18. Kapitel - 01
Tag um Tag, Woche um Woche verflossen nach meiner Ankunft in Genf, und immer fand ich den Mut nicht, an mein Werk zu gehen. Ich fürchtete mich vor dem verhaßten Dämon, war aber nicht imstande, das Grauen zu überwinden, das ich gegen die mir aufgezwungene Arbeit empfand. Ich hatte unterdessen erfahren, daß ein englischer Philosoph Studien gemacht hatte, deren Kenntnis für das Gelingen meines Werkes wesentlich war, und hoffte ich von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, zu diesem Zwecke England zu besuchen. Ich klammerte mich an jede Gelegenheit, die Sache hinauszuschieben, und zögerte den ersten Schritt zur Erfüllung meines Versprechens zu tun. An mir selbst hatte sich eine wesentliche Änderung vollzogen. Mein Gesundheitszustand, der bisher nicht der beste gewesen war, war bedeutend günstiger und mein Gemüt war wieder heiterer geworden, wenn mich nicht gerade die Erinnerung an mein unseliges Vorhaben quälte. Mein Vater schien diese Veränderung mit Freuden zu bemerken und sann auf Mittel, meine trüben Gedanken, die hier und da wiederkehrten und wie düstere Schatten sich vor mein kommendes Glück stellten, gänzlich zu vertreiben. In diesen Augenblicken der Niedergeschlagenheit suchte ich in vollkommenster Einsamkeit meine Zuflucht. Ich verbrachte ganze Tage allein in einem Boote auf dem See, sah dem Fluge der Wolken zu und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen am Kiel. Die frische Luft und der warme Sonnenschein verfehlten auch nie ihre Wirkung auf mein Gemüt und ich konnte dann bei meiner Heimkehr die Begrüßung der Meinen immer mit leichterem Herzen und mit froherem Sinne entgegennehmen.
Als ich wieder einmal von einem solchen Ausflug zurückkehrte, nahm mich mein Vater auf die Seite und sagte:
»Ich habe mit großer Freude gemerkt, mein lieber Sohn, daß dein früherer Frohsinn zurückkehrt und du wieder der wirst, der du einst warst. Und dennoch bist du noch immer nicht ganz glücklich und meidest unsere Gesellschaft. Längere Zeit konnte ich mir keinen Grund dafür denken. Gestern aber kam mir eine Idee, und wenn etwas daran ist, so beschwöre ich dich, es mir zu gestehen. Rücksichtnahme in dieser Sache ist gar nicht angebracht, sondern würde nur noch mehr Unheil über uns bringen.«
Ich zitterte bei dieser Einleitung, und mein Vater fuhr fort:
»Ich muß dir ja gestehen, lieber Viktor, daß ich deine Verbindung mit unserer lieben Elisabeth stets als die Krönung unseres Glücks anzusehen pflegte, als die Freude meines herannahenden Alters. Ihr habt einander von frühester Jugend an gern gehabt, habt mit einander gelernt und scheint nach Anlagen und Geschmack wie für einander bestimmt. Aber so blind sind wir Menschen. Das, was ich für das beste hielt, um meine Zukunftspläne zu fördern, war vielleicht am meisten geeignet ihnen entgegenzuarbeiten. Du hast sie jedenfalls nur als Schwester lieben gelernt und hegst gar nicht den Wunsch, sie als deine Frau zu besitzen. Ich glaube eher, daß du eine andere liebgewonnen hast und daß dich der Kampf deiner Liebe gegen die von dir bereits übernommene Pflicht so elend macht.«
»Du befindest dich im Irrtum, lieber Vater. Ich liebe Elisabeth herzlich und aufrichtig. Ich habe nie ein Weib kennen gelernt, das meine Bewunderung und Zuneigung so erregt hätte, wie es Elisabeth tut. Der Gedanke an meine Zukunft hängt eng mit dem an meine Verbindung mit ihr zusammen.«
»Das, was du mir sagst, macht mir mehr Freude, als ich sie seit langem empfunden. Wenn es so ist, dann werden wir sicherlich glücklich werden, wenn auch über der Gegenwart noch die düsteren Schatten der jüngsten Ereignisse lagern. Der Kummer hat uns alle so in seinen Bann gezogen, daß ich mit allen Mitteln ihn zu zerstreuen suchen muß. Sage mir also, ob du gegen die baldige Hochzeit etwas einzuwenden hast. Die unseligen Ereignisse lassen mich vorzeitig alt und schwach werden; und wenn ich das Glück noch erleben soll, darfst du nicht mehr lange zögern, es sei denn, daß irgendwelche Dispositionen bestehen, die dir zunächst die Heirat noch unerwünscht erscheinen lassen. Nicht als ob ich dich drängen wollte. Nimm meine Worte so auf, wie sie gemeint sind, und antworte mir frei und offen.«
Ich hatte meinem Vater schweigend zugehört und war lange nicht imstande, irgendetwas zu erwidern. In rasender Eile schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf und ich war unfähig, zu einem endgültigen Entschluß zu kommen. Die Idee meiner sofortigen Verbindung mit Elisabeth mußte mir unter den obwaltenden Verhältnissen natürlich Sorge und Unbehagen einflößen. Ich war durch ein feierliches Versprechen gebunden, das noch nicht eingelöst war, aber auch nicht gebrochen werden durfte. Oder wenn ich dies dennoch wagte, was stand alles mir und meinen Lieben bevor? Konnte ich das Freudenfest begehen mit der furchtbaren Last, die mir den Nacken beugte und mich zu Boden drückte? Ich mußte zuerst meiner Verpflichtung nachkommen und den Dämon mit seiner Genossin weit in die Welt hinausgesandt haben, ehe ich daran denken konnte, in der ersehnten Verbindung den lang entbehrten Frieden zu finden.