Der Tempel - 05
Ich konnte Samstag Nacht nicht schlafen und schaltete die Lichter ein ohne mich um die Zukunft zu kümmern. Es war ärgerlich, dass die Elektrizität nicht Sauerstoff und Vorräte überdauern sollte. Ich fachte erneut meine Gedanken an einen sanften Tod an und begutachtete meine automatische Pistole. Gegen Morgen muss ich bei brennenden Lichtern eingeschlafen sein, denn ich erwachte gestern Nachmittag in Dunkelheit und fand die Batterien leer vor. Ich strich nacheinander mehrere Streichhölzer an und ärgerte mich über die Unbedachtheit mit der wir vor langer Zeit die wenigen Kerzen, die wir mitführten aufgebraucht hatten.
Nach dem Erlöschen des letzten Zündholzes, das ich zu Verschwenden wagte, saß ich sehr still und ohne Licht. Als ich das unausweichliche Ende bedachte, flohen meine Gedanken durch alle vorangegangenen Ereignisse und formten in mir einen bis dahin ruhenden Eindruck, der einen schwächeren und abergläubischen Mann hätte erzittern lassen: Der Kopf des strahlenden Gottes in den Skulpturen auf dem Felsentempel gleicht dem auf dem geschnitzten Stück Elfenbein, das der tote Matrose aus dem Meer brachte und das der arme Klenze wieder mit ins Meer genommen hatte.
Ich war durch diesen Zufall etwas verstört, doch er machte mir keine Angst. Nur ein minderwertiger Denker hastet danach, das Einmalige und Komplizierte durch die primitive Abkürzung des Übernatürlichen zu erklären. Der Zufall war außergewöhnlich, doch ich war ein zu nüchterner Geist um diese jeglichen logischen Zusammenhangs entbehrenden Umstände zu verbinden oder auf unheimliche Weise die desaströsen Ereignisse, die von der Victory-Sache bis zu meiner gegenwärtigen Notlage führten damit zu verknüpfen. Das Bedürfnis nach mehr Erholung verspürend, nahm ich ein Beruhigungsmittel und schlief noch etwas. Mein aufgeregter Zustand spiegelte sich in meinen Träumen, denn mir war als hörte ich die Schreie von Ertrinkenden und sähe tote Gesichter sich gegen die Luken des Bootes drücken. Zwischen den Toten war das lebendige, spöttische Gesicht des Jünglings mit dem Elfenbeingötzen.
Ich muss mein heutiges Erwachen gewissenhaft aufzeichnen, denn ich bin überspannt und viele Halluzinationen sind zwangsläufig mit den Fakten durchmischt. Unter psychologischem Gesichtspunkt ist mein Fall sehr interessant und ich bereue, dass er nicht von einem kompetenten, Deutschen Experten studiert werden kann. Als ich die Augen öffnete war meine erste Empfindung ein überwältigendes Verlangen, den Felsentempel zu besuchen. Ein Verlangen, das mit jedem Augenblick wuchs, doch dem ich unwillkürlich zu widerstehen versuchte aus einem Gefühl von Angst, das in die entgegengesetzte Richtung arbeitete. Als nächstes kam mir der Eindruck von Licht in der Dunkelheit der leeren Batterien und mir war, als sähe ich ein phosphoriszierendes Leuchten im Wasser durch das Bullauge, das sich zum Tempel hin wandte. Dies erregte meine Neugier, denn mir fiel kein Organismus der Tiefsee ein, der solche Leuchtkraft aussenden konnte. Doch bevor ich dies untersuchen konnte, überkam mich eine dritte Vermutung, die mich aufgrund ihrer Irrationalität an der Wirklichkeit allen zweifeln ließ, das meine Sinne vernahmen. Es war eine Täuschung meiner Ohren, eine Empfindung rhythmischen, melodischen Klanges wie von einem wilden und doch wunderschönen Gesang oder Choral, die von draußen durch die absolut schalldichte Hülle der U29 drang. Überzeugt von meiner psychologischen und nervlichen Auffälligkeit, entzündete ich einige Streichhölzer und schenkte mir eine heftige Dosis Natriumbromidlösung ein, die mich soweit zu beruhigen schien, dass sich die Klangillusion zerstreute. Doch die Phosphoreszenz blieb und ich tat mich schwer darin, einen kindischen Impuls zu unterdrücken, zum Bullauge zu gehen und seine Quelle zu suchen. Sie war unheimlich realistisch und ich konnte mit ihrer Hilfe bald die vertrauten Objekte um mich herum erkennen, sowie das leere Natriumbromidglas, von dessen jetzigem Standort ich zuvor keinen visuellen Eindruck gewonnen hatte. Letzterer Umstand ließ mich ins Grübeln kommen und ich durchquerte den Raum und berührte das Glas. Es war in der Tat dort wo ich es wahrgenommen hatte. Nun wusste ich, dass das Licht entweder real war, oder Teil einer so unveränderlichen und konsistenten Halluzination, dass ich sie nicht zu vertreiben hätte vermögen können. Allen Widerstand aufgebend stieg ich hinauf in den Kommandoturm um nach dem Leuchteffekt Ausschau zu halten. Könnte es nicht ein anderes Uboot sein, das die Möglichkeit zur Rettung bot?
