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SWR2 Wissen, Kleinwüchsige Menschen und ihr Alltag – Körpergröße ist nicht alles (2)

Kleinwüchsige Menschen und ihr Alltag – Körpergröße ist nicht alles (2)

Erzählerin: Anna Spindelndreier arbeitet als freiberufliche Fotografin, auch für das Modelabel.

O-Ton 18 - Anna Spindelndreier: Man sieht ja auch, dass ich da mit der Perspektive super gespielt habe. Ich habe hier den Mike so sehr von oben fotografiert, dass er noch kleiner aussieht als er tatsächlich ist. Genauso habe ich ihn aber auch so untersichtig fotografiert, dass er wesentlich größer aussieht.

Erzählerin: Sie hat auch Skater im Rollstuhl bei waghalsigen Manövern fotografiert. Für ihre Fotos wurde sie im Frühjahr 2019 vom Online-Frauen-Magazin „Edition F“ ausgezeichnet – als eine von 25 Frauen, die mit ihrer Stimme die Gesellschaft bewegen.

O-Ton 19 - Anna Spindelndreier: Hat mich auch tatsächlich stolz gemacht, weil es ja doch eine gewisse Anerkennung meiner Arbeit war. Ich versuche durch meine Art der Fotografie etwas das Bild der Menschen mit Behinderung zu verändern. Also sie wesentlich sichtbarer zu machen. Halte mich aber als Person immer da raus. Also ich presche nicht vor und sage, nur weil ich jetzt eine kleinwüchsige Fotografin bin, möchte ich diesen Auftrag haben, weil es da um Menschen mit Behinderungen geht. Sondern ich möchte meine Aufträge bekommen, weil ich denke, dass ich gut bin.

Erzählerin: Anna Spindelndreier ist 25 Jahre jünger als Beate Twittenhoff. Innerhalb einer Generation hat sich vieles verbessert für kleinwüchsige Menschen: in der Medizin, in der Versorgung betroffener Kinder, der Betreuung der Familien, der gesellschaftlichen Akzeptanz der Behinderung. Die Pubertät sei trotzdem eine schwierige Zeit gewesen, erzählt die Fotografin. Sie habe sich mit anderen Mädchen verglichen, mit ihrer Größe gehadert.

O-Ton 20 - Anna Spindelndreier: Was mir damals sehr geholfen hat, war der Rückhalt, den ich auch beim Bundesverband Kleinwüchsiger Menschen bekommen habe, ich habe dort sehr viel Selbstvertrauen gewonnen und habe gelernt, meinen Körper so zu akzeptieren. Von daher stand der Kleinwuchs auch irgendwann nicht mehr im Fokus oder steht der auch jetzt nicht. Ich sage immer, ich bin eine 32-Jahre junge Frau und bin Fotografin von Beruf und Punkt.

Erzählerin: Auf dem Weg dorthin musste sie hartnäckig sein. Auf ihre Bewerbungen für die Ausbildung und einen Job hat sie fast nur Absagen bekommen. Sie hat dann zusätzlich Fotografie studiert und sich selbständig gemacht. Aber immer wieder erlebe sie, dass sie auf ihre Größe reduziert werde, ihr nicht so viel zugetraut werde, Auftraggeber sie regelrecht übersehen und ihre Assistentin ansprechen.

O-Ton 21 - Anna Spindelndreier: Wir standen nebeneinander, meine Fotoassistentin war halt mit, weil jeder Fotograf hat einen Assistenten dabei, und ihr wurde dann der Job erklärt und ich dachte mir so: Okay, hallo, die Fotografin bin ich. Und das passiert tatsächlich hin und wieder mal. Ne, also ich werde im wahrsten Sinne nicht für voll genommen, nicht ernst genommen – ja.

O-Ton 22 - Michel Arriens: Die Qualifikationsrate von Menschen mit Behinderung insgesamt ist viel höher als unter Menschen ohne Behinderung. Und trotzdem gibt es eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit. Zwölf Prozent aller Menschen mit Behinderung sind arbeitslos, obwohl sie durchschnittlich besser qualifiziert sind.

Erzählerin: Michel Arriens ist Vorstandsmitglied im „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ und Social Media Manager bei der Plattform change.org. Er nennt sich „Inklusionsaktivist“. Der 29-Jährige hat den Kampf um Teilhabe zu seinem Hauptberuf gemacht. Um Barrierefreiheit, Chancengleichheit, Inklusion sei es in Deutschland nicht gut bestellt, sagt er.

