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YouTube | GERMANIA, GERMANIA | Nina Kharytonova

GERMANIA | Nina Kharytonova

Die Mädels aus Russland sind ja mit 15 auch schon

ziemlich stark geschminkt und achten enorm auf ihr Äußeres.

Da wurden z.B. Absatzschuhe ganz gerne mal getragen,

auch in der Schule, Miniröcke oder allgemein Kleider.

Viele Leute zeigten dann mit dem Finger auf mich.

Und sagten, wer ist die, wie sie die denn aus?

Ich heiße Nina Kharytonova. Ich lebe seit 1993 in Berlin.

Ich bin von der Krim hergezogen. Geboren wurde ich in Riga.

Derzeit arbeite ich als Schmuckdesignerin.

Ich habe ein eigenes Schmucklabel mit einem Deutschen zusammen

und designe jetzt Schmuck.

Meine Mutter wollte unbedingt aus der Sowjetunion auswandern.

Anscheinend hatten wir nicht genug zu essen.

Ich hab' das nicht wahrgenommen.

Sie kam ganz plötzlich an mit einem unbekannten Mann

und meinte, darf ich vorstellen, das ist dein neuer Vater.

Pack deine Sachen, wir fahren nach Deutschland, nach Berlin.

Ich war geschockt, habe viel geweint.

Im Auto habe ich drei Tage lang geweint.

Als wir nach Hellersdorf kamen, weinte ich nochmal zwei Wochen lang.

Ich habe sehr darunter gelitten, dass ich mein Nest verlassen musste

und ein neues Nest mir hier aufbauen musste.

Ich würde sagen, dass ich russisch geprägt nach Deutschland kam.

Die ganze Charakterformung hatte schon vorher stattgefunden.

Als ich herkam, hatte ich große Schwierigkeiten,

mich v.a. auch mental einzuleben.

Schon die Unterschiede zwischen den Jugendlichen

schon sehr enorm sind.

Ein ganz einfaches Beispiel:

In Russland, wenn alle zusammensitzen,

packt jeder seine Zigaretten auf'n Tisch.

In Deutschland macht das keiner. Wenn du keine Zigaretten dabei hast,

musst du erstmal schnorren´.

Du kannst auch "nein" als eine Antwort bekommen.

In Russland wäre das ein No Go.

Das waren Kleinigkeiten, wo ich einfach jemanden fragte:

Kann ich mal 'ne Zigarette von dir haben?

Die haben dann "nein" zu mir gesagt.

Ich war aus allen Wolken gefallen.

Ich bin dann ganz alleine, weil ich niemanden kannte,

ins Kino, zum Ku'damm gefahren.

Oder im Schloss Charlottenburg spazieren gegangen.

Finde ich sehr schön,

weil es ein typisch deutsches Baumerkmal für mich ist.

Es ist dunkel, und dann sind diese Kolonnaden da,

schon sehr gradlinig und fest und so bodenständig,

ohne viel Schnickschnack.

Jedes Mal, wenn ich da bin, stell' ich mir vor,

wie im 18.Jh. die Damen mit ihren Riesenkleidern spazieren gingen.

Da kann man sich vorstellen,

wie das alles noch vor 100 Jahren gewesen ist.

Sich ein bisschen in Fantasien schwelgen,

wie die Leute damals gelebt haben.

Ich habe mich bisher noch nie versucht zu identifizieren,

wer ich bin, Russin oder Deutsche.

Eigentlich bin ich irgendwie eine Russin,

weil ich da meine Kindheit verbracht habe.

Mittlerweile bin ich eingedeutscht.

Es gibt viele Leute, denen ich mich als Russin vorstelle,

sehen das nicht in mir.

Mittlerweile fühle ich mich wie ein Bürger dieser Welt.

Ich bin auch sehr froh darüber,

dass die Deutschen mich ein bisschen ruhiger gemacht haben,

auf den Boden der Tatsachen gebracht haben.

Gradlinigkeit, Pünktlichkeit oder Verlässlichkeit,

dass sie diese Charaktereigenschaften

in mir gestärkt haben.

