde von seinem Tod in Portbou. Sie gehen fest von einem Suizid aus. Erst Jahrzehnte später kommen Zweifel auf. Wie verlässlich ist ein rekonstruierter Abschiedsbrief – wie der von Henny Gurland? Wie tragfähig sind Memoiren, die 40 Jahre später aufgeschrieben wurden – wie die von Lisa Fittko?
Sprecher A-OV: Dieses schon fast detektivische Rätsel zog mich unfassbar an. Es passte einfach alles nicht zusammen. Wenn man ein Organigramm der beteiligten Charaktere zeichnet, sieht man, dass sich nichts mit Sicherheit sagen lässt.
Dazu tauchte eine Frage auf, die mit Benjamins Gedanken zusammenhängt: Wie und auf welche Weise wird Geschichte weitergetragen, wie verstehen wir sie, wie erreicht sie die Gegenwart? Oder um es anders zu sagen: Wie wird die Legende konstruiert?
Autor: Wenn Geschichte eine Konstruktion der Nachwelt ist – warum sollte das dann nicht auch auf die Umstände von Benjamins Tod zutreffen? Diese Frage stellte sich der argentinische Filmemacher David Mauas am Anfang einer jahrelangen Recherche. In detektivischer Kleinarbeit trug er alle Unstimmigkeiten zusammen, die Benjamins Tod umgaben. Sein Film „Wer tötete Walter Benjamin?“ wurde 2005 veröffentlicht.
Regie: Ausschnitt Film als Atmo
Sprecherin: Der Besitzer der Pension, in der Benjamin starb: erwiesenermaßen ein Faschist. Der Totenschein: ausgestellt von einem Arzt, der nicht vor Ort sein konnte.
Auf dem Totenschein eine andere Todesursache als in Gurlands Erinnerung, ein anderes Sterbedatum als im Kirchenregister. Benjamin – Kommunist, Jude, Selbstmörder – begraben auf einem katholischen Friedhof? Und war die Gestapo nicht längst in Portbou vor Ort?
Sprecher A-OV: Ich wollte den Namenlosen dieser Geschichte eine Stimme geben. All die Akademiker und Historiker, die über Benjamin in Portbou gesprochen oder geschrieben haben, haben sich nicht die Mühe gemacht, die Menschen in Portbou zu fragen, was sie dachten oder was passiert sein könnte. Ich finde das ungeheuerlich.
Regie: Ausschnitt Film als Atmo
Sprecher A-OV: Die Idee von Benjamins Selbstmord hat ihnen gefallen, sie schien ihnen plausibel und so ist es dann geblieben. Heute hat sich diese Version in ein Dogma verwandelt.
Warum nehmen die meisten die Selbstmord-These einfach so hin? Ganz einfach: Wie ist der akademische Diskurs aufgebaut? Und das halte ich für wirklich wichtig: Zitat über Zitat über Zitat. Und niemand sieht sich die Quelle genauer an.
Sprecher A-OV: Oft wird Geschichte auf Grundlagen konstruiert, die es nicht gibt. Es wird eine Realität erzeugt, die keiner Überprüfung standhält.
Regie: Atmo Portbou
Sprecherin B-OV: Wir befinden uns auf dem Friedhofshügel von Portbou. Wir blicken auf das Meer und auf die Klippen, die direkt nach Frankreich führen, wir sind nur einen Kilometer von der Grenze entfernt.
Autor: Pilar Parcerisas, Kunsthistorikerin und Kuratorin, steht auf einer Anhöhe und blickt über Portbou. Linkerhand toben Kinder am Strand, rechterhand fallen die Klippen jäh ab ins Meer.
Sprecherin B-OV: Es ist ein Ort, an dem im spanischen Bürgerkrieg 300.000 Menschen ins Exil nach Frankreich geflohen sind, aber auch ein Ort, an dem kurz darauf viele deutsche Intellektuelle die Grenze überschritten haben. Heinrich Mann, Alma Mahler, Franz Werfel und viele andere.
Auch viele jüdische Flüchtlinge wurden durch die Tunnel der Züge nach Portbou geschleust. Diese Landschaft ist ein Paradies – und gleichzeitig wissen wir, dass diese schrecklichen Dinge hier passiert sind, wissen wir von der historischen Schuld.
Sprecherin: Um diesem historischen Ort zu gedenken, entwarf der israelische Künstler Dani Karavan ein Memorial, das heute weltberühmt ist: „Passagen“, eine Hommage an Walter Benjamin und alle, die folgten – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof von Portbou.
Sprecher (Zitation Dani Karavan 13): „Auf dem Friedhof habe ich verstanden, dass an der Stelle, wo Benjamin ruht – und niemand weiß genau wo auf dem Friedhof –, dass nur dort der Ort sein kann, um sein Andenken aufzuzeigen, wie auch seine Tragödie [...].