O-Ton 23 - Michel Arriens: Wenn aber der Kindergarten oder die Schule, wie es in meinem Fall dann auch passiert ist, dann sogar im Unterricht mehrfach gesagt wurde, aufgrund des Mitschülers Michel Arriens können wir den Musikraum oben nicht nutzen, dann ist das schockierend und furchtbar.

Erzählerin: Barrierefreiheit ist ein großes Thema für kleinwüchsige Menschen. Die Beine sind verkürzt, sie müssen doppelt so viele Schritte machen, um eine Strecke zurückzulegen, oft können sie nicht gut laufen. Michel Arriens ist seit 20 Jahren auf einem Roller unterwegs, den sein Vater für ihn hat bauen lassen, er kann höchstens zehn Meter laufen, sagt er. Er lebt in Berlin und Hamburg. Und in Hamburg ist keines der Restaurants in seiner näheren Umgebung barrierefrei. Er kann nicht einfach

„irgendwo hin“:

O-Ton 24 - Michel Arriens: Und ich musste mich aber gleichzeitig auch überwinden, zum Beispiel mich mal tragen zu lassen. Das sollte nicht das Ziel sein. Das ist mir auch ganz wichtig. Barrierefreiheit ist nicht mein individuelles Problem. Ich bin nicht dafür verantwortlich, mich tragen zu lassen, wenn irgendwo Treppen sind, sondern die Gesellschaft. Das ist ein Perspektivwechsel. Ich werde behindert, und ich bin nicht behindert …

Atmo: Hans-Peter Wellmann mit Rollstuhl durch Schule

Erzählerin: Wie ist das an der Schule von Hans-Peter Wellmann? Der Lehrer fährt mit seinem elektrischen Rollstuhl durch das Erdgeschoss. In die höheren Etagen gelangt er mit dem Aufzug, die Gänge sind breit. Einige Türen bekommt er aber nicht auf, er kann sie mit seinem Rollstuhl auch nicht aufstoßen, sie sind zu schwer.

O-Ton 25 - Hans-Peter Wellmann: Der größte Teil funktioniert hier, es ist alles ebenerdig, es gibt Rollstuhl-Toiletten, also es ist barrierefreundlich. Ich habe auch noch etwas beantragt, dass hier elektrische Türen installiert werden, aber das ist noch in Arbeit.

Erzählerin: Hans-Peter Wellmann unterrichtet Erdkunde, Informatik und Biologie. Mit seinen Schülerinnen und Schülern spricht er auf eigene Weise über seine Behinderung.

O-Ton 26 - Hans-Peter Wellmann: Ich hatte dann auch in den älteren Klassen schon mal Röntgenbilder mitgenommen, als es um das Skelett ging und habe denen dann mein Röntgenbild untergejubelt und irgendwie konnten sie es nicht einsortieren und meinten irgendwas ist nicht richtig – das konnten sie dann erkennen – und dann ist das Eis auch schnell gebrochen.

Atmo: Lehrerzimmer

Erzählerin: Kollegium und Schulleitung haben sich auf seine Behinderung eingestellt. Rektorin Christine Klein hält den kleinwüchsigen Lehrer für eine Bereicherung:

O-Ton 27 - Christine Klein: Es ist gerade im Zuge der Inklusion ein Vorteil, dass wir Herrn Wellmann bei uns an der Schule haben, dass man auch sieht, okay, eine körperliche Beeinträchtigung

heißt nicht gleich, dass keine beruflichen Perspektiven da sind. Das macht das Feld viel größer….

Atmo: Beate Twittenhoff Ankommen am Haus

Erzählerin [über Atmo im Haus]: Der Kleinwuchs bringt verschiedene Begleiterkrankungen mit sich: Arthrosen, Verengungen im Wirbelkanal, die zu Bewegungsstörungen führen bis hin zu Lähmungen. Die Wirbelsäule ist krumm und schief, die Statik des ganzen Körpers aus den Fugen. Beate Twittenhoff, die Ehefrau von Hans-Peter Wellmann, hat außerdem keine Bandscheiben. Wie bei vielen kleinwüchsigen Menschen sind auch ihre Muskeln verspannt, weil sie oft klettern muss. Wie jetzt auf den Stuhl zum Kaffetrinken am großen Tisch.