Es ist weise, wenn der Leser nichts des nun Folgenden als objektive Wahrheit hinnimmt, den da diese Ereignisse die Naturgesetze übertreten, sind sie zwangsläufig die subjektive und irreale Schöpfung meines Überforderten Verstandes. Als ich den Kommandoturm erreichte, fand ich die See weit weniger leuchtend vor als ich erwartet hatte. Dort fand sich keine tierische oder pflanzliche Phosphoreszenz und die Stadt, die sich hinunter zum Fluss wand, war unsichtbar in Dunkelheit. Was ich sah war nicht spektakulär, nicht grotesk oder erschreckend, doch nahm es mir das letzte Überbleibsel an Vertrauen in mein Bewusstsein. Denn das Tor und die Fenster des unterseeischen Tempels, der aus dem felsigen Hügel gehauen war, glühten lebhaft mit flackerndem, strahlenden Glanz wie von einem mächtigen Altarfeuer tief dort drinnen.
Weitere Vorfälle sind chaotisch. Als ich in das unheimlich erleuchtete Tor und die Fenster starrte, sah ich mich den ausschweifendsten Visionen ausgesetzt --- Visionen so ausschweifend, dass ich sie nicht einmal berichten kann. Ich wähnte, Objekte in dem Tempel zu erkennen --- Sowohl Unbewegliche als auch sich Bewegende. --- und ich schien wieder den unwirklichen Gesang zu hören, der mich erreicht hatte als ich zuvor aufgewacht war. Und über all das erhoben sich Gedanken und Ängste, die sich um den Jüngling aus der See drehten und um den Elfenbeingötzen, dessen Schnitzerei sich an den Friesen und Säulen des Tempels vor mir vervielfältigt zeigte. Ich dachte an den armen Klenze und fragte mich, wo nun seine Leiche ruhte, mit dem Götzen, den er wieder mit in die See genommen hatte. Er hatte mich vor etwas gewarnt und ich hatte nicht darauf gehört --- doch er war ein schwachköpfiger Rheinländer, der wahnsinnig wurde im Angesicht von Schwierigkeiten, die ein Preusse mit Leichtigkeit ertragen konnte.
Der Rest ist sehr einfach. Mein Antrieb, den Tempel zu besuchen und zu betreten ist nun zum unerklärlichen und gebieterischen Befehl geworden, der letztendlich nicht verweigert werden kann. Mein eigener, Deutscher Wille hat keine Kontrolle mehr über meine Taten und Willensentscheidungen sind fortan nur noch bei Nebensächlichkeiten möglich. Dieser Wahnsinn trieb Klenze in den Tod, barhäuptig und ungeschützt in den Ozean, doch ich bin ein Preusse und ein Mann von Verstand und werde mir bis zuletzt das bisschen was ich noch besitze zunutze machen. Als ich erkannte, dass ich gehen muss, habe ich meinen Taucheranzug, Helm und Luftregenerator zum sofortigen Überziehen vorbereitet und sofort begonnen, diesen hastigen Bericht aufzuschreiben in der Hoffnung, dass er eines Tages die Welt erreichen wird. Ich werde das Manuskript in einer Flasche versiegeln und der See anvertrauen wenn ich die U29 für immer verlasse.
Ich habe keine Angst, nicht einmal vor den Prophezeiungen des verrückten Klenze. Was ich gesehen habe kann nicht wahr sein und ich weiß, dass dieser Wahnsinn meines eigenen Willens allenfalls zum Erstickungstod führt, wenn mir die Luft ausgeht. Das Licht im Tempel ist eine reine Wahnvorstellung und ich werde seelenruhig sterben, wie ein Deutscher; in den schwarzen und vergessenen Tiefen. Das dämonenhafte Gelächter, das ich höre während ich dies schreibe kommt lediglich aus meinem schwächelnden Hirn. Ich werde nun sorgsam meinen Taucheranzug anlegen und mutig die Stufen zu dem urzeitlichen Schrein heraufsteigen; jenem stillen Geheimnis unergründeter Gewässer und ungezählter Jahre.