Das Geräusch der Züge, von dem großen Grenzbahnhof her, wie das Geräusch der Deportation zu den Lagern. Der Tod, die Grenze, die Hoffnung; ich hatte keine andere Wahl, ich hatte gar keine Wahl, alles wurde mir diktiert.
Regie: Atmo Memorial
Autor: Wer heute das Memorial besucht, sieht als erstes einen Tunnel aus rostigem Stahl.
Er ist in den Fels getrieben, 84 Stufen geht es nach unten. Jeder Schritt hallt wider. Dunkelheit. Am Ende ein kleines Fenster, das größer wird, je näher man herantritt.
Nur Wasser ist zu sehen und ein Fels, um den die Wellen spielen. Reflektierendes Licht im Wasser. Und dann, bei der nächsten Stufe, öffnet sich der Horizont, der Tunnel ist zu Ende. Bei den letzten Stufen scheint der Abhang nah, doch eine Platte aus Glas versperrt den Weg, darauf eingraviert der berühmte Benjamin-Satz:
„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“
Sprecherin: Walter Benjamin ist heute an dem Ort, an dem er starb, kein Namenloser mehr. Auch Benjamins geschichtsphilosophische Thesen sind heute nicht vergessen. Die historischen Umstände sind heute zwar andere als zur Zeit ihrer Entstehung. Aber die Idee, Geschichte nicht als Fortschritt zu begreifen, ist ungebrochen aktuell.
OT 17 - Ursula Marx: Ich glaube aus diesem Gedanken heraus, dass gerade in Krisensituationen, in Protestsituationen die Menschen diesen Gedanken fruchtbar machen und sagen: Seit Jahren (...) werden wir unterdrückt und falsch behandelt. Wir sind Opfer von
Gewalt, und wir müssen das ändern. Wir müssen damit brechen. Wir müssen diese Traditionen aufbrechen und etwas tun, dass die Gesellschaft sich erneuert.
Sprecherin: Walter Benjamins Geschichtsphilosophie wird heute hauptsächlich in Ländern außerhalb Europas gelesen. Überall dort, wo Menschen auf die Straße gehen und ihre Rechte geltend machen. Wo sich die Unterdrückten zu Wort melden.
In Kriegen, in politischer Unfreiheit, in einem ausbeuterischen Wirtschaftssystem zeigen sich die Risse und Schründe einer kaputten Welt.
OT 18 - Claudia Kalász: Ich denke, da müssen wir uns auch mal fragen: Wie geht's uns denn eigentlich mit unserer Vergangenheit? Wann können wir sie uns aneignen, in welchen Situationen?
Sprecherin: Claudia Kalász, Walter Benjamin-Kennerin aus Barcelona.
Auch hierzulande hat der Philosoph nicht an Aktualität verloren. Denn unsere Gegenwart ist auf jenen Trümmern der Vergangenheit gebaut, die Benjamin beschrieben hat.
OT 19 - Claudia Kalász: Die Rettung. Auferstanden aus den Trümmern. Tatsächlich in Deutschland präsentiert sich das erstmal so als Bild der Heilung. Bloß was für eine Heilung hat denn da stattgefunden? Der Wohlstand wurde teuer erkauft. Im Wohlstand, in den Bildern des Wohlstands sind vielleicht gerade diese menschlichen Aspekte und dieser politische Wille zur Freiheit und zur Selbstverwaltung untergegangen.
Sprecher (Zitation Benjamin 14): „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte.
Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“
Sprecherin: Auch heute ist das Versprechen des Fortschritts oft zu hören. Doch dass der Pfad des Wachstums und des ‚Weiter so' keine Zukunft hat, wird in der herannahenden Klimakrise zur bitteren Erkenntnis.
Walter Benjamin zeigt uns: Emanzipation besteht gerade darin, aus dem Lauf der Geschichte auszubrechen.
Sprecherin B-OV: Fortschritt gibt es nicht gratis, er hat seinen Preis. Das müssen wir verstehen, wenn wir unsere Welt verbessern wollen. Aber wir halten nicht inne, um nachzudenken. Wir machen weiter, immer mehr und immer mehr und immer schneller und immer schneller. Die Geschwindigkeit bringt uns den Krieg und die ökologische Krise und die Wirtschaftskrise.
Sprecherin B-OV: Es kann nicht nur einen Gott geben, den Gott des Fortschritts und den Gott des Geldes.
Es muss eine andere Dialektik geben, und ich denke, dass uns Benjamin in diesem Zusammenhang eine Tür öffnet, hin zu einer neuen Dimension. Es ist das, was Benjamin heute noch so relevant und auch posthum so erfolgreich macht. Seine Intuition wurde nicht widerlegt, sie ist immer noch gültig.
Sprecherin B-OV: Solange die Geschichte das alles nicht überwunden hat, wird auch der Name Benjamin nicht verschwinden.
Regie: Musik
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