O-Ton 28 - Beate Twittenhoff: [Stuhl rücken, Geschirr wackelt] Früher konnte man mit einer Hand auf den Tisch, mit der anderen auf die Sitzfläche und sich dann so hochhieven, aber wenn man schwerer, ungelenkiger wird, dann ist das schwieriger. Ach, HP, schiebst du mal bitte, du stehst da gerade. Hmm …

Erzählerin [über Atmo Küche / Tisch]: Sie reden über Klassenarbeiten und Urlaube, Hans-Peter fährt einmal im Jahr zum Tauchen, wenn sie gemeinsam Urlaub machen, gehen sie campen. Heute Abend hat sie Chor, außerdem hat sie angefangen Keyboard zu lernen. Es geht um die Länge von Betten und um kreative Lösungen wie Tischdecken. Denn damit kann man Käse über den Tisch ziehen, an den man sonst nicht herankommt. Beate Twittenhoff erzählt aber auch, dass ihr die Bewegungen im Alter noch schwerer fallen und Spezialisten bei den Ärzten rar sind. Während Kinder mit Kleinwuchs in Sozialpädiatrischen Zentren umfassend versorgt sind, ist die medizinische Betreuung für Erwachsene eine Herausforderung. Kleinwüchsigkeit ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom mit vielfältigen Ausprägungen. Einen „Facharzt für Kleinwuchs“ gibt es nicht. Und für Erwachsene auch keine Anlaufzentren wie in der Kindermedizin, kritisiert Kinderarzt Oliver Semler.

O-Ton 29 - Oliver Semler: Ein entsprechendes Korrelat im Bereich der erwachsenen Medizin hat sich bisher nicht etabliert. Da muss dann der Betroffene wirklich sehr mühsam selber sich die verschiedensten Disziplinen zusammensuchen, was in aller Regel nicht möglich ist, weil es sie eben weder an einem Ort zusammen gibt, noch es sie überhaupt gibt.

Erzählerin: Für verschiedene angeborene Skeletterkrankungen werden zurzeit Medikamente entwickelt, die die Knochen stabilisieren sollen. Oliver Semler hat mit Kollegen erstmals ein Medikament aus der Alters-Osteoporose in der Therapie bei Kindern mit Glasknochen eingesetzt. Unter den Betroffenen umstritten ist mechanische Beinverlängerung in der Wachstumsphase der Kinder. Dafür werden in die Unter- oder Oberschenkelknochen Nägel eingesetzt, die Millimeter für Millimeter verlängert werden.

O-Ton 30 - Oliver Semler: Man muss sich bewusst machen, dass es dann zu einer zunehmenden Dis- Proportionierung des Betroffenen kommt, der dann auf einmal vielleicht lange Beine, aber trotzdem kurze Arme hat. Das, denke ich, muss im Einzelfall diskutiert und abgewogen werden, was für die Betroffenen wichtig ist.

O-Ton 31 - Beate Twittenhoff: Ich bin jetzt knapp ein Meter groß, wenn ich zehn Zentimeter größer wäre, würde ich schon manche Tür gut aufkriegen. Also so in dem Ein-Meter-Bereich machen einige Zentimeter schon was aus. Auf der anderen Seite muss es auch zu meiner Kleinwuchsart passen, so eine OP, man muss genau gucken, ob das dann hilfreich ist, weil kleinwüchsig wäre ich auch mit 1,10 Meter.

O-Ton 32 - Oliver Semler: Egal, welche Therapien man machen wird, die Betroffenen werden klein bleiben und müssen ihre Stärken entwickeln lernen, unabhängig von der Körpergröße. Und da ist eine Unterstützung bei der Akzeptanz einer Erkrankung ein ganz wichtiger Baustein.

Erzählerin: Oliver Semler ist im Beirat des zweiten Selbsthilfeverbandes für kleinwüchsige Menschen, dem „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“. Durch ihre Arbeit haben die Verbände erreicht, dass sich kleinwüchsige Menschen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft fühlen, Eltern werden darin unterstützt, die Behinderung des Kindes zu akzeptieren. Mit jedem neuen Therapie-Angebot befürchten jedoch einige, dass der Druck auf kleinwüchsige Menschen zunehmen könnte, sich an die Norm anzugleichen. Britta Enders weiß, wie sehr Eltern mit medizinischen Entscheidungen ringen. Sie ist im Verband Ansprechpartnerin für Familien und Mutter eines kleinwüchsigen Sohnes:

O-Ton 33 - Britta Enders: Wir beraten die Eltern in die Richtung, dass wir sagen: Du kannst nur mit Überzeugung das machen, wo du später deinem Kind sagst, ich dachte, das ist das Beste. Mehr Lösungen gibt‘s da nicht. Die Eltern, die es gemacht haben, sagen, es ist gut. Die erwachsenen Kleinwüchsigen, die es nicht gemacht haben, sagen: Warum wollt ihr uns größer machen? Wir sind doch so gut, wie wir sind. Das ist eine ganz hoch emotionale und ganz schwere und nicht lösbare Diskussion. Außer ich habe selber meine Entscheidung, und die stimmt für mich.

Erzählerin: In den ersten Jahren ist vor allem die Unterstützung der Eltern wichtig. Denn die Kinder nehmen ihren Kleinwuchs zunächst nicht als Behinderung wahr. Im Kindergarten und im ersten Schuljahr wird die Größe von den anderen Kindern auch noch nicht bewertet.

O-Ton 34 - Britta Enders: Das zweite Schuljahr ist das Thema. Wenn nämlich dann die Erstklässler kommen, die unsicheren Erstklässler, und zu den Zweitklässlern sagen: Du bist doch ein Baby, warum gehörst du denn hier hin? Dann wird es zum Thema. In der Peergroup ist das

den Kindern klar. Die wachsen damit auf. Das ist nicht das Thema, das Thema ist dann, wenn andere von außen kommen.

Erzählerin: Ihr Sohn ist inzwischen 30 und promoviert in Geschichte. Er hatte immer Freunde und die bedingungslose Unterstützung seiner Eltern. Sie hätten jede seiner Entwicklungen genau beobachtet, die Krankenakten penibel geführt, hätten mit Arztterminen jongliert, um Schulplätze gekämpft und den Haushalt mit Hilfsmitteln ausgestattet:

O-Ton 35 - Britta Enders: Das sind ganz banale Dinge. Ein anderes Kind kann die Tür öffnen, das kleinwüchsige Kind kann es nicht. Da muss ich nicht die Klinke runter bauen. Ich mache eine Schnur mit einer Kugel unten dran. Beim Lichtschalter mache ich den alten Lichtschalter, wie früher mit einer Schnur. Auch die gibt es heute noch. Es gibt ganz viele einfache Dinge, die es ermöglichen, dass das Kind sich altersgerecht in dem häuslichen Umfeld aufhält

Erzählerin: Man stellt sich um und den Alltag darauf ein, sagt Britta Enders. Ihr Kollege vom

„Bundesverband Kleinwüchsiger Menschen und ihre Familien“, Michel Arriens beobachtet, wie Behinderte dargestellt werden und findet, dass Gesellschaft und Medien oft ein falsches Bild zeichnen.

O-Ton 36 - Michel Arriens: Er lebt trotz 1,18, in meinem Fall, ein sehr glückliches Leben. Ich mache etwas trotz meiner Behinderung, wird ganz, ganz oft verwendet. Und ich muss schon sagen, dass Menschen mit Behinderung andere Voraussetzungen haben, in einer nicht barrierefreien Welt, und trotzdem, die meisten Menschen, die ich kenne, ein tolles Leben haben. Ich fahre ein Auto, ich habe einen Job, ich lebe ich Berlin und in Hamburg, ich habe die beste Freundin der Welt – und ich mache das nicht trotz meines Kleinwuchses, sondern mein Kleinwuchs ist einfach mit dabei.

Erzählerin: … wenn er Pläne schmiede, für Urlaube, für eine eigene Familie, für Feste, er sei auch dabei, wenn er feiere, singe, tanze oder trauere. Es gäbe aber Dinge, die sein Leben noch cooler machen würden.

O-Ton 37 - Michel Arriens: Ich wünsche mir, dass Geldautomaten, der öffentliche Versorgungsauftrag erfüllt wird, so dass ich mein Geld abheben kann. Ich wünsche mir, dass Busse und der komplette Nah- und Fernverkehr so gestaltet ist, dass alle Menschen damit unterwegs sein können, dass ich nicht jedes Mal darüber nachdenken muss: Wie mache ich etwas? Sondern: Wann mache ich das? Mache ich das morgen oder heute? Nee, ich mach es lieber nächste Woche. Und das ist eine Welt, die ich mir wünsche.


Kleinwüchsige Menschen und ihr Alltag – Körpergröße ist nicht alles (2) People of small stature and their everyday life - body size is not everything (2) Las personas de baja estatura y su vida cotidiana: el tamaño no lo es todo (2) Pessoas de baixa estatura e a sua vida quotidiana - o tamanho não é tudo (2)

Erzählerin: Anna Spindelndreier arbeitet als freiberufliche Fotografin, auch für das Modelabel.

O-Ton 18 - Anna Spindelndreier: Man sieht ja auch, dass ich da mit der Perspektive super gespielt habe. Ich habe hier den Mike so sehr von oben fotografiert, dass er noch kleiner aussieht als er tatsächlich ist. Genauso habe ich ihn aber auch so untersichtig fotografiert, dass er wesentlich größer aussieht.

Erzählerin: Sie hat auch Skater im Rollstuhl bei waghalsigen Manövern fotografiert. Für ihre Fotos wurde sie im Frühjahr 2019 vom Online-Frauen-Magazin „Edition F“ ausgezeichnet – als eine von 25 Frauen, die mit ihrer Stimme die Gesellschaft bewegen.

O-Ton 19 - Anna Spindelndreier: Hat mich auch tatsächlich stolz gemacht, weil es ja doch eine gewisse Anerkennung meiner Arbeit war. Ich versuche durch meine Art der Fotografie etwas das Bild der Menschen mit Behinderung zu verändern. Also sie wesentlich sichtbarer zu machen. Halte mich aber als Person immer da raus. Also ich presche nicht vor und sage, nur weil ich jetzt eine kleinwüchsige Fotografin bin, möchte ich diesen Auftrag haben, weil es da um Menschen mit Behinderungen geht. Sondern ich möchte meine Aufträge bekommen, weil ich denke, dass ich gut bin.

Erzählerin: Anna Spindelndreier ist 25 Jahre jünger als Beate Twittenhoff. Innerhalb einer Generation hat sich vieles verbessert für kleinwüchsige Menschen: in der Medizin, in der Versorgung betroffener Kinder, der Betreuung der Familien, der gesellschaftlichen Akzeptanz der Behinderung. Die Pubertät sei trotzdem eine schwierige Zeit gewesen, erzählt die Fotografin. Sie habe sich mit anderen Mädchen verglichen, mit ihrer Größe gehadert. Se comparó con otras chicas y se quejó de su tamaño.

O-Ton 20 - Anna Spindelndreier: Was mir damals sehr geholfen hat, war der Rückhalt, den ich auch beim Bundesverband Kleinwüchsiger Menschen bekommen habe, ich habe dort sehr viel Selbstvertrauen gewonnen und habe gelernt, meinen Körper so zu akzeptieren. Von daher stand der Kleinwuchs auch irgendwann nicht mehr im Fokus oder steht der auch jetzt nicht. Ich sage immer, ich bin eine 32-Jahre junge Frau und bin Fotografin von Beruf und Punkt.

Erzählerin: Auf dem Weg dorthin musste sie hartnäckig sein. Auf ihre Bewerbungen für die Ausbildung und einen Job hat sie fast nur Absagen bekommen. Sie hat dann zusätzlich Fotografie studiert und sich selbständig gemacht. Aber immer wieder erlebe sie, dass sie auf ihre Größe reduziert werde, ihr nicht so viel zugetraut werde, Auftraggeber sie regelrecht übersehen und ihre Assistentin ansprechen.

O-Ton 21 - Anna Spindelndreier: Wir standen nebeneinander, meine Fotoassistentin war halt mit, weil jeder Fotograf hat einen Assistenten dabei, und ihr wurde dann der Job erklärt und ich dachte mir so: Okay, hallo, die Fotografin bin ich. Und das passiert tatsächlich hin und wieder mal. Ne, also ich werde im wahrsten Sinne nicht für voll genommen, nicht ernst genommen – ja.

O-Ton 22 - Michel Arriens: Die Qualifikationsrate von Menschen mit Behinderung insgesamt ist viel höher als unter Menschen ohne Behinderung. Und trotzdem gibt es eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit. Zwölf Prozent aller Menschen mit Behinderung sind arbeitslos, obwohl sie durchschnittlich besser qualifiziert sind.

Erzählerin: Michel Arriens ist Vorstandsmitglied im „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ und Social Media Manager bei der Plattform change.org. Er nennt sich „Inklusionsaktivist“. Der 29-Jährige hat den Kampf um Teilhabe zu seinem Hauptberuf gemacht. Um Barrierefreiheit, Chancengleichheit, Inklusion sei es in Deutschland nicht gut bestellt, sagt er.

O-Ton 23 - Michel Arriens: Wenn aber der Kindergarten oder die Schule, wie es in meinem Fall dann auch passiert ist, dann sogar im Unterricht mehrfach gesagt wurde, aufgrund des Mitschülers Michel Arriens können wir den Musikraum oben nicht nutzen, dann ist das schockierend und furchtbar.

Erzählerin: Barrierefreiheit ist ein großes Thema für kleinwüchsige Menschen. Die Beine sind verkürzt, sie müssen doppelt so viele Schritte machen, um eine Strecke zurückzulegen, oft können sie nicht gut laufen. Michel Arriens ist seit 20 Jahren auf einem Roller unterwegs, den sein Vater für ihn hat bauen lassen, er kann höchstens zehn Meter laufen, sagt er. Er lebt in Berlin und Hamburg. Und in Hamburg ist keines der Restaurants in seiner näheren Umgebung barrierefrei. Er kann nicht einfach

„irgendwo hin“:

O-Ton 24 - Michel Arriens: Und ich musste mich aber gleichzeitig auch überwinden, zum Beispiel mich mal tragen zu lassen. Das sollte nicht das Ziel sein. Das ist mir auch ganz wichtig. Barrierefreiheit ist nicht mein individuelles Problem. Ich bin nicht dafür verantwortlich, mich tragen zu lassen, wenn irgendwo Treppen sind, sondern die Gesellschaft. Das ist ein Perspektivwechsel. Ich werde behindert, und ich bin nicht behindert …

Atmo: Hans-Peter Wellmann mit Rollstuhl durch Schule

Erzählerin: Wie ist das an der Schule von Hans-Peter Wellmann? Der Lehrer fährt mit seinem elektrischen Rollstuhl durch das Erdgeschoss. In die höheren Etagen gelangt er mit dem Aufzug, die Gänge sind breit. Einige Türen bekommt er aber nicht auf, er kann sie mit seinem Rollstuhl auch nicht aufstoßen, sie sind zu schwer.

O-Ton 25 - Hans-Peter Wellmann: Der größte Teil funktioniert hier, es ist alles ebenerdig, es gibt Rollstuhl-Toiletten, also es ist barrierefreundlich. Ich habe auch noch etwas beantragt, dass hier elektrische Türen installiert werden, aber das ist noch in Arbeit.

Erzählerin: Hans-Peter Wellmann unterrichtet Erdkunde, Informatik und Biologie. Mit seinen Schülerinnen und Schülern spricht er auf eigene Weise über seine Behinderung.

O-Ton 26 - Hans-Peter Wellmann: Ich hatte dann auch in den älteren Klassen schon mal Röntgenbilder mitgenommen, als es um das Skelett ging und habe denen dann mein Röntgenbild untergejubelt und irgendwie konnten sie es nicht einsortieren und meinten irgendwas ist nicht richtig – das konnten sie dann erkennen – und dann ist das Eis auch schnell gebrochen.

Atmo: Lehrerzimmer

Erzählerin: Kollegium und Schulleitung haben sich auf seine Behinderung eingestellt. Narratore: Il personale e la direzione della scuola si sono adattati al suo handicap. Rektorin Christine Klein hält den kleinwüchsigen Lehrer für eine Bereicherung:

O-Ton 27 - Christine Klein: Es ist gerade im Zuge der Inklusion ein Vorteil, dass wir Herrn Wellmann bei uns an der Schule haben, dass man auch sieht, okay, eine körperliche Beeinträchtigung

heißt nicht gleich, dass keine beruflichen Perspektiven da sind. Das macht das Feld viel größer….

Atmo: Beate Twittenhoff Ankommen am Haus

Erzählerin [über Atmo im Haus]: Der Kleinwuchs bringt verschiedene Begleiterkrankungen mit sich: Arthrosen, Verengungen im Wirbelkanal, die zu Bewegungsstörungen führen bis hin zu Lähmungen. Die Wirbelsäule ist krumm und schief, die Statik des ganzen Körpers aus den Fugen. Beate Twittenhoff, die Ehefrau von Hans-Peter Wellmann, hat außerdem keine Bandscheiben. Wie bei vielen kleinwüchsigen Menschen sind auch ihre Muskeln verspannt, weil sie oft klettern muss. Wie jetzt auf den Stuhl zum Kaffetrinken am großen Tisch.

O-Ton 28 - Beate Twittenhoff: [Stuhl rücken, Geschirr wackelt] Früher konnte man mit einer Hand auf den Tisch, mit der anderen auf die Sitzfläche und sich dann so hochhieven, aber wenn man schwerer, ungelenkiger wird, dann ist das schwieriger. Ach, HP, schiebst du mal bitte, du stehst da gerade. Hmm …

Erzählerin [über Atmo Küche / Tisch]: Sie reden über Klassenarbeiten und Urlaube, Hans-Peter fährt einmal im Jahr zum Tauchen, wenn sie gemeinsam Urlaub machen, gehen sie campen. Heute Abend hat sie Chor, außerdem hat sie angefangen Keyboard zu lernen. Es geht um die Länge von Betten und um kreative Lösungen wie Tischdecken. Denn damit kann man Käse über den Tisch ziehen, an den man sonst nicht herankommt. Perché puoi usarlo per tirare sul tavolo del formaggio che altrimenti non saresti in grado di raggiungere. Beate Twittenhoff erzählt aber auch, dass ihr die Bewegungen im Alter noch schwerer fallen und Spezialisten bei den Ärzten rar sind. Beate Twittenhoff dice anche che i suoi movimenti sono ancora più difficili in età avanzata e che gli specialisti sono rari tra i medici. Während Kinder mit Kleinwuchs in Sozialpädiatrischen Zentren umfassend versorgt sind, ist die medizinische Betreuung für Erwachsene eine Herausforderung. Kleinwüchsigkeit ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom mit vielfältigen Ausprägungen. Einen „Facharzt für Kleinwuchs“ gibt es nicht. Und für Erwachsene auch keine Anlaufzentren wie in der Kindermedizin, kritisiert Kinderarzt Oliver Semler.

O-Ton 29 - Oliver Semler: Ein entsprechendes Korrelat im Bereich der erwachsenen Medizin hat sich bisher nicht etabliert. Suono originale 29 - Oliver Semler: Non è stato ancora stabilito un correlato corrispondente nel campo della medicina degli adulti. Da muss dann der Betroffene wirklich sehr mühsam selber sich die verschiedensten Disziplinen zusammensuchen, was in aller Regel nicht möglich ist, weil es sie eben weder an einem Ort zusammen gibt, noch es sie überhaupt gibt.

Erzählerin: Für verschiedene angeborene Skeletterkrankungen werden zurzeit Medikamente entwickelt, die die Knochen stabilisieren sollen. Oliver Semler hat mit Kollegen erstmals ein Medikament aus der Alters-Osteoporose in der Therapie bei Kindern mit Glasknochen eingesetzt. Unter den Betroffenen umstritten ist mechanische Beinverlängerung in der Wachstumsphase der Kinder. Dafür werden in die Unter- oder Oberschenkelknochen Nägel eingesetzt, die Millimeter für Millimeter verlängert werden.

O-Ton 30 - Oliver Semler: Man muss sich bewusst machen, dass es dann zu einer zunehmenden Dis- Proportionierung des Betroffenen kommt, der dann auf einmal vielleicht lange Beine, aber trotzdem kurze Arme hat. Das, denke ich, muss im Einzelfall diskutiert und abgewogen werden, was für die Betroffenen wichtig ist.

O-Ton 31 - Beate Twittenhoff: Ich bin jetzt knapp ein Meter groß, wenn ich zehn Zentimeter größer wäre, würde ich schon manche Tür gut aufkriegen. Also so in dem Ein-Meter-Bereich machen einige Zentimeter schon was aus. Auf der anderen Seite muss es auch zu meiner Kleinwuchsart passen, so eine OP, man muss genau gucken, ob das dann hilfreich ist, weil kleinwüchsig wäre ich auch mit 1,10 Meter.

O-Ton 32 - Oliver Semler: Egal, welche Therapien man machen wird, die Betroffenen werden klein bleiben und müssen ihre Stärken entwickeln lernen, unabhängig von der Körpergröße. Und da ist eine Unterstützung bei der Akzeptanz einer Erkrankung ein ganz wichtiger Baustein.

Erzählerin: Oliver Semler ist im Beirat des zweiten Selbsthilfeverbandes für kleinwüchsige Menschen, dem „Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“. Durch ihre Arbeit haben die Verbände erreicht, dass sich kleinwüchsige Menschen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft fühlen, Eltern werden darin unterstützt, die Behinderung des Kindes zu akzeptieren. Mit jedem neuen Therapie-Angebot befürchten jedoch einige, dass der Druck auf kleinwüchsige Menschen zunehmen könnte, sich an die Norm anzugleichen. Britta Enders weiß, wie sehr Eltern mit medizinischen Entscheidungen ringen. Sie ist im Verband Ansprechpartnerin für Familien und Mutter eines kleinwüchsigen Sohnes:

O-Ton 33 - Britta Enders: Wir beraten die Eltern in die Richtung, dass wir sagen: Du kannst nur mit Überzeugung das machen, wo du später deinem Kind sagst, ich dachte, das ist das Beste. Mehr Lösungen gibt‘s da nicht. Die Eltern, die es gemacht haben, sagen, es ist gut. Die erwachsenen Kleinwüchsigen, die es nicht gemacht haben, sagen: Warum wollt ihr uns größer machen? Wir sind doch so gut, wie wir sind. Das ist eine ganz hoch emotionale und ganz schwere und nicht lösbare Diskussion. Außer ich habe selber meine Entscheidung, und die stimmt für mich.

Erzählerin: In den ersten Jahren ist vor allem die Unterstützung der Eltern wichtig. Denn die Kinder nehmen ihren Kleinwuchs zunächst nicht als Behinderung wahr. Im Kindergarten und im ersten Schuljahr wird die Größe von den anderen Kindern auch noch nicht bewertet.

O-Ton 34 - Britta Enders: Das zweite Schuljahr ist das Thema. Wenn nämlich dann die Erstklässler kommen, die unsicheren Erstklässler, und zu den Zweitklässlern sagen: Du bist doch ein Baby, warum gehörst du denn hier hin? Dann wird es zum Thema. In der Peergroup ist das

den Kindern klar. Die wachsen damit auf. Das ist nicht das Thema, das Thema ist dann, wenn andere von außen kommen.

Erzählerin: Ihr Sohn ist inzwischen 30 und promoviert in Geschichte. Er hatte immer Freunde und die bedingungslose Unterstützung seiner Eltern. Sie hätten jede seiner Entwicklungen genau beobachtet, die Krankenakten penibel geführt, hätten mit Arztterminen jongliert, um Schulplätze gekämpft und den Haushalt mit Hilfsmitteln ausgestattet:

O-Ton 35 - Britta Enders: Das sind ganz banale Dinge. Ein anderes Kind kann die Tür öffnen, das kleinwüchsige Kind kann es nicht. Da muss ich nicht die Klinke runter bauen. Ich mache eine Schnur mit einer Kugel unten dran. Beim Lichtschalter mache ich den alten Lichtschalter, wie früher mit einer Schnur. Auch die gibt es heute noch. Es gibt ganz viele einfache Dinge, die es ermöglichen, dass das Kind sich altersgerecht in dem häuslichen Umfeld aufhält

Erzählerin: Man stellt sich um und den Alltag darauf ein, sagt Britta Enders. Narratore: Ti adatti e la vita di tutti i giorni, dice Britta Enders. Ihr Kollege vom

„Bundesverband Kleinwüchsiger Menschen und ihre Familien“, Michel Arriens beobachtet, wie Behinderte dargestellt werden und findet, dass Gesellschaft und Medien oft ein falsches Bild zeichnen.

O-Ton 36 - Michel Arriens: Er lebt trotz 1,18, in meinem Fall, ein sehr glückliches Leben. Ich mache etwas trotz meiner Behinderung, wird ganz, ganz oft verwendet. Und ich muss schon sagen, dass Menschen mit Behinderung andere Voraussetzungen haben, in einer nicht barrierefreien Welt, und trotzdem, die meisten Menschen, die ich kenne, ein tolles Leben haben. Ich fahre ein Auto, ich habe einen Job, ich lebe ich Berlin und in Hamburg, ich habe die beste Freundin der Welt – und ich mache das nicht trotz meines Kleinwuchses, sondern mein Kleinwuchs ist einfach mit dabei.

Erzählerin: … wenn er Pläne schmiede, für Urlaube, für eine eigene Familie, für Feste, er sei auch dabei, wenn er feiere, singe, tanze oder trauere. Es gäbe aber Dinge, die sein Leben noch cooler machen würden.

O-Ton 37 - Michel Arriens: Ich wünsche mir, dass Geldautomaten, der öffentliche Versorgungsauftrag erfüllt wird, so dass ich mein Geld abheben kann. Ich wünsche mir, dass Busse und der komplette Nah- und Fernverkehr so gestaltet ist, dass alle Menschen damit unterwegs sein können, dass ich nicht jedes Mal darüber nachdenken muss: Wie mache ich etwas? Sondern: Wann mache ich das? Mache ich das morgen oder heute? Nee, ich mach es lieber nächste Woche. Und das ist eine Welt, die ich mir wünsche.