Untertitel: ARD Text im Auftrag von Funk (2017)


GERMANIA | Nina Kharytonova GERMANIA | Nina Kharytonova

Die Mädels aus Russland sind ja mit 15 auch schon

ziemlich stark geschminkt und achten enorm auf ihr Äußeres.

Da wurden z.B. Absatzschuhe ganz gerne mal getragen,

auch in der Schule, Miniröcke oder allgemein Kleider.

Viele Leute zeigten dann mit dem Finger auf mich.

Und sagten, wer ist die, wie sie die denn aus?

Ich heiße Nina Kharytonova. Ich lebe seit 1993 in Berlin.

Ich bin von der Krim hergezogen. Geboren wurde ich in Riga.

Derzeit arbeite ich als Schmuckdesignerin.

Ich habe ein eigenes Schmucklabel mit einem Deutschen zusammen

und designe jetzt Schmuck.

Meine Mutter wollte unbedingt aus der Sowjetunion auswandern.

Anscheinend hatten wir nicht genug zu essen.

Ich hab' das nicht wahrgenommen.

Sie kam ganz plötzlich an mit einem unbekannten Mann

und meinte, darf ich vorstellen, das ist dein neuer Vater.

Pack deine Sachen, wir fahren nach Deutschland, nach Berlin.

Ich war geschockt, habe viel geweint.

Im Auto habe ich drei Tage lang geweint.

Als wir nach Hellersdorf kamen, weinte ich nochmal zwei Wochen lang.

Ich habe sehr darunter gelitten, dass ich mein Nest verlassen musste

und ein neues Nest mir hier aufbauen musste.

Ich würde sagen, dass ich russisch geprägt nach Deutschland kam.

Die ganze Charakterformung hatte schon vorher stattgefunden.

Als ich herkam, hatte ich große Schwierigkeiten,

mich v.a. auch mental einzuleben.

Schon die Unterschiede zwischen den Jugendlichen

schon sehr enorm sind.

Ein ganz einfaches Beispiel:

In Russland, wenn alle zusammensitzen,

packt jeder seine Zigaretten auf'n Tisch.

In Deutschland macht das keiner. Wenn du keine Zigaretten dabei hast,

musst du erstmal schnorren´.

Du kannst auch "nein" als eine Antwort bekommen.

In Russland wäre das ein No Go.

Das waren Kleinigkeiten, wo ich einfach jemanden fragte:

Kann ich mal 'ne Zigarette von dir haben?

Die haben dann "nein" zu mir gesagt.

Ich war aus allen Wolken gefallen.

Ich bin dann ganz alleine, weil ich niemanden kannte,

ins Kino, zum Ku'damm gefahren.

Oder im Schloss Charlottenburg spazieren gegangen.

Finde ich sehr schön,

weil es ein typisch deutsches Baumerkmal für mich ist.

Es ist dunkel, und dann sind diese Kolonnaden da,

schon sehr gradlinig und fest und so bodenständig,

ohne viel Schnickschnack.

Jedes Mal, wenn ich da bin, stell' ich mir vor,

wie im 18.Jh. die Damen mit ihren Riesenkleidern spazieren gingen.

Da kann man sich vorstellen,

wie das alles noch vor 100 Jahren gewesen ist.

Sich ein bisschen in Fantasien schwelgen,

wie die Leute damals gelebt haben.

Ich habe mich bisher noch nie versucht zu identifizieren,

wer ich bin, Russin oder Deutsche.

Eigentlich bin ich irgendwie eine Russin,

weil ich da meine Kindheit verbracht habe.

Mittlerweile bin ich eingedeutscht.

Es gibt viele Leute, denen ich mich als Russin vorstelle,

sehen das nicht in mir.

Mittlerweile fühle ich mich wie ein Bürger dieser Welt.

Ich bin auch sehr froh darüber,

dass die Deutschen mich ein bisschen ruhiger gemacht haben,

auf den Boden der Tatsachen gebracht haben.

Gradlinigkeit, Pünktlichkeit oder Verlässlichkeit,

dass sie diese Charaktereigenschaften

in mir gestärkt haben.

Untertitel: ARD Text im Auftrag von Funk (